Eine Demonstration gegen die russischen Besatzer Ende März in Cherson / dpa

Abendpost aus der Ukraine - „Eine Volksrepublik Cherson wird es nicht geben“

Im Gebiet Cherson bereiten die russischen Besatzer die Bildung einer „Volksrepublik“ wie in Luhansk und Donezk vor. Ein Abgeordneter des Regionalparlaments erzählt von Repressionen gegen proukrainische Aktivisten – und den Methoden der Russen, Menschen zur Kollaboration zu bewegen.

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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Interview mit einem Abgeordneten des Regionalparlaments des südukrainischen Gebiets Cherson. Er selber hat das Gebiet verlassen, muss aber anonym bleiben, um seine Verwandten nicht in Gefahr zu bringen.

Welcher Teil des Gebiets Cherson ist besetzt?

Nicht besetzt sind zwischen 10 und 15 Prozent. Das gesamte Gebiet links des Dnjepr ist besetzt. Auch die Stadt Cherson ist besetzt. Am rechten Ufer des Dnjepr Richtung Mykolajiw wird heftig gekämpft, auch an anderen Teilen der Front. Die Russen versuchen, die Verwaltungsgrenzen des Gebiets Cherson zu erreichen. Sie wollen nach dem Vorbild von Donezk und Luhansk eine „Volksrepublik Cherson“ erschaffen und dafür ein Referendum durchführen. Vorher versuchen sie, das gesamte Gebiet zu erobern. Aber es gelingt ihnen nicht.

Warum nicht?

Russland war nicht darauf vorbereitet, dass die ukrainische Armee so heftige Gegenwehr leistet. Zum anderen hilft die gesamte Bevölkerung des Gebiets Cherson heute der ukrainischen Armee: Sie geben alle Informationen über die russischen Truppenbewegungen weiter. Deshalb verfügt unsere Armee über ein sehr klares Bild dessen, was im Gebiet Cherson vor sich geht. Das ist unser Land, und wir verteidigen es.

Wie viele Abgeordnete des Regionalparlaments sind im Gebiet geblieben?

Etwa die Hälfte, vor allem Agrarier. Die meisten von ihnen kollaborieren leider mit dem Okkupationsregime – und haben davon gewisse Vorteile. Ihnen wird erlaubt, Aktiva von Leuten zu übernehmen, die das Gebiet verlassen haben. Wer leitet das Gebiet denn jetzt? Der ehemalige Bürgermeister von Cherson Wladimir Saldo wurde als Verwaltungschef von den Russen eingesetzt. Sein Stellvertreter ist ein ehemaliger Blogger, ein stadtbekannter prorussischer Aktivist. Saldo gehört zu einer prorussischen Partei, die lange von Russland finanziert wurde. Aber diese Leute haben nicht wirklich gedacht, dass die Russen kommen würden und dass sie dann „zurückzahlen“ müssten. Leute wie Saldo haben praktisch keine Wahl. Zur Erklärung: Innerhalb einer Woche sind zwei sehr einflussreiche politische Figuren, der eine Abgeordnete, der andere die rechte Hand des Bürgermeisters, beide ebenfalls prorussisch, an Herzinfarkten „gestorben.“ Ich habe aber Informationen, die belegen, dass sie beide vergiftet wurden – weil sie offenbar nicht die Rolle spielen wollten, die die Russen für sie vorsahen.

Wie ist die Lage in Cherson jetzt?

Seit heute und bis 11. Mai darf niemand mehr in die Stadt Cherson. Man darf Cherson verlassen, aber nicht mehr hineinfahren. Die Russen bereiten etwas vor. Was genau, wissen wir nicht. Aber ich nehme an, dass sie am 9. Mai eine pompöse Parade abhalten wollen – und nun sicher gehen wollen, dass unsere Geheimdienstler sie nicht dabei stören.

In den ersten Wochen gab es in Cherson noch große proukrainische Demonstrationen. Wie sieht es damit jetzt aus?

Sowas kommt noch vor, allerdings in kleinerem Ausmaß. Ein Teil der Aktivisten wurde festgenommen, viele sind ausgereist. Andere haben einfach Angst. Vor etwa einer Woche war die letzte Demonstration mit knapp 200 Menschen, aber die Russen trieben die Leute nach zehn Minuten mit Rauchgranaten auseinander.

