
- Ukrainer sind Menschen wie wir
Wiedereröffnung der Botschaft in Kiew, Ausbildung ukrainischer Soldaten, Schluss mit russischen Energieimporten – Außenministerin Baerbock ist mit den richtigen Botschaften nach Kiew gekommen. Aber vielleicht noch wichtiger: Sie „entorientalisiert“ die Ukrainer.
Von einer „Zeitenwende“ sprach Olaf Scholz kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine, dann geriet die Bundesregierung ins Schlingern: über Waffenlieferungen an die Ukraine, über Energieimporte aus Russland, über Nickligkeiten mit dem ukrainischen Botschafter. Wie viel Verlass ist wirklich auf Deutschland, wenn es um Russland geht? Diese Frage wurde nicht nur in Kiew gestellt, sondern auch in anderen westlichen Hauptstädten, ganz besonders in Polen und im Baltikum.
Zweieinhalb Monate nach Beginn des Kriegs scheint Berlin seinen Kurs nun gefunden zu haben: Die Bundesregierung gibt zwar die Hoffnung nicht auf, dass es möglichst bald ein Treffen zwischen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und seinem Amtskollegen Selenskij geben wird, auf dem diese einen für beide Seiten akzeptablen Kompromiss aushandeln werden. Das ist kein unrealistisches Ziel. Signale in Richtung Kiew, dass sich die Ukraine doch lieber ergeben sollte, um noch mehr Opfer zu verhindern, werden nun – zumindest aus der Regierungsfraktion – nicht mehr gesendet.
Nicht mehr Frieden um jeden Preis
„Putin darf diesen verbrecherischen Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht gewinnen – und er wird diesen Krieg auch nicht gewinnen“, hat Kanzler Scholz vor wenigen Tagen gesagt. Natürlich heißt das Ziel Frieden, jeder Ukrainer wünscht sich diesen, aber es kann eben nicht darum gehen, diesen Frieden zu erkaufen, indem man vor dem Aggressor in die Knie geht.
Annalena Baerbock kann deshalb mit den richtigen Botschaften nach Kiew reisen: Da ist zum einen die Wiedereröffnung der Deutschen Botschaft. Zwar ist Deutschland auch in dieser Disziplin unter den westlichen Ländern auf einem der letzten Plätze, aber das ist zweitrangig. Ab heute arbeitet in Kiew wieder eine deutsche Botschafterin. Die Rückkehr der Botschaften ist ein wichtiges Signal für die Ukrainer, dass sich das Leben zumindest in der Hauptstadt wieder normalisiert.
Null Energieimporte aus Russland
Die zweite wichtige Botschaft ist, dass Deutschland ohne Energie des „Aggressors“ Russland auskommen will: „Deshalb reduzieren wir mit aller Konsequenz unsere Abhängigkeit von russischer Energie auf Null – und zwar für immer“, sagte Baerbock. Bis zuletzt gab es in Deutschland Kräfte, besonders aus der Wirtschaft, die noch die Hoffnung hegten, zumindest einen Teil der Energielieferungen aus Russland erhalten zu können – und sei es auf Kosten der Ukrainer. Horrorszenarien für den Fall eines Öl- und Gasstopps wurden in die Welt gesetzt, aber der moralische Druck war am Ende höher: Wir können nicht täglich hunderte Millionen Euro für Energieimporte nach Russland überweisen, mit denen Wladimir Putin sein Regime stabilisiert und Waffen finanziert, mit denen wiederum Tag für Tag Ukrainer getötet werden.
Dass die „Perestroika“ der deutschen Energieimporte nicht innerhalb eines Tages möglich ist und wohldurchdacht sein muss, ist klar. Dass jetzt in Rekordzeit in Wilhelmshaven ein erstes Terminal für den Import von Flüssiggas entsteht – schon Ende des Jahres soll es fertig sein, zeigt: Wenn die Deutschen wirklich wollen, dann ist vieles möglich. Zu lange suchte man in den letzten zwei Monaten nach Begründungen, warum dies oder jenes eben nicht geht.
