
- Der pragmatische Umgang mit der AfD ist eine Politik der Mitte
Die Wahl von Thomas Kemmerich hat die Lüge des demokratischen Konsens offenbart, der vor allem dem linken Spektrum die Macht sicherte, findet der Leipziger FDPler Maximilian König. In seinem Gastbeitrag plädiert er für eine pragmatische Kooperation mit der AfD, wie sie in seiner Stadt bereits stattfinde.
„Keine Zusammenarbeit mit der AfD“ – so lautet ein Mantra, das wir als Gesellschaft seit mindestens fünf Jahren vor uns hertragen. Außer von Unterstützern besagter Partei wurde es nie wirklich hinterfragt – es war der sogenannte demokratische Konsens. Mit der Wahl von Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten ist mit diesem Konsens gebrochen worden. Ein angeblicher „Dammbruch“ ist geschehen, zumindest ist das die vorherrschende Meinung in den deutschen Medien. Doch sieht ein großer Teil der Bevölkerung, mit fleißiger Unterstützung der Presseöffentlichkeit und Bundesregierung, in dem Thüringer „Beben“ das Gegenteil dessen, was andere, gebannt wie nie den Landtag verfolgend, spüren.
Sie spüren: Wandel ist möglich. Wahlen bewirken etwas, können Regierungen stürzen und andere Kräfte an die Macht bringen. Das Ziel „Ramelow muss weg“ wird erfüllt, wenn eine Mehrheit der Bevölkerung es will, auch wenn es schwierig ist. Als aktives Parteimitglied der FDP, das auch seinen Beitrag im Thüringer Wahlkampf leistete, war es für mich ein Tag des Freudentaumels, als Thomas Kemmerich zum thüringischen Ministerpräsidenten gewählt wurde. Als Schüler hatte ich Kemmerich im Sozialkundeunterricht zum Thema „Kontakt mit Kommunalpolitik“ in der Schule sehen dürfen, jetzt war er Ministerpräsident, alles schien möglich. Die Demokratie erfüllte für mich an diesem 5. Februar ihr Versprechen: Jede Opposition kann durch Wahlen zur neuen Regierung werden.
Wieso lief das so schief?
Der Taumel endete jäh. Nur einen Tag später war alles vorbei, und einen relevanten Anteil der ostdeutschen Bevölkerung und insbesondere die ostdeutschen Liberalen erfasste eine politische Depression, deren Folgen noch nicht absehbar sind. Rekonstruieren wir: Ein linker Ministerpräsident wurde abgewählt, ein Liberaler hat ihn ersetzt. Und auf einmal redet jeder über die 1930er Jahre.
Doch wieso lief das alles im Nachgang der Wahl Kemmerichs so unglaublich schief? Für mich ist die Antwort inzwischen klar: Der demokratische Konsens hat nie wirklich existiert. Er ist und war eine Lüge, ein politisches Kampfmittel des linken Lagers. Seit der Etablierung der AfD hat die Bundesrepublik akribisch jede Lehre aus ihrer politischen Geschichte seit 1945 aus dem Fenster geworfen. Kurt-Georg Kiesinger war NSDAP-Funktionär – und später Bundeskanzler mit den Stimmen der SPD. In Hamburg regierte die Schill-Partei – und implodierte danach, die CDU konnte allein regieren und marschiert heute auf die 10-Prozent-Marke zu. In Sachsen gab es nach der Wende die DSU. Die Republikaner und die NPD existieren. Wenn eine Skala von Links bis Rechts irgendeine Bedeutung hat, ist „Rechts“ nun einmal ein fester Bestandteil unserer Demokratie.
Verfehlte Gleichsetzungen
Natürlich ist es ein sinnvolles Ziel, politische Extremisten zu marginalisieren und ihren Einfluss auf die Gesellschaft zu reduzieren. Nur ist die Gleichsetzung sowohl der AfD mit dem Rechts- als auch der Linken mit dem Linksextremismus verfehlt. Macht man Wahlprogramme zum Bewertungsmaßstab, findet man oftmals sogar mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Eine Auswertung von Wahlomat-Antworten zur sächsischen Landtagswahl sieht z.B. zwischen AfD und CDU nur halb so viele Abweichungen wie zwischen CDU und Grünen oder SPD, mit denen nun jedoch regiert wird. Ähnliche Bilder ergeben sich überall, wie hier für die letzte Bundestagswahl nachvollzogen werden kann.
Dies ändert nichts daran, dass die Randparteien jeweils vom Verfassungsschutz beobachtete Unterstrukturen aufweisen, von denen man sich nicht oder nur unglaubwürdig abgrenzt. Genau diese fehlende Abgrenzung zur Verfassungsfeindlichkeit schließt für mich beide Parteien als politische Partner auf Augenhöhe aus. Und natürlich ist die AfD in Thüringen und vor allem ihr Vorsitzender Björn Höcke ein besonders extremer Fall. Höcke selbst ist durch rassistische und den Nationalsozialismus verharmlosende Aussagen besonders unangenehm aufgefallen. Seine parteiinterne Gruppierung, der „Flügel“, ist für den Verfassungsschutz ein sogenannter Verdachtsfall.
Zwei Grundsätze
Letztendlich sind die jeweiligen Parteien aber nur Symptom für die Gärprozesse, die unser Zusammenleben destabilisieren. Die Themen der Randparteien, die auch aus liberaler und demokratischer Perspektive anzugehen sind, im Zweifel auch mit ihnen aufzugreifen, kann die schwelende Unzufriedenheit in der Gesellschaft vielleicht eindämmen.
