Protestierer in Moskau
Ein Mann demonstriert in Moskau gegen den russischen Angriff auf die Ukraine. Auf dem Schild steht „Nein zum Krieg“/ dpa

Russische Posts gegen den Ukraine-Krieg - „Verzeiht uns, wenn ihr könnt“

Eine klare Mehrheit der russischen Bevölkerung scheint Putins Angriff auf die Ukraine zu unterstützen – aber nicht alle. Das Entsetzen und die Schockstarre der Kriegsgegner werden nach und nach abgelöst durch eine Reflexion über das kollektive Schuldgefühl, seine Angemessenheit und Sinnhaftigkeit. Einen Einblick in diese emotionale Debatte geben Äußerungen von Russen innerhalb und außerhalb des Landes in den sozialen Medien. Die Russlandexpertin Polina B. hat eine Reihe solcher Posts gesammelt. Wir veröffentlichen eine ins Deutsche übersetzte Auswahl.

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Seit fast 20 Jahren lebe ich nicht mehr in Russland. Aber meine Familie ist noch dort. Als die russischen Truppen am 24. Februar die Ukraine angriffen, war ich gerade in Berlin. Diesen Tag werde ich wohl nie vergessen. Seit über einem Monat wache ich immer mit der leisen Hoffnung auf, dass das alles nur ein böser Traum war. Das dauert immer nur eine Millisekunde, dann ist dieses erdrückende Gefühl wieder da. Plötzlich fühle ich mich mehr denn je mit meiner russischen Identität konfrontiert. Es gibt Momente, da ist das Schuldgefühl unerträglich. Aber was bringt das?

Insbesondere in den ersten Kriegstagen hat es mir sehr geholfen, in den sozialen Medien zu lesen, dass viele meiner Freunde und Bekannten ähnliches empfunden haben wie ich. In der Folge habe ich Statements gesammelt, von denen Sie hier eine Auswahl lesen können. Mittlerweile ist Facebook in Russland blockiert. Tausende von Menschen verlassen das Land. Weil sie als kritische Geister direkt bedroht sind. Oder weil sie nicht in einem Land leben wollen, das sein Nachbarland brutal angreift. Und ja, viele wollen auch nicht durch die gegenseitigen Sanktionen zurück in Sowjetzeiten katapultiert werden.

Andere sind geblieben. Die russische Gesellschaft sortiert sich gerade neu, und es ist noch nicht abzusehen, wohin der Weg geht. Der Schulddiskurs wird uns noch eine lange Zeit begleiten. Es ist Zeit, Hannah Arendt zu lesen, wie ein ehemaliger Kollege neulich zu mir meinte. Er hat wohl recht.

Polina B. arbeitet als Redakteurin in Berlin. Sie hat untenstehende Gedanken zusammengetragen.

 

„Verloren angesichts der Dunkelheit des Bösen“

Diese Nacht ist das Schrecklichste und Beschämendste in meinem bisherigen Leben passiert. Der Präsident meines Landes hat der Ukraine den Krieg erklärt. Niemals in meinem Leben habe ich Putins Regierung mit Worten oder Taten unterstützt, ich habe kein einziges Mal für ihn gestimmt. Trotzdem schäme ich mich unendlich und fühle mich elend.

Liebe Ukrainer, ich weiß, dass sich niemand von euch im Moment um solche Einzelstimmen schert, aber meine Gedanken sind bei euch allen. Wenn ich wüsste, wie man betet, würde ich jetzt „Gebete“ aufschreiben. Aber ich kann es nicht.

Ich fühle mich wahrscheinlich zum ersten Mal in meinem Leben so verloren angesichts der Dunkelheit des Bösen, in deren Epizentrum wir uns alle gerade befinden. Und es ist nicht sicher, worauf oder auf wen man hoffen kann. Ich schreibe nicht „Entschuldigung.“

Es ist unmöglich, das zu verzeihen.

Anton, 46, Chefredakteur, Lettland
Facebook – 24. Februar 2022
 

 

„Wir alle haben diesen Krieg zugelassen“

Heute ist einer der bittersten und beschämendsten Tage in meinem Leben und im Leben meines geliebten Vaterlandes – ein Tag, für den wir, die Bürger Russlands, noch lange um Vergebung bitten werden. Es ist nicht klar, ob uns vergeben werden wird. Und Reue allein wird den Krieg weder beenden noch die unschuldigen Opfer zurückbringen.

