Bücher des Monats - Peter Burke: Was ist Kulturgeschichte?

Wie die Kulturgeschichte sich entwickelte, aufstieg und heute das Zeitalter ihrer eigenen Historisierung erreicht hat

Wer heute in die Suchmaske eines deutschsprachigen Internet-Buchhändlers das Stich­wort «Kulturgeschichte» einträgt, erntet fast vierzigtausend Hinweise. Unter den Titeln finden sich Klassiker wie Johan Huizingas «Homo ludens» oder Jacob Burckhardts «Griechische Kulturgeschichte», aber auch eine Kulturgeschichte der Missverständnisse, der Physik, des Humors, der Null, des Boxens, der Handtasche, der Schokolade, der deutschen Familie, des Weins, des Lesens, des Krieges, der Frauen und Männer, des Todes und der Bestattung, des Nationalismus, der Sexualität, des Tabaks, der Tätowierung, des Kalenders, des Nachtlebens (etwa im alten Rom), des Kostüms und der Mode, der Peitsche, der Beleuchtung, der Reise, der Päpste oder der Henker. Nicht nur zahlreiche Epochen, Kulturen in allen Weltgegenden, die außerordentliche Vielfalt der Lebens-, Wohn- und Wissensformen, der religiösen Praktiken oder technischen Verfahren werden mit großer Liebe zum Detail abgehandelt, sondern auch die alltäglichen Gebrauchsgegenstände – von der Seife bis zum Bleistift –, ja, sogar die einzelnen Körperteile, Augen, Nase, Brust, Herz, Bauch, Vagina, Phallus …

Die Verbreitung der Kulturgeschichte, zumindest als Buchtitel, korrespondiert dem Aufstieg des Kulturbegriffs, der an die Stelle älterer Zauberworte – wie «Subjekt», «Vernunft» oder «Gesellschaft» – getreten ist. Das neue Zauberwort «Kultur» kann verwendet werden, um politische, öko­no­mische, technologische oder soziale Entwicklungen zu beschreiben. «Kultur» ist gleichsam zu jenem begrifflichen Dachstuhl avan­ciert, der es – spätestens seit Anfang der achtziger Jahre – erlaubt, Ereignisse wie den Krieg im Irak, die Fußballweltmeisterschaft, die Bestattungszeremonien für Papst Jo­hannes Paul II., das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker, einen Atombombentest in Pakistan oder die «Love-Parade» unter einer ein­zigen, gemeinsamen Adresse zu versammeln.

Diese Karriere einer vielgestaltigen Rhetorik von Kultur und Kulturgeschichte kann als Mode kritisiert werden; sie repräsentiert freilich Prozesse, die nicht erst vor wenigen Jahrzehnten begonnen haben, sondern die seit dem 18. Jahrhundert ein dynamisches Zentrum verschiedener Modernisierungsschübe bilden. In deren Verlauf wurden Traditionen in Funktionen transformiert, Glaubensgrundsätze in Diskurse, Konventionen in Regeln und Verfassungen: vom Kult zur Kultur.

Der Titel «Kultur» bezeichnet also die Entstehung selbstreflexiver Strukturen, einer «Beobachtung zweiter Ordnung» (wie Systemtheoretiker zu sagen pflegen). Kultur ist gleichsam die Praxis einer Mehrfelderwirtschaft, die der Operation des Vergleichens entspringt: Sie fungiert buchstäblich als «Su­permarkt» der Weltanschauungen, Sitten, Wissensordnungen, Techniken, Künste und Verfahrensregeln. Kulturbegriffe argumentieren folgerichtig stets aus einer metakulturellen Perspektive, auch wenn sie den «Krieg der Kulturen», die Verteidigung einer «Leitkultur», die Errichtung von «Parallelkulturen» oder die Vision einer «Weltkultur» propagieren. Nicht zufällig sind Kulturdebatten häufig selbstbezüglich, und nicht zufäl­lig favorisieren sie die Darstellungsformen der Listen, Aufzählungen und Serienbil­dungen.


Stacheldraht und Masturbation

Was ist Kulturgeschichte? Die Frage drängt sich auf und wird doch selten beantwortet. Auch der 1937 geborene Brite Peter Burke stellt in seinem neuen Buch bloß fest, dass sich – angesichts von «Kulturgeschichten der Langlebigkeit, des Penis, des Stacheldrahts und der Masturbation» – immer schwerer angeben lasse, «was denn nicht als ‹Kultur› gilt». Und er unterstreicht die Selbst­bezüglichkeit einer Kulturgeschichte, die davon ausgehen muss, dass auch die neuere «Hinwendung zur Kultur» und der Aufstieg der Kulturgeschichte eben als ein «Teil der Kulturgeschichte der letzten Generation» firmiert.

Zu dieser «Kulturgeschichte der letzten Generation» hat Peter Burke seinerseits wesentliche Beiträge verfasst: Biografien und Einführungen (etwa zu Vico, Ludwig XIV. oder Montaigne), Epochendarstellungen (vor allem der Renaissance) und methodische Überlegungen (beispielsweise zur Bedeutung der Bildquellen für die Kulturgeschichtsschreibung). Darüber hinaus hat er eine Vielzahl konkreter Studien zur histori­schen Anthropologie, zur Wissensgeschich­te der Frühen Neuzeit oder zur Historisierung seiner eigenen Disziplin (etwa in Gestalt einer Geschichte der «Annales»-Schule) vorge­legt. Diese thematische Vielfalt spiegelt sich auch in den Kapiteln seines jüngsten Buchs, das bewusst auf eine Systematisierung kulturhistorischer Gegenstände oder auf eine bloße Gegenüberstellung konkurrierender Paradigmen und Methoden verzichtet.