Gibt es aus Cherson Berichte über Gräueltaten wie im Kiewer Vorort Butscha?

In der Stadt Cherson selbst haben wir davon nichts erfahren, abgesehen davon, dass Aktivisten festgenommen werden. In den Gebieten, wo gekämpft wird, ist die Lage ganz anders. In Richtung des Gebiets Dnipro etwa weiß ich von einer Geschichte, als ein Vater und die Nachbarn ein 19-jähriges Mädchen mit Gewalt wieder aus den Händen der Russen befreit haben. Wir wissen auch von vielen jungen Männern, die verschwunden sind. Was mit ihnen passiert ist, werden wir erst herausfinden können, wenn die Gebiete wie im Fall von Butscha befreit werden.

Stimmt es, dass im Gebiet Cherson schon der Rubel als Währung eingeführt wurde?

Links des Dnjeprs wurde der Rubel schon eingeführt, das läuft schleichend schon seit einem Monat. Zum Beispiel werden Sozialleistungen an ältere Menschen in Rubeln ausgezahlt, so tauchen die Rubel dann in den Läden und auf Märkten auf.

Können Menschen, die mit der Besatzung nicht einverstanden sind, das Gebiet noch verlassen?

Aus dem Gebiet Cherson fahren jeden Tag Hunderte Autos raus. Die Russen lassen sie meistens gehen, wenn an dieser Stelle nicht gerade Kämpfe stattfinden. In gewisser Weise haben sie ein Interesse daran: Alle proukrainischen Bewohner verlassen das Gebiet, und es bleiben nur die übrig, die passiv oder für die Russen sind. Und sie üben Druck aus: Bis zum 15. Mai müssen alle Unternehmen links des Dnjepr sich neu bei der russischen Militärverwaltung registrieren lassen. Wer das nicht tut, wird verstaatlicht.

Welche Dynamik zeigen die Kämpfe?

Die Frontlinie ist seit etwa einem Monat stabil. Aber die ukrainische Armee hat neue Waffen und kann jetzt das Hinterland der russischen Truppen angreifen, also Munitionsdepots und Kriegsgerät weit hinter der Frontlinie. Die Russen sind deshalb jetzt sehr mobil geworden, bleiben selten an einem Ort. Wie lange sie das durchhalten werden, weiß ich nicht. Die Waffen aus dem Ausland helfen uns jedenfalls sehr.

Es gab in ukrainischen Medien Berichte darüber, dass die Russen aus dem Gebiet Cherson Getreide abtransportieren.

Das kann ich so nicht bestätigen. Es gibt Informationen darüber, dass manche Bauern den Russen Geld dafür zahlen, dass sie ihr Getreide zumindest auf die Krim bringen und dort verkaufen können.

Die bisherigen Ereignisse deuten darauf hin, dass Russland wie in Luhansk und Donezk 2014 eine durch ein „Referendum“ legimitierte Volksrepublik erschaffen will. Was kann sie daran hindern?

Eine „Chersoner Volksrepublik“ wird es in der nächsten Zeit nicht geben. Es gelingt ihnen nicht, da eine Stimmung zu erzeugen wie 2014 auf der Krim. Die Menschen, die dortgeblieben sind, sind nicht für Russland. Sie sind proukrainisch, aber in dieser Situation passiv. Die Russen haben schon Mühe, Leute zu finden, die für sie arbeiten: In der Stadt Nowaja Kachowka ist jetzt ein Gauner zum Bürgermeister ernannt worden. Zuvor haben die Russen den ehemaligen Leiter der Verwaltung, auch aus einer prorussischen Partei, sechs Wochen festgehalten und gefoltert – erst gestern haben sie ihn gehen lassen. Er ist jetzt auf ukrainisch kontrolliertem Gebiet. Solche Geschichten gibt es zuhauf.

Die Repressionen betreffen also vor allem politische Repräsentanten, die zur Zusammenarbeit gezwungen werden sollen?

Es gibt zwei Arten von Repressionen: Solche gegen proukrainisch eingestellte Bürger, aus denen sie Informationen herauspressen. Und solche gegen Vertreter der „Oppositionsplattform“, die ihnen eigentlich nahestehen.

Wie ist die humanitäre Situation?