Ein „Iron Dome“ für die Ukraine?
Das gilt auch für die Waffenlieferungen: Natürlich liefert Deutschland in ganz anderen Größenordnungen Waffen an die Ukraine als etwa die USA: Präsident Biden hat jetzt ein Lend-Lease-Gesetz unterschrieben, das jenem ähnelt, mit Hilfe dessen die USA im Zweiten Weltkrieg die Sowjetunion aufgerüstet haben, um gegen das Deutsche Reich zu bestehen. Aber dass Baerbock in Kiew verkünden kann, dass „in wenigen Tagen“ mit der Ausbildung ukrainischer Soldaten an der Panzerhaubitze 2000 begonnen werde, die Deutschland zusammen mit den Niederlanden in die Ukraine liefern wird, zeigt, dass die Weichen richtig gestellt sind.
Die Ukraine solle zudem „hochmoderne Systeme“ bekommen, um ihre Städte gegen zukünftige Angriffe zu schützen. Wenn es gelänge, für die Ukraine eine Art „Iron Dome“ zu errichten, also einen zuverlässigen Raketenabwehrschirm, der es Russland zumindest deutlich erschwert, weiter jeden Ort in der Ukraine mit seinen Marschflugkörpern zu terrorisieren, wäre das ein großer Erfolg. Ähnlich wie in Israel könnte dann eine „neue Normalität“ eintreten: Die Menschen könnten wieder ganz normal ihrem Leben nachgehen, wissend, dass die Raketen des feindlichen Nachbarn sie kaum mehr erreichen können.
Moritz Gathmanns Abendpost aus der Ukraine:
- Fliegeralarm am Tag des Sieges
- 72 Tage im Keller
- Ein Tag in Butscha
- „Eure Angst macht Putin stark“
- „Eine Volksrepublik Cherson wird es nicht geben“
Besonders wichtig sind die Worte, die Baerbock aus dem Kiewer Vorort Butscha nach Deutschland sendet: „Und diese Opfer, auch das spürt man hier so eindringlich, diese Opfer könnten wir sein. Butscha ist ein Vorort von Kiew, das ist wie Potsdam vor Berlin“, sagt sie an dem Ort, wo während der russischen Besatzung hunderte Menschen ums Leben kamen, viele davon willkürlich erschossen.
Die deutsche Außenministerin „deorientalisiert“ damit diese Menschen: Die Menschen, die hier für ihre Freiheit kämpfen und dafür sterben, sind keine seltsamen Osteuropäer, Halbrussen, Sowjetmenschen, Untertanen einer korrupten Führung. Es sind Menschen, die uns trotz des kyrillischen Alphabets in ihrer Kultur, in ihrer Idee eines Lebens in Freiheit und Unabhängigkeit, sehr ähnlich sind – trotz aller Unzulänglichkeiten, die ihr Land und ihre politische Elite aufweisen.
Werden die Täter zur Rechenschaft gezogen?
Baerbock gab heute in Butscha das Versprechen, als internationale Gemeinschaft „dafür zu sorgen, dass die Täter zur Rechenschaft gezogen werden.“ Das sei das Versprechen, „was wir hier in Butscha geben können und geben müssen.“ Ob und wie sie dieses Versprechen einhalten kann, muss man – soviel Realitätssinn muss sein – mit einem Fragezeichen versehen: Solange Wladimir Putin im Kreml sitzt, ist es unvorstellbar, dass Russland auch nur einen dieser Verbrecher ausliefert.
Moskau schützt jene, die für den Absturz der Passagiermaschine 2014 über dem Donbass verantwortlich sind. Moskau schützt jene, die über die letzten Jahre im In- und Ausland Morde an politischen Gegnern begangen haben. Und Moskau wird bis zuletzt jene „Helden“ schützen, die von Mariupol bis Butscha gemordet und gebrandschatzt haben und dies bis heute tun. Denn was sie tun, geschieht im Auftrag des Kremls.