Es ist ein Tag, an dem wir nicht länger schweigen können, an dem wir nicht alles auf die Verantwortungslosigkeit der Regierenden schieben können. Denn wir alle haben diesen Krieg zugelassen. Nur wenige von uns haben nach der Krim erkannt, auf welche Katastrophe wir zusteuern, und nur sehr wenige haben sie bereits während der Ereignisse in Georgien im Jahr 2008 geahnt.

Und jetzt greift das Land, das so stolz auf seinen Sieg über den Faschismus ist, selbst wieder heimtückisch seinen Nachbarn an. Die Ukraine und Russland, das ist nicht ein und dieselbe Nation, wie uns die Pseudohistoriker im Kreml weismachen wollen. Aber die Ukrainer sind ein Brudervolk, das keinen geringeren Preis für die Verteidigung gegen Hitlers Aggression gezahlt hat als wir. Und jetzt zeigt unser Land der Welt das Gesicht des gewöhnlichen Faschismus. Wie Hemingway sagte: „Faschismus ist eine Lüge, die von Banditen erzählt wird.“

Leider sind auch die Länder, die die braune Pest besiegt haben, nicht immun gegen sie: Sie müssen regelmäßig gegen sie geimpft werden (das sollten wir in Zeiten der Pandemie alle wissen!). Und gegen diese Impfung haben wir, die wir uns „von den Knien erhoben“ haben, in unserer Arroganz und unserem Glauben an die Überlegenheit gegenüber anderen Völkern – sowohl außerhalb als auch innerhalb Russlands – allzu lange verweigert.

Zu lange haben wir uns geweigert. Jetzt möchte ich wenigstens glauben, dass sich die Prophezeiung eines anderen großen Schriftstellers, unseres Landsmanns Boris Strugatsky, nicht bis zum Ende bewahrheiten wird: „Es wird keine Sturmbannführer geben, sondern ein paar Kosaken-Brigadiere. Aber der Kern des Faschismus – die Diktatur der Nazis – wird bleiben. Und deshalb wird es auch die Lüge, das Blut, den Krieg – möglicherweise sogar den Atomkrieg – weiter geben.“

Verzeiht uns, wenn ihr könnt.

Sergej, 41, PR Manager, Berlin
Facebook – 24. Februar 2022
 

 

„Mögen diejenigen, die damit angefangen haben, in der Hölle schmoren“

Scham, Düsternis und Entsetzen. Freunde in der Ukraine, ich denke an euch. Ich bin gegen diesen Krieg und möchte alles in meiner Macht Stehende tun, um auch nur ein wenig zu helfen. Mögen diejenigen, die damit angefangen haben, in der Hölle schmoren.

Julia, 38, ehemalige Journalistin, London
Facebook – 24. Februar 2022

 

„Es ist auch ein Krieg gegen mich persönlich“

Ich denke schon den dritten Tag gequält darüber nach, was und wie ich es meinen ukrainischen Freunden, Kumpels und Bekannten jetzt sagen kann. Ich spüre, dass ich das machen sollte, aber alle Worte erscheinen mir erbärmlich, falsch und unangemessen. Zunächst einmal, weil ich zumindest für einige von euch ganz sicher bereits ein ehemaliger Freund, Kumpel und Bekannter bin. Ich verstehe und akzeptiere das voll und ganz. Und andernfalls: Selbst wenn ich es nicht bin, dann habt ihr aktuell bestimmt andere Sorgen als mich.

Vor allem aber, weil ich nicht in der Lage bin, euch zu helfen. Und ja, ich habe eine große Schuld euch gegenüber, weil ich zusammen mit meinen Mitbürgern – unter denen es solche gibt, die, im Gegensatz zu mir, ihr Leben, ihre Gesundheit und ihre Freiheit riskiert haben – 20 Jahre lang nichts gegen dieses Regime unternehmen konnte. Ein Regime, das in meinem Land systematisch alles zerstörte, was es fassen konnte. Das versucht hat, in seinen Nachbarländern zu zerstören, was ging.

