
- Warum eine Verhandlungslösung mit Putin nicht möglich ist
Immer wieder wird gefordert, die Ukraine müsse mit Russland zu einer friedlichen Verhandlungslösung finden, um den Krieg zu beenden. Doch dieser Ansatz geht an der bitteren Realität vorbei, argumentiert der ehemalige deutsche Botschafter in Moskau, Ernst-Jörg von Studnitz.
Immer wieder werden Stimmen laut, die eine diplomatische Lösung für den Krieg Russlands gegen die Ukraine fordern. Die moralische Qualität solcher Äußerungen soll hier nicht beurteilt werden. Vielmehr geht es um die Frage, ob derartige Forderungen realistisch sind. Eine grundlegende Voraussetzung für die Chancen diplomatischer Verhandlungen ist das Vorhandensein beiderseitigen Interesses an der Suche nach einer einvernehmlichen Konfliktlösung. Das bedingt, dass jede Seite für sich einen Vorteil an der Beendigung des Krieges oder Konflikts sieht. Das ist gegenwärtig weder auf der russischen noch auf der ukrainischen Seite der Fall.
Russland hat sein proklamiertes Kriegsziel der „Denazifizierung“ der Ukraine, das heißt Regimewechsel, ebenso wenig aufgegeben wie das der Demilitarisierung, das heißt Wehrlosmachen der Ukraine und Loslösen von jeglicher Bindung an das westliche Bündnis. Damit ist die vollständige Unterwerfung der Ukraine gefordert, die in Putins Verständnis kein selbständiger Staat, sondern ein historisch zu Russland gehörender Teil der russischen Welt (Russkij Mir) ist. Ein zusätzlich verkündetes Minderziel ist der Behalt der von Russland annektierten vier ukrainischen Regionen Donezk, Luhansk, Saporischja und Cherson. Von der 2014 annektierten Krim ist gar nicht mehr die Rede.
Unannehmbare Forderungen
Alle diese Forderungen sind für die um ihre Unabhängigkeit und territoriale Unversehrtheit kämpfende Ukraine unannehmbar. Im Gegenteil: Kiew fordert den Rückzug Russlands aus allen besetzten Gebieten, auch von der Krim. Darüber hinaus fordert die Ukraine russische Reparationen für die gewaltigen materiellen Schäden, die Russland in der Ukraine verursacht hat und außerdem die Bestrafung der russischen Führer für die Auslösung und Führung dieses Angriffskrieges.
Diese Positionen sind unvereinbar. Die verdeckt gestellte Forderung, die Ukraine solle um des Friedens willen auf Teile ihres Gebietes, insbesondere die Krim, durch völkerrechtliche Anerkennung verzichten, bedeutet das Anerkennen gewaltsamer territorialer Veränderungen – ein Verstoß gegen die Charta der Vereinten Nationen wie auch der in der Schlussakte von Helsinki und der Charta von Paris verankerten Prinzipien, zu denen sich seinerzeit auch die Sowjetunion, die Rechtsvorgängerin der Russischen Föderation, bekannt hat.
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Der häufig gebrachte Einwand, es habe doch Vereinbarungen über Gefangenenaustausch und auch über den Export ukrainischen Getreides gegeben, trägt gegenüber der aufgezeigten Unvereinbarkeit der grundsätzlichen Standpunkte nicht, weil es in den genannten beiden Fällen gemeinsame Interessen gab und gibt.
Im geschichtlichen Rückblick wird wiederholt auf den Erfolg der Ostpolitik von Willy Brandt verwiesen und daran anknüpfend der Nutzen und Erfolg diplomatischer Verhandlungen gepriesen. Diese Argumentation verkennt, dass, ungeachtet des deutlichen politischen Machtunterschieds zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion, beide Seiten wichtige Interessen hatten, die sie nur mit Hilfe des anderen verwirklichen konnten.
Die Bundesrepublik wollte Entspannung, um im deutsch-deutschen Verhältnis voranzukommen, die Sowjetunion wollte vor allem eine Garantie ihres 1945 in Jalta gewonnenen Besitzstandes. Der Moskauer Vertrag mit seinem Akzent auf Gewaltverzicht trug beiden Anliegen Rechnung. Es bedarf keiner Erläuterung, dass es zwischen Russland und der Ukraine an einer vergleichbaren Situation fehlt.
Jegliches Vertrauen verspielt
Für diplomatische Verhandlungen fehlt es in der gegebenen Lage noch an einer weiteren, entscheidenden Voraussetzung: dem Vertrauen auf die Verlässlichkeit des Verhandlungspartners. Daran fehlt es im Falle Russlands sogar gänzlich. Putin hat es gegenüber der Ukraine an jeder Vertragstreue fehlen lassen. Schon bei der Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991 garantierten sich die Nachfolgestaaten ihre territoriale Integrität, so wie sie durch die zur Sowjetzeit entstandenen Verwaltungsgrenzen vorgegeben waren. Um gewaltsame Auseinandersetzungen unter den Nachfolgestaaten zu vermeiden, war dies geboten.
Die territoriale Unverletzlichkeit der Ukraine wurde 1994 im Budapester Memorandum als Garantie für die Übertragung der in der Ukraine stationierten sowjetischen Nuklearwaffen an die Russische Föderation durch die Vertragsstaaten USA, Großbritannien und Russland bekräftigt. Im Januar 2003 unterzeichneten die Präsidenten Russlands und der Ukraine einen Grenzvertrag, der die bereits seit 1991 feststehende Grenze zwischen beiden Staaten erneut bestätigte.