Leider ist kaum jemand bereit, sich zu dieser differenzierten Haltung durchzuringen. Ich will sie aber in diesem Text erläutern und für sie werben.
Für jemanden, der sich der politischen Mitte zuordnet, sollte sein politisches Handeln von zwei Grundsätzen getragen sein:
1. Äquidistanz. Glaubwürdiger Akteur der gesellschaftlichen Mitte kann nur sein, wer den beiden parlamentarischen Rändern gleich gegenübertritt.
2. Pragmatismus. Eine Haltung muss mit der gelebten politischen Praxis auf allen Ebenen, also auch der kommunalen, vereinbar sein.
Unvereinbarkeitsbeschlüsse sind bedeutungslos
Wer diese beiden Richtlinien für sein Verhalten anlegt, kann der Keine-Zusammenarbeit-Doktrin, die inzwischen das aktive Vermeiden von Stimmen politischer Ränder (oder nur noch der AfD?) fordert, nicht mehr folgen. Er wird erkennen, dass jeder bisher getroffene Unvereinbarkeitsbeschluss angesichts der realen Verhältnisse völlig bedeutungslos sein muss. Wer die beiden Thesen nicht vereint, kann nicht mehr als politische Mitte arbeiten. Wie sähe also eine ausformulierte Leitlinie zur Zusammenarbeit mit politischen Rändern (AfD und Die Linke) aus? Vielleicht so:
- Keine Koalitionen mit den Rändern, keine Wahl ihres Personals außer auf paritätische Posten. Ja, auch ein AfD-Mitglied kann Sitzungen leiten, aber Bodo Ramelow sollte nicht mit CDU-Stimmen Ministerpräsident werden können.
- Inhalte und Kandidaten, von denen man überzeugt ist, werden kein bisschen schlechter, nur weil sie auch von einer Randpartei unterstützt werden.
- Minderheitsregierungen, die von Rändern toleriert werden, sind sicherlich nicht präferiert, aber besser als Stillstand und Minimalkonsens.
Es findet doch bereits statt
Hätten wenigstens CDU und FDP sich zu einer Haltung entlang dieser Linien bekannt, hätte Thüringen nun eine stabile Regierung der Mitte. Darüber hinaus würde wahrscheinlich das Regierungshandeln in Teilen Ostdeutschlands weniger von den Grünen, die dort eher eine Splitterpartei sind, und mehr von der konservativen Politik, die sich die Bevölkerung gemessen am Wahlergebnis und zahlreichen Umfragen zu konkreten inhaltlichen Punkten wünscht, geprägt. Aber am Wichtigsten: Es gäbe eine ehrliche Kommunikation politischer Zielsetzungen.
Denn sich mit AfD-Stimmen wählen zu lassen, mit ihnen Anträge zu stellen, mit ihnen gar Fraktionen zu bilden – das findet doch bereits statt. Sei es in Leipzig, wo man auf Basis der „guten Zusammenarbeit im Ortschaftrat“ als SPD, CDU und AfD gemeinsame Anträge in den Stadtrat trägt. Sei es in Bautzen, wo gemeinsam mit der AfD die Veranstaltungshalle Krone gerettet wird. Oder sei es in hunderten Wahlen zu Landräten und Bürgermeistern im ganzen Bundesgebiet, in denen CDU-Kandidaten im zweiten Wahlgang direkt vom Rückzug der AfD-Kandidaten profitieren, was mehr oder minder offen als Unterstützung kommuniziert wird. Zugegeben, das sind bislang Kooperationen auf kommunaler Ebene, aber es sind Kooperationen.
Mit den Tabus brechen
Es wird wohl oder übel Zeit, sich daran zu gewöhnen, auch auf Bund- und Länderebene. So wie 1994 die PDS, kaum den Mantel der Diktatur abgelegt, entgegen der offiziellen Haltung in Sachsen-Anhalt eine SPD-Regierung tolerierte, wird es von der AfD tolerierte CDU-Minderheitsregierungen geben. Für die FDP als Mitte-Partei schlechthin wird die Haltung in dieser Frage letztendlich eine zentrale. Der Riss zwischen Ost und West ist nicht die einzige Linie, an der sich der Liberalismus spaltet – Umfragen zeigen, dass Liberale nicht mehrheitlich für den radikalen Ausschluss der AfD stehen, der gerne propagiert wird. Eine Umfrage am Tag der Wahl zum Ministerpräsidenten, die für Kemmerich sofort ein Plus von zwei Prozentpunkten gesehen hat, könnte ein Zeichen gewesen sein. Liberale sind in diesem Land schon immer nur geduldet – das linke Spektrum würde um uns nicht trauern, würde die FDP verschwinden. Deshalb ist es für die Liberalen an der Zeit, der Wertschätzung des linken Spektrums nicht mehr hinterherzulaufen.
Die Zukunft des Liberalismus, zunächst im Osten Deutschlands, aber dann auch im Bundesgebiet, wird daran hängen, endlich mit der großen Lüge des angeblichen demokratischen Konsenses aufzuräumen. Es wird Zeit, ihn durch eine Haltung zu ersetzen, die sowohl historisch reflektiert als auch zukunftsfähig und pragmatisch ist. Dazu wird das Brechen einiger Tabus notwendig sein – doch mit der Alternative der politischen Bedeutungslosigkeit sollte die Entscheidung leichtfallen.