Aber ich will ehrlich sein: Das, was seit vorgestern Morgen passiert, habe ich nicht erwartet. Die Ereignisse der letzten zwei Monate schienen mir wie ein Bluff, um in gewohnter, zynischer Putin-Manier „den diplomatischen Einsatz zu erhöhen“. Es ist auch ein Krieg gegen mich persönlich – unabhängig davon, was als Nächstes geschieht, werde ich für den Rest meines Lebens mit diesem für mich schmerzhaften Stigma leben müssen.

Wenn jemand von euch mit mir sprechen möchte, schreibt mir bitte eine persönliche Nachricht.

Dmitry, 50, Redakteur, seit 9. März 2022 in Israel
Facebook – 26. Februar 2022


 

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„Es war völlig unvorstellbar”

Was jetzt geschieht, ist eine Katastrophe. In jeder Hinsicht. Menschlich, humanitär, politisch, wirtschaftlich. Ich liebe mein Land. Von ganzem Herzen. Und ich habe immer geglaubt, dass wahrer Patriotismus die Entschlossenheit ist, die Wahrheit darüber zu sagen, was man wirklich fühlt und erlebt. Zu meiner großen persönlichen Enttäuschung, habe ich diese Eigenschaften nicht immer an den Tag gelegt. Aber jetzt ist der Moment gekommen, in dem man reden muss.

Ich war naiv und dachte, dass das alles vorbei gehen würde. Und dass die Leute an der Führungsspitze bestimmt eine Übereinkunft finden würden, weil sie kluge Menschen sind. Sie würden keinen Krieg zulassen. Das haben sie aber. Das macht Angst. Das tut weh. Es ist unerträglich traurig. Und beschämend. Ich schäme mich unter anderem für mich selbst. Für mein Schweigen und meine Gleichgültigkeit in all diesen Jahren. Aber ist es möglich, Frieden durch Gewalt zu schaffen? Gewalt erzeugt Gewalt. Ist es möglich, im 21. Jahrhundert, in dieser von Covid- und anderen Konflikten erschütterten und entnervten Zeit, solche Probleme durch „militärische Operationen“ gegen eine brüderliche Nation zu lösen?

Warum lagen so viele Menschen mit ihren Prognosen so falsch? Weil es völlig unvorstellbar war. Dass Charkiw, Kiew und andere schöne Städte in Kriegschroniken zu hören sein würden und unsere ukrainischen Freunde am Telefon leise fragen würden, „warum?“, und wir als Antwort etwas Unverständliches murmeln würden. Er betrifft uns alle, ohne Ausnahme, denn die Flüche, der Hass, die Anschuldigungen, die jetzt unseren Raum umhüllen und die von uns ausgehen, sind das, was jeder Krieg hervorbringt.
Es sterben Menschen, Soldaten, Zivilisten. Raketen fliegen auf die Häuser. Und man muss nichts von Politik verstehen, um zu begreifen, dass es dafür absolut gar keine Rechtfertigung gibt.

Danila Kozlovsky, 36, Schauspieler, Moskau
Instagram – 27. Februar 2022

 

„Ich war immer stolz auf das begabte russische Volk“

Ich komme nicht umhin, zu sagen, dass ich von ganzem Herzen gegen den Krieg bin. Und es geht nicht einmal darum, dass wahrscheinlich jeder zweite Russe Verwandte oder Freunde hat, die in der Ukraine leben. Es geht auch nicht darum, dass mein Großvater Ukrainer ist und ich zu einem Viertel Ukrainerin bin. Es geht darum, dass wir weiterhin im 20. Jahrhundert leben, obwohl wir eigentlich im 21. Jahrhundert sein müssten. Politische Fragen sollten in der heutigen zivilisierten Gesellschaft nur durch friedliche Verhandlungen gelöst werden.

Ich hätte nie gedacht, dass ich mich für Russland schämen würde, ich war immer stolz auf das begabte russische Volk und auf unsere kulturellen und sportlichen Leistungen. Aber jetzt gibt es ein Davor und ein Danach. Und es tut weh, dass Menschen sterben und andere ihr Dach über dem Kopf verlieren oder gezwungen sind, ihr Zuhause zu verlassen. Und wer hätte vor einer Woche gedacht, dass uns das alles treffen würde. Obwohl wir nicht mitten im Kampfgebiet sind, können wir der globalen Katastrophe nicht gleichgültig gegenüberstehen.