Mit dem 2014 begonnenen Überfall auf die Ukraine mit der Annexion der Krim und der Entfesselung von Aufständen im Donbass und schließlich dem Kriegsbeginn im Februar 2022 hat sich Putin über alle diese Verpflichtungen hinweggesetzt. Zudem hat Putin wenige Tage vor Beginn des Überfalls auf die Ukraine Bundeskanzler Scholz wahrheitswidrig versichert, die russischen Truppen würden abgezogen. Auf die Aussagen eines Mannes wie Putin gibt es kein Vertrauen. Ergebnisorientierte Verhandlungen sind daher unmöglich.
Ein Putsch ist nicht zu erwarten
Putin hat sein Land in eine Lage manövriert, wo Verhandlungen mit ihm genauso wenig in Betracht kommen, wie Roosevelt und Churchill es kategorisch ausschlossen, mit Hitler zu verhandeln. Sie setzten auf die völlige Niederwerfung Deutschlands – ein Ziel, das gegen die Nuklearmacht Russland nicht in Betracht kommt.
Verstärkt stellt sich somit die Frage, wie dieser Krieg, ohne Aussicht auf Verhandlungen beendet werden kann. Solange Putin an der Macht ist, ist damit nicht zu rechnen. Die gegenwärtige innere Lage Russlands gibt wenig Anlass, darauf zu rechnen, dass er gewaltsam durch einen Putsch ausgeschaltet wird, obwohl das niemals auszuschließen ist.
Wenn die militärischen Erfolge in der Ukraine weiter ausbleiben, die Ukraine hingegen weitere Fortschritte beim Zurückdrängen der Russen macht, wäre es denkbar, dass die Militärs nach einem Weg suchen, um die Schuld an der Niederlage von sich auf Putin abzuwälzen. Dann fragt sich jedoch, ob Putin sich auf die Unterstützung des Geheimdienstes FSB verlassen kann, der seine eigentliche Machtbasis ist. Diesbezüglich könnten Zweifel angemeldet werden, wenn wie in der Endphase der Sowjetunion der Geheimdienst abermals vor allem daran interessiert wäre, seine eigenen Interessen zu wahren, die er bei Putin nicht mehr gewährleistet sieht.
In dieser Situation, wo die Ausschaltung des eigentlichen Kriegsgrundes – Putin – von der Entwicklung der militärischen Lage in der Ukraine abhängt, kommt es wesentlich auf die weitere uneingeschränkte westliche Unterstützung für die Ukraine in jeder Beziehung – militärisch, wirtschaftlich, sozial – an. Nur wenn diese nicht nachlässt, können äußere Faktoren das innere Geschehen in Russland beeinflussen. Nicht die Diplomatie, sondern das militärische Geschehen kann derzeit einen Wandel herbeiführen.
Demokratisches Russland in weiter Ferne
Äußerungen, man müsse auf eine Zeit nach Putin setzen, um dann mit Russland wieder über gemeinsame Sicherheitsinteressen zu sprechen, sind derzeit falsch. Heute gibt es nur eine Sicherheit in Europa, die vor Russland schützt, nicht aber gemeinsam mit Russland. Welchen Weg Russland künftig gehen wird, ist heute nicht abzusehen.
Cicero Politik Podcast mit Nico Lange:
„Der Krieg läuft für die Russen nicht nach Plan“
Europa hat seit Peter dem Großen, auf den Putin sich häufig beruft, unter dem russischen Einfluss, unter russischer Einmischung gelitten. Wenn Putin sich heute bewusst von Europa abkehrt, bleibt ungewiss, ob das nicht weiterhin die politische Ausrichtung auch eines Nachfolgers sein wird. Erst mit einem wahrhaft demokratischen Russland, das noch in weiter Ferne liegt und von der gegenwärtigen in ihrer Erziehung immer noch sowjetisch geprägten Elite nicht zu erwarten ist, können sich Beziehungen entwickeln, wie sie seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zunächst im westlichen Europa und seit 1991 auch im östlichen, nicht-russischen Europa geschaffen wurden.
Wenn Putin nicht mehr an der Macht ist, ergeben sich Möglichkeiten für die Beendigung des Ukrainekrieges. Es wäre nicht ausgeschlossen, dass eine neue Führung sich zum Abzug aus der Ukraine entschlösse. Vorbild dafür könnte der Abzug aus Afghanistan nach zehn Jahren erfolgloser Kriegführung sein, die erst Gorbatschow als Nachfolger Breschnews, der dieses Kriegsabenteuer begonnen hatte, zu Wege brachte. Erfolglos geführte Kriege, wie der russisch-japanische Krieg 1904-1905, oder auch wie der Erste Weltkrieg, den die russische Propaganda herbeigesehnt hatte, waren in der Geschichte die Auslöser für Veränderungen in Russland.
„Rote Telefonleitungen“
Es ist eine andere Frage, ob Russland sich auch von der Krim zurückzöge; dies allenfalls, wenn es der Ukraine gelänge, ihren Befreiungskrieg auch auf die Krim auszuweiten. Für die hierin liegenden Risiken bedarf es der Rückversicherung bei den westlichen Unterstützern der Ukraine. Sollte diese ausbleiben, könnte der die Krim betreffende Konflikt ein weiterer gefrorener Konflikt werden.
Wie lange solche Konflikte unlösbar bleiben, wenn Großmächte involviert sind, zeigt der seit 1953 ungelöste Korea-Konflikt. Für die Diplomatie bleibt in solchen Situationen nur insoweit Raum, wie „rote Telefonleitungen“ zwischen den Konfliktparteien geschaltet werden, um schnell eventuell auftretende gefährliche Zwischenfälle unter Kontrolle zu bringen.