Was Medikamente betrifft, kann man sie katastrophal nennen. Die Russen lassen keine Lieferungen von ukrainisch kontrolliertem Gebiet hinein. Was Lebensmittel betrifft, ist die Situation in Ordnung. Das gilt aber nicht für die Gebiete, wo aktiv gekämpft wird. Dort ist die Lage katastrophal. Das sieht man den Menschen an, die von dort kommen: Sie fliehen zu Fuß, auf Fahrrädern, Dutzende Kilometer bis zum ersten ukrainischen Checkpoint.

Glauben Sie an die von Kiew versprochene Gegenoffensive?

Die Gegenoffensive kommt, aber das ist keine Sache von einem oder zwei Monaten. Das Gebiet Cherson rechts des Dnjepr kann bis Ende des Sommers befreit werden. Aber mit dem Gebiet links des Dnjepr wird es schwer.

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Tomas Poth | Do., 5. Mai 2022 - 23:09

Schafft Frieden über Verständigung, nicht über Waffen. Das gilt für beide Seiten. Maximalpositionen auf beiden Seiten bedeuten Verlängerung der Kämpfe und verlängern nur das Elend.
Dieser Krieg wird keinen Sieger kennen nur Verlierer. Stoppt das Verlieren.

Gerhard Lenz | Fr., 6. Mai 2022 - 11:03

Antwort auf von Tomas Poth

Soll das originell sein?

Sie, Herr Poth, können ja als bekennender Friedensengel auf Herrn Putin einwirken und ihn an den Verhandlungstisch holen - um eine konstruktive Lösung, mit der beide Staaten leben können, zu erarbeiten.

Denn seltsamerweise appellieren Sie und Ihre Gesinnungskameraden von der AfD-Putin-Connection immer nur an die Ukrainer, die Waffen niederzulegen, und nie an Putin.

Warum? Weil Sie genau wissen, dass Putin Sie auslachen würde - wo doch der militärische Sieg für ihn Pflicht ist.

Und dann reden Sie von Verhandlungen.....

... was Sie wollen. Der Punkt wo es in diesem Krieg einen Sieger und einen Verlierer geben wird ist längst überschritten. Dieser Krieg ist fest gefahren und bringt nur noch Verlierer hervor. Wir werden in irgendeiner weise vermutlich auch dazu gehören.

Ronald Lehmann | Fr., 6. Mai 2022 - 08:05

Warum hat Gott so unterschiedliche Menschen geschaffen?

Um so größer die Vielfalt, um so geringer die Anfälligkeit.

Meine Erfahrungen zur DDR-ZEIT über russische Offiziere bei erhõhten Alkohol-Spiegel:
Ix Nix Russe, iich Georgier & er Ukrainer. Und das zur finsteren Zeit, wo hinter so einer Aussage ein Damoklesschwert schwebte.

Und hier sehe ich das Unheil, welches Kommunismus fundamentiert:

Die geistige & körperliche Zwangsvereinnahmung von Menschen/Sippen durch kommunistische Ideologien, die wegen des Friedens Willen immer mehr akzeptiert werden!!!!!!
Meine Gebete, meine Stimme gehört den Ukrainern & all jenen, die vom Joch dieser Ideologie die Schnauze voll haben. Freiheit ?!

Und hier sehe ich die Zukunft.
Die politische & wirtschaftliche Aufteilung weltweit in Interessengemeinschaften auf gleicher Augenhöhe.

Vorteil: Die Machtkonzentration würde sich in Grenzen halten & die Augenhöhe würde in Waage nivelliert.

Kein Wachstum der Gier, sondern Handel zum gegenseitigen Vorteil

Romuald Veselic | Fr., 6. Mai 2022 - 09:26

Ähnlich, wie in dem Beatles Song "Back in the USSR". Anlass: Überfall auf die CSSR, Aug1968.

Russische Soldateska hat nichts auf dem UA-Gebiet zu suchen. Diese Uniformierten benehmen sich wie die Schwerverbrecher, die en Masse aus dem Knast ausgebrochen sind, wie die enthemmte Horde aus der Dschingis Khan Ära.

Wie sich nun die "Friedensreligioniker" freuen, dass sich jetzt die Kreuzfahrer untereinander bekriegen. Und ich glaubte, dass der lupenreine Demokrat ein Mensch ist, der für die christliche Kultur/Zivilisation einsteht. Er ist ein Barbar. Leider.

Incubus soll ihn holen. ?