Olga Smirnowa, 30, ehemalige Bolschoi-Primaballerina, Niederlande
Telegram – 1. März 2022

 

„Ich stimmte ihm von ganzem Herzen zu“

Ich hätte nie gedacht, dass ich mich im Ausland für die russische Sprache schämen würde. Im Supermarkt sind meine Mutter und ich es gewohnt, uns über die Reihen hinweg zu unterhalten. Aber hier ernten wir unfreundliche Blicke, und wir müssen entweder leise sprechen oder auf Englisch wechseln. Nein, nein, es gibt keine offene Feindseligkeit und in privaten Gesprächen scheinen alle freundlich zu sein. Aber gestern, als wir mit unseren Autos mit russischen Autokennzeichen vorbeifuhren, rief ein Mann „Putin ist ein Arschloch!“ und schaute erwartungsvoll: Wie würden wir reagieren? Ich stimmte ihm von ganzem Herzen zu.

Sergej, 55, Journalist – Politologe – Schriftsteller, Litauen
Facebook – 14. März 2022

 

„Bitte tötet mich zuerst“

Wenn ein neuer Krieg ausbricht,
Bitte tötet mich als erste …
Ich bin diesem Schlund nichts schuldig:
Kein Blut, keine Tränen … nichts!
Wenn man mir ein Gewehr in die Hand drückt
Und sagt: „Töte im Namen des Friedens!“,
Küsse ich den Kommandeur auf den Mund
Und sauge sein tödliches Gift aus.
Man muss zugeben, die Welt wird vom Bösen regiert –
Und nicht von der Liebe, wie manche behaupten.
Ihr persönlicher Hirte in Engelsgestalt
Verdingt sich für Kleingeld als Botschafter des Teufels.
Gebt meine Ohren und Augen den Unglückseligen,
Die weder hören noch sehen, wie die Tugend,
In Uniform gekleidet, beide Hände in „Z“-ustimmung* erhebt.
Ich folge dem russischen Schiff – zum Teufel,
Wo es die Ukrainer hingeschickt haben.
Ich will euch nicht auf die Nerven gehen.
Bitte tötet mich als erste
Auf eurem eigenen Begräbnis.

Ein Gedicht von Marianna B., veröffentlicht von Tatjana Lazareva, 55, Schauspielerin und TV-Moderatorin
Facebook – 13. März 2022

*Anm. d. Red.: Der Buchstabe „Z“ wird von russischen Militärs in der Ukraine als Kampfsymbol für den Angriff auf die Ukraine genutzt. Auch Unterstützer in Russland nutzen ihn zum Beispiel bei Demonstrationen für Putin und den Krieg.

 

„Ohne jegliche Absetzbarkeit häufen sich die Fehler“

Der Krieg wurde ausgelöst und wird aufrechterhalten von Menschen, die in ihren Träumen und Ängsten irgendwann in den frühen 1980er Jahren geformt wurden und darin steckengeblieben sind. Dort, wo die Einstellung gegenüber der Welt in keiner Weise den Grundsätzen und Werten meiner Generation Rechnung trägt. Diese Kluft gibt es immer. Sie ist generationenbedingt, sie beruht auf Unterschieden in Bildung und Erziehung, und sie wird mit der Zeit immer deutlicher.

Eine Kluft zwischen Vertretern verschiedener Generationen, zwischen Vätern und Kindern, wenn Sie so wollen, ist in der Regel nichts Schlimmes. Denn die Generationen wechseln sich ab (und das gilt auch für die Menschen an der Macht). Die angesammelten Widersprüche und „Fehler“ in der kulturellen Werte-DNA lösen sich auf natürliche Weise auf und sorgen für Weiterentwicklung. Aber ohne jegliche Absetzbarkeit häufen sich die Fehler. Und irgendwann stellt sich heraus, dass man einem verrückten kollektiven Mikhail Khachaturian* ausgeliefert ist. Das heißt, man wird von Menschen als Geisel gehalten, die einen unglaublichen Aggressionsstau und Unzufriedenheit mit einer Welt haben, die sie nicht kontrollieren und nicht verstehen können.

