
- Wirklich alles psychisch krank?
Jede Epoche hat ihren Firlefanz, doch unser Gastautor ist der festen Überzeugung, dass es in unserer Epoche ganz besonders viel davon gibt. Allen voran: die Reflexivterroristen. Sie wissen nicht was Reflexivterroristen sind? Kein Problem! Am Ende dieses Artikels werden Sie dafür Experte sein
Ja, es gibt, sie, die Krachmacher, die Lauten, die Rüpel, die Handyterroristen, Kampfradler, aggressiven Huper und lethargisch-ignoranten Nichtblinker, dickfelligen Eltern und Hundebesitzer, die ein Restaurant in Nullkommanichts in eine Mischung aus Kita für schwer erziehbare Kinder und Hundezwinger verwandeln. Wir haben sie längst, die Rüpelrepublik, die schon 2011 in einer Ausgabe des Spiegels zum Hauptthema gemacht wurde.
Deutschland in der „Wohlfühldiktatur“
Doch immer stärker nervt auch eine seit Jahren stetig größer werdende Gruppe der Gesellschaft, die sich hyperreflexiv und dauersensibel von allem genervt fühlt. Sei es Zigarettenqualm, Parfümduft, Kindergeschrei, Klartext, Vogelgezwitscher oder dem eigenen Ehepartner. Alles nur noch um subjektives Fühlen und Erleben zu drehen. Wie fühlt sich das an, fühle ich mich da wohl, was macht das mit mir, möchte ich das jetzt wirklich? Das sind wohl die Maximen der Wellness-Ära. Es ist sicher kein Zufall, wenn die Kolumnistin und Bestsellerautorin Amelie Fried, ihres Zeichens Psychologin, von einer „Wohlfühldiktatur“ spricht.
Unter Psychologen und Therapeuten ist sie mit dieser Meinung freilich in einer Außenseiterposition. Denn diese stricken in ihrer Ratgeberliteratur die Märchen von Burn-out, Achtsamkeit als Lebenschance und Depression als unvermeidbarem Tribut an die Leistungsgesellschaft ständig weiter. Womit wir bei den psychotherapeutischen Krankheitserfindern sind, die mit immer aberwitzigeren Kreationen eine ganze Gesellschaft mit System erst durchpsychologisieren und dann psychopathologisieren.
Die Reflexivterroristen
Auch umgekehrt wirken Zeitgeistverirrungen auf die Psychologie ein. Wie die postmoderne Philosophie, bei der nur noch subjektive Sichtweisen gelten oder das Gender-Mainstreaming, bei dem das natürliche Geschlecht nicht mehr existiert, um nur die wichtigsten zu nennen. Es ist im übertragenen Sinne ist wahrlich nicht übertrieben, es als Terror zu bezeichnen, wenn einem in einer vermeintlich freien Gesellschaft gebetsmühlenartig Partialsichtweisen aufgedrängt werden, die einer kritischen Überprüfung nicht Stand halten, trotzdem aber als angeblich herrschende Meinung ausgegeben werden.
Was das dann für eine Gesellschaft bedeutet, kann noch nicht genau prognostiziert werden. Eines kann man aber schon jetzt sagen: Das Ergebnis wird den Dauerreflexiven und Hypersensiblen ganz bestimmt nicht gefallen. Denn in einer Gesellschaft, in der sich jeder seine Privatwirklichkeit zurecht zimmert und immer größere Gruppen nicht mehr miteinander reden können, wird es immer nerviger werden.
Psychokitsch und Modediagnosen
Die Psychiatrie ist ein Teilgebiet der Medizin, überschreitet diese aber bei Weitem. Kein anderes Gebiet ist so eng in Wechselwirkung mit dem Zeitgeist, den kulturellen Strömungen und Verirrungen. An so manche Erkrankung und Hypothese wurde über Jahre geglaubt und sie mussten dann revidiert oder als schlichtweg falsch bezeichnet werden. Exemplarisch sei hier das Sissy-Syndrom genannt, bei dem besonders aktiven und leicht untergewichtigen Frauen eine Depression unterstellt wurde.