Burke kündigt stattdessen an, er werde sich – nach Maßgabe der Chronologie – «mit einigen der wichtigsten Möglichkeiten befassen, wie man Kulturgeschichte in der Vergangenheit geschrieben hat, heute schreibt und in Zukunft schreiben könnte, schreiben wird oder schreiben sollte». Dabei bemüht er sich um multikulturelle Ausgewogenheit, wie noch das Personenregister programmatisch dokumentiert, indem es jeden Namen mit einer kulturellen oder nationalen Herkunftsangabe belegt.

Natürlich weiß Burke, dass Kulturgeschichte nicht allein in meta- oder multikulturelle Aufzählungen und Namenslisten übersetzt werden kann; Kulturgeschich­te ist allemal auch Kulturpolitik, strategische Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur, in Verteidigung und Kritik. Während etwa Friedrich Kittler in seiner «Kultur­geschichte der Kulturwissenschaft» (2000) die gesamten angloamerikanischen Traditionen der Cultural Anthropology und der Cultural Studies – mit polemischem Vergnügen – verwarf, ignoriert Burke die meisten deutschen Beiträge zur Kulturgeschichte (mit Ausnahme von Norbert Elias oder Aby Warburg, die wiederum bei Kittler fast keine Rolle spielen). Burkes persönlicher Kanon der Kulturgeschichte nennt zwar mehr als hundert Titel, darunter aber le­diglich sieben deutschsprachige Werke. Offenbar ist eine «Kulturgeschichte der Kulturgeschichte» selbstreferentiell nicht zuletzt als Manifestation der kulturellen Zugehörigkeit ihres Autors – oder gar als ideenpolitische Intervention. Sie konsti­tuiert sich nicht nur durch Listen und Vergleiche, sondern auch durch gezielte Ausschlüsse.


Erzählen nach der großen Erzählung

Burke hat bereits vor mehr als zehn Jahren das Projekt einer Historisierung der Kul­turgeschichte verfolgt. 1991 publizierte er einen Aufsatz über «Reflections on the Origins of Cultural History» (auf Deutsch 1998 in einem Sammelband namens «Eleganz und Haltung» bei Wagenbach erschienen). Hier gliederte Burke eine «Kulturgeschichte der Kulturgeschichte» in sechs Etappen: die humanistische Geschichtsschreibung von Sprache und Literatur, die Geschichte der Künstler, der Kunst und Musik (seit
Vasari), die Geschichte der (religiösen) Doktrinen, der Disziplinen, der Denkweisen und schließlich eine Etappe der Kulturgeschichte, die von Bacon und Voltaire bis zu Jacob Burckhardt reichte.

In gewisser Hinsicht setzt seine neueste Studie diese frühere Rekonstruktion voraus. Sie beginnt nämlich mit der «großen Tradition» von Burckhardt und Huizinga, die Burke in ein spannungsreiches Verhältnis zum Marxismus und zur Entdeckung der «Volkskultur» setzt. Danach habe die «Stunde der historischen Anthropologie» geschlagen, die Burke, unter Bezug auf Klassiker wie Marcel Mauss oder Clifford Geertz, als Innovation der 1970er und 1980er Jahre charakterisiert.

Im Anschluss an seine Kommentare zur «historischen Anthropologie» (und ihrer Filiationen in Gender- und Postcolonial Studies) portraitiert Burke die neueren Paradigmen einer «materiellen» Kulturgeschichte und einer «konstruktivistischen» Kulturgeschichte, bevor er schließlich die Frage nach dem «Ende der kulturellen Wende» aufwirft. Doch wird die Möglichkeit eines solchen Endes – in einem «post-postmodernen Zeitalter», dessen Konturen vage und unscharf bleiben – ebenso wenig prophezeit oder gefürchtet wie die mögliche «Rache der Sozialgeschichte». Diese Rache nämlich erwartet Burke bloß als fälligen «Pendelausschlag» in die andere Richtung. Als eigentliche Stärke der Kulturgeschichte unterstreicht er dagegen die Fähig­keit zur Narration, zu einer Erzählung auch nach dem Abschied von den «großen Erzählungen».

Peter Burke beschließt seinen informativen, zugleich sehr persönlichen Überblick mit der Bemerkung: «Das modische Interesse an der Kulturgeschichte war für Praktiker wie mich selbst eine angenehme Erfahrung, aber wir wissen natürlich, daß Moden in der Geschichte nicht lange an­halten. Früher oder später wird es eine Ge­genreaktion, eine Gegenbewegung gegen ‹Kultur› geben. Wenn es soweit ist, werden wir alles tun müssen, um sicherzustellen, daß der historische Erkenntnisgewinn der letzten Zeit – das Ergebnis der als ‹kulturel­le Wende› bezeichneten Hinwendung zur Kultur – nicht verlorengeht.»

 

Thomas Macho ist Professor für Kultur­geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zuletzt erschien seine Studie «Das zere­monielle Tier».

 

Peter Burke
Was ist Kulturgeschichte?
Aus dem Englischen von Michael Bischoff.
Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2005. 203 S., 19,80 €

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