Diese Menschen ziehen die Welt in den Abgrund ihrer Ängste und Fantasien. Im Fall halten sie sich am Bein ihrer Nachbarn - jeden von uns - fest. Denn wie schon gesagt: Wozu brauchen sie eine Welt, in der es für sie keine Macht gibt – Somalia und die LNR (Volksrepublik Lugansk, Anm. d. Red.) sollten überall sein.

Aber so weit wird es nicht kommen. Jeder hat das Recht, mit dieser aufgezwungenen Option nicht einverstanden zu sein und sein Recht zu verteidigen, über sein eigenes Schicksal selbst zu bestimmen.

Pavel, 35, Journalist, Moskau
Facebook – 25. Februar 2022


*Anm. d. Red.: Mikhail Khachaturian wurde im Jahr 2018 in Moskau von seinen drei Töchtern (zum Tatzeitpunkt 17, 18 und 19 Jahre alt) getötet. Zuvor hatte er sie jahrelang schwer sexuell missbraucht. Der Fall sorgte international für großes Aufsehen. Die Schwestern wurden im Jahr 2021 endgültig freigesprochen.

 

 

„Ich werde einen Bruderkrieg nicht als Frieden bezeichnen“

Bleiben, gehen, zurückkommen. Gestern habe ich mich von einem Freund verabschiedet, der mit einem One-Way-Ticket das Land verlassen hat. Heute überqueren einige andere Menschen aus meinem Umfeld die Grenze – ohne die Absicht, zurückzukehren. Ich verstehe sie, ich bin auch schon einmal weggegangen. Jeder geht seinen eigenen Weg. Diesmal bleibe ich. Es wird nicht einfach sein, aber das ist diesmal mein Weg. Falls ihr es nicht wisst – ich habe Russland 2012 verlassen. Aus politischen Gründen. Zuerst für ein Jahr, dann ... Ich dachte, es würde für immer sein, aber 2015 traf ich die Entscheidung, zurückzukehren.

Im Dezember 2015 kehrte ich nach Russland zurück. Ich akzeptierte die „Spielregeln“ und baute mein Leben abseits des sozialen und politischen Aktivismus auf. Ich arbeite in Bildungsprojekten und beschäftige mich mit Neurowissenschaften. Ich schäme mich nicht für das, was ich all diese Jahre gemacht habe. Ich verstehe, dass sich alles verändert hat. Aber ich bleibe. Ich werde mich nicht an die neuen Spielregeln halten. Ich werde einen Bruderkrieg nicht als Frieden bezeichnen. Ich bin der Meinung, dass Russland seine Truppen aus der Ukraine abziehen sollte. Ich werde meine Position kundtun. Ich hoffe, dass jeder seinen inneren Kompass überprüfen und entscheiden kann, ob er gehen oder bleiben will. Ich umarme diejenigen, die gehen. Für den Rest von uns gilt: Lasst uns zusammenbleiben.

Iwan, 38, Neurophysiologe und Aktivist, Troizk (Moskau)
Facebook – 3. März 2022

 

„Es gibt keine Schuldigen, wenn die Schuld auf alle abgewälzt wird“

Wir hatten auf Facebook lange Diskussionen über Schuld. Sich schuldig fühlen, sich nicht schuldig fühlen. Das ist eine wirklich schwierige Frage. Ich formuliere es so für mich: Ich fühle mich durchaus verantwortlich für das, was passiert ist. Ich bin eine Bürgerin dieses Landes und kann nicht so tun, als wüsste ich nichts darüber.

Aber ob ich mich schuldig fühle, weiß ich nicht. Ich schlage mir nicht an die Brust und schreie: „Ich bin so schuldig!“ Ich denke, hier sollte man einen gesunden Menschenverstand haben … Es gibt keine Schuldigen, wenn die Schuld auf alle abgewälzt wird. Dadurch werden alle in Mithaftung genommen. Vielleicht habe ich in meinem Berufsfeld nicht genug getan, um sicherzustellen, dass dies nicht passiert. Aber dass ich jetzt Reue zeigen und sagen würde, dass es meine Schuld war … Ich denke, die Schuld sollte im Verhältnis zu den Möglichkeiten eines Menschen stehen. Ich meine: Je mehr Macht man hat, desto mehr ist man verantwortlich und schuld an dem, was passiert.

… Ja, wir sind verantwortungsbewusst. Wir können darüber trauern, dass wir etwas nicht zu Ende gebracht haben. Aber dann lasst uns zusammentragen, was wir hätten tun können, und was wir nicht getan haben, dies für die Zukunft berücksichtigen. Versuchen wir darüber nachzudenken, was jetzt getan werden kann.

Irina Prochorowa, 66, Literaturwissenschaftlerin – Chefredakteurin – Verlegerin, Moskau
YouTube, 15. März 2022 (im Interview mit Katerina Gordeewa)

 

„Der Krieg trägt konkrete Namen“

Heute habe ich wieder einmal eine Aufforderung gelesen, die Kollektivschuld anzunehmen und Buße zu tun. Ich kann mich nicht zurückhalten.

Ich möchte daran erinnern, was der Begriff der Kollektivschuld bedeutet, dass niemand Schuld trägt.
Der Krieg trägt ganz konkrete Namen.

Das sind die Namen von Putin, seiner Umgebung, der ihm nahestehenden Oligarchen und der Sicherheitskräfte. Das sind die Namen der Abgeordneten, Senatoren, Minister und Gouverneure, die schweigend alle rechtswidrigen Befehle dieser Regierung ausgeführt haben. Das sind die Namen von Richtern, die auf Zuruf die grausamsten Entscheidungen gegen Andersdenkende getroffen haben. Das sind die Namen der Bereitschaftspolizisten, die für Frührenten und Prämien ihre Mitbürger bei Demonstrationen verprügelten.

Der Krieg trägt viele Namen.

Es sind die Namen der politischen Strategen, die jahrelang unermüdlich daran gearbeitet haben, die demokratischen Wahlen auszuhebeln. Es sind die Namen der Staatsbeamten, die sich nicht dagegen wehrten, in Bussen zu Wahllokalen gekarrt zu werden. Das sind die Namen von Ärzten und Lehrern, die ohne zu hinterfragen die Wahlergebnisse fälschten. Das sind die Namen der Studenten, die für 500 Rubel an Putin-Demos teilnahmen. Das sind die Namen der Propagandisten, die die Bevölkerung all die Jahre mit Hass und Lügen fütterten – für eine Villa in Italien, oder einfach für ein besseres Gehalt als ihre Ex-Kommilitonen von der Nowaja Gaseta.

Der Krieg trägt auch noch andere Namen.

Es sind die Namen von Menschen, die all die Jahre stolz sagten, dass sie sich aus der Politik heraushalten. Das sind die Namen von Menschen, die anfangs nicht zu den Protesten gingen und sie als eine Bespaßung für „Demschiza“ (Neologismus: „Demokratische Schizophrenie“ - Anm. d. Red.) abstempelten; und jetzt nicht mehr hingehen, weil es zu gefährlich ist. Das sind die Namen von Künstlern, die sich nicht trauten, etwas zu sagen, um nicht die Möglichkeit zu verlieren, auf den Feiern der kleinen Zaren Geld zu verdienen. Das sind die „unpolitischen“ Kreativunternehmen, die den Behörden alle möglichen Zugeständnisse machten und dabei so weit gegangen sind, dass auf der ersten Seite der wichtigsten Suchmaschine nichts über den Krieg zu finden ist.

Es gibt eine recht einfache Methode, um herauszufinden, ob ihr Schuld an dem habt, was passiert ist. Stellt euch einfach die Frage: Wenn sich alle Bürger des Landes so verhalten hätten wie ich, hätte es dann diesen Krieg geben können? Wir haben uns nicht ausgesucht, wo wir geboren wurden, aber wir alle entscheiden, wie wir leben.

Wenn die Antwort „Nein“ lautet, dann hört auf, euch selbst fertig zu machen. Durch eure Autoaggression geht es den Ukrainern nicht besser.

Wenn die Antwort „Ja“ lautet, dann übernehmt Verantwortung. Bringt das in Ordnung, was ihr persönlich getan habt. Schiebt eure Gewissensprobleme nicht unter dem Deckmantel der Mitschuld auf andere. Das ist eure Schuld und von niemandem sonst.

Freiheit für Russland.

Taisia, 31, Chefredakteurin, Tbilisi
Facebook – 20. März 2022

 

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Gerhard Lenz | Mo., 28. März 2022 - 16:37

werden an Putins fünfter Kolonne in diesem Forum abprallen.

Also an jenen, die nur einen Schuldigen kennen: Die USA.

Die kaum ein Wort des Bedauerns über den russischen Vernichtungskrieg und das Leid und die Opfer in der ukrainischen Bevölkerung finden, aber ständig in Sorge sind, die russische Bevölkerung könnte unter den westlichen Sanktionen leiden.

Deren größte Sorge es zu sein scheint, dass Putin irgendwann möglicherweise seines Amtes verlustig gehen könnte - schließlich hat der Wahnsinnige im Kreml für Sowjet-Nostalgiker, Neo-Nazis und sonstige Harcore-Reche noch immer ausgesprochene "Führerqualitäten".

Von denen, bzw. von deren ideologisch Verbündeten man bis vor kurzem noch "Putin-hilf-uns!"-Rufe auf unseren Marktplätzen hören konnte, eingerahmt von russischen Fahnen.

Die, in Abwandlung eines bekannten Zitats, wohl kein Problem hätten, ihre Putin-Unterwürfigkeit mit Sprüchen wie "Putin befiehl, wir folgen" herausschreien würden.

Joachim Kopic | Mo., 28. März 2022 - 18:58

... die einfach nur darauf hinweisen, dass es eine Vorgeschichte gegeben hat!
Aber der Westen ist - auch laut ÖRlichen - natürlich ohne Fehler ... genauso, wie es bei der AfD nur Rechtsradikale geben "darf" ... welch ein Unglück, dass ausgerechnet die im Saarland als einzige kleine Partei "überlebt" haben...

hermann klein | Mo., 28. März 2022 - 19:04

Biden, Xi IJimping, Ram Nath Kovind, Macron, Scholz sollten auf Selenskyi einflussreich nehmen, durch vertretbare Kompromisse das unendliche Leid der Bevölkerung in etwa zu mildern und aufzuhalten.
Der Wunsch eines ehemaligen selbst Betroffenen….

Gerhard Lenz | Mo., 28. März 2022 - 22:12

Antwort auf von hermann klein

Die von Ihnen genannten sollten auf Selensky Einfluss nehmen? Um was zu erreichen? Dass Putin seinen Vernichtungskrieg stoppt?

Nochmal: Dritte sollten auf das Opfer einwirken, damit der Täter aufgibt? Was für eine krude Logik.

Sie fordern die absolute und sofortige Kapitulation der Ukraine. Damit Putin was macht? Die Ukraine nach Lust und Laune aufspaltet? Oder gar auflöst? Die Menschen umsiedelt? Die Verantwortlichen "eliminert"?

Wie können Sie erwarten, dass ein Mordbrenner wie Putin überhaupt noch zu humanen Taten fähig ist?

Weiter: Können Sie ausschließen, dass Putin - im Siegesrausch - nicht weiter nach Westen marschiert? Das will er nicht? So, wie er niemals die Ukraine überfallen wollte?

Und, nur nebenbei: Was soll das Geschwätz (anderer Foristen), die einzigen Schuldigen an Putins Bomben wäre die US-Regierung? Oder man müsse den Krieg "hinterfragen"?
Was soll man denn bitteschön hinterfragen? Wie es zu 5000 Toten in Mariupol kommt?

Das muss man hinterfragen? Lächerlich.

hermann klein | Di., 29. März 2022 - 10:47

Antwort auf von Gerhard Lenz

Ich habe als Kind erlebt, als nach einem Bombenangriff morgens früh aus dem Bunker kommend, meine Stadt total in Schutt und Asche lag und wir (mit meiner Mutter, mein Vater in Russland) anschließend ohne Essen und Trinken nach Hessen auf einem Bauernhof evakuiert wurden.
Sie sind im Nachkriegs-Volksbeglückungsstaat groß geworden. Haben anscheinend als linker Pazifist für die Abschaffung der Wehrpflicht plädiert und die Diejenigen welche eine Aufrüstung (2% BIP) der Wehrmacht forderten in die rechte Ecke gestellt u. angegriffen.
Heute als Wendehals, fordern sie den totalen Krieg und nehmen weitere Tausende Tote in Kauf.
Übrigens, ich bin kein Pazifist.
Ich bin meiner Wehrpflicht nachgekommen und habe es nie bereut.

Romuald Veselic | Di., 29. März 2022 - 05:54

über den Kremlherrscher Wladimir Putin gehabt. Ich fand ihn als nüchternes, distanziertes Gegengewicht, gg. die westliche moralische/kulturelle/existenzielle/politische Verblödung im "Westen".
Das "Positive" daran: der deutsche "Paradigmen" Wechsel. Indem man erkannte, dass es nicht so ist, wie es man gerne hätte o. sich darin sicher bestätigt u. unbeirrt fühlte. Das in D-DNA fixiertes Zeichensetzen in die Welt, wurde zu unbeweglichem Monolith in Form eines Supergartenzwerges.
Was die russischen "Errungenschaften" betrifft, war ich meiner Vita bedingt, immer skeptisch, was damit begann, dass UdSSR, als Proletarierparadies, nie stattfand. Statistisch daran bewiesen, dass es keinen Andrang an der RUS-Grenze gab, wie es an der US-Grenze bis heute bekannt ist.
Abgesehen davon, alle Propheten/Messiasse/Märtyrer nach Christus, sind mir suspekt. Die reinsten/wahren Lehren wurden durch Killing Fields überflutet.

Eigentlich wollte ich mich jeglichen Kommentars zum Thema Putin und seinem unsäglichen Angriff auf alle humanitären Werte enthalten lieber Herr Veselic! Doch Ihr Beitrag spiegelt für mich am besten wider, warum wir alle heute stehen wo wir stehen. Auch die erschütternden Posts seitens der noch nicht durch den Propaganda-Krieg gehirngewaschenen russischen Mitbürger in diesem Artikel zeigen, wie verblödet wir auf der anderen Seite durch die von Heuchelei gekennzeichnete westliche Dekadenz so geworden sind wie wir sind. All unsere "Werte", allen voran die Moral, welche wir den nach unseren Maßstäben "demokratisch unterentwickelten Gesellschaften" ans Herz legten, können wir uns angesichts dieser Barbarei! dahin schieben wo die Sonne nicht hin scheint! Und wir werden in naher Zukunft auf brutale Weise "lernen", dass es essentiellere Dinge und Vorkommnisse gibt als ein kolonial okkupierter Dread lock-Look einer indigenen Sängerin oder sonstige deutsche/europäische Befindlichkeiten. MfG

Ernst-Günther Konrad | Di., 29. März 2022 - 10:02

Es sind nicht die Menschen des Volkes selbst, die die Kriege wollen, es sind ihre Staatenlenker, die mit Propaganda und Falschinformationen, Teile der Bevölkerung einreden, es bräuchte warum auch immer Krieg. Ich habe weder was gegen die russ. Bevölkerung noch gegen die amerikanische Bevölkerung. Ihre Präsidenten sind es, die ihre Völker in Kriege zwingen. Es sind eben aber auch diese Völker, die solche Präsidenten wählen oder ihnen mehrheitlich nicht in die Arme fallen, wenn sie kriegslüstern andere Länder überfallen. Jedes Volk muss selbst für sich entscheiden, wen sie an ihrer Spitze haben wollen. Was den meisten Völkern gemein ist, das viele Menschen es sich zu bequem gemacht haben, über die Hintergründe ihrer eigenen politischen Führer selbst zu informieren. Das Krieg nicht der richtige Weg sein kann Konflikte zu lösen, wissen wir doch alle. Nur, wer die Entstehung von Kriegen verstehen will, muss alle Politiker hinterfragen. Nur wer versteht und zuhört, der kann Lösungen denken.

Hans Schäfer | Mi., 30. März 2022 - 12:25

Wie imeistens unterschreibe ich Ihre Kommentare. Diesen, bis auf folgendem Satz nicht: <Es sind eben aber auch diese Völker, die solche Präsidenten wählen>(von mir ergänzt, mit Politikern). Diese Präsidenten/Politiker "behaupten", dass das Volk sie gewählt hat.