Wer ist schuld an Psychokitsch und Modediagnosen? Ganz wesentlich die Psychoanalyse, die postmoderne Philosophie und das Gender Mainstreaming. Die Psychoanalyse entlehnt viel aus der griechischen Mythologie und noch viel mehr aus autobiografischen Erlebnissen ihres Erfinders Sigmund Freud. Was Freud neurotisch verarbeitete, müsste auch bei allen seinen Mitmenschen so ablaufen – so seine Lehre. So wurde die Psychoanalyse, wie der Marxismus, zum ideologischen Dinosaurier des 19ten und 20ten Jahrhunderts. Die postmoderne Philosophie hat sich verabschiedet von Empirie und Fakten. Dass „postfaktisch“ 2016 zum Wort des Jahres gewählt wurde, geschah nicht aus einer Laune heraus. Relativismus und Subjektzentrismus produzieren einen nebulösen Zeitgeist. Natürlich gibt es Widersprüche, an denen mit der Logik nicht vorbeizukommen ist, weshalb hier ein Relativismus nicht zu umgehen ist. Das bedeutet aber nicht, dass man dies auf alle gesellschaftlichen Systeme für den Preis der Nichtfunktionalität übertragen sollte.
Von Wissenschaft kann keine Rede sein
Gender-Mainstreaming meint schließlich, dass es ein biologisches Geschlecht gar nicht gäbe und letztlich alles eine Frage von Machtverhältnissen und Diskurs sei. Geschlechter gäbe es viele, und jeder könne sich völlig losgelöst von der Biologie eines aussuchen. Nach der derzeitigen Gender-Ideologie soll es über 60 Geschlechtsidentitäten bzw. soziale Konstrukte geben. Die davon ausgehenden Diskussionen sind häufig datenfrei und von blinden Flecken geprägt, die Kriterien für Wissenschaftlichkeit sind jedenfalls nicht erfüllt. Das führt nicht selten zu Erkenntnissen wie: „Naturwissenschaften konstruieren Wissen, dass dem gesellschaftlichen System zuarbeitet“ oder „Der Objektivitätsanspruch der Wissenschaft ist ein verdeckter männlicher Habitus“.
Doch dabei bleibt es nicht. Genderforscherinnen brüten fleißig weiter und fordern beispielsweise, dass Fotos der Hirschbrunft aus der Werbebroschüre für den Nationalpark Eifel herausgenommen werden müssten, da sie stereotype Geschlechterrollen fördern.
Auch sollten geschlechtergerechte Verkehrszeichen entworfen werden, neben dem Ampelmännchen sollte es ein Ampelweibchen mit einem Zopf geben. Im Berliner Politikbetrieb wird darüber ernsthaft diskutiert.
Psychoanalyse, postmoderne Philosophie und Gender-Mainstreaming bilden nun das ideale Psychotop für die dauerreflexiv-hypersensiblen Zeitgenossen. Diese pauken die Ratgeberliteratur Zeile für Zeile, Wort für Wort, besuchen Kurse für Coaching, Selbstmanagement, leiden unter Burn-out, sind selbstverständlich in Therapie und wollen selber Therapeut werden. Geschlechter- und kultursensible Kommunikation beherrschen sie perfekt. Oder anders ausgedrückt: Sie stören überall, und alles wird für sie zu einem Problem, über das man/frau sprechen muss.
Nehmen psychische Erkrankungen tatsächlich zu?
Die andauernde Beschäftigung mit den eigenen individuellen Sichtweisen und Empfindlichkeiten kann natürlich auch in völligem politischen Desinteresse und dem Rückzug ins Private münden. Wer sich nun weiter in sein Privatleben zurückzieht und seine negativen Gefühlslagen im Internet durchdekliniert, wird dann rasch zur Erkenntnis kommen, dass er zumindest hoch sensibel ist, unter Burnout leidet, wenn nicht schon längst völlig depressiv ist. Die gefühlte psychische Erkrankung hat viele Namen. Nehmen psychische Erkrankungen deswegen zu? In den letzten Jahrzehnten werden sie deutlich mehr diagnostiziert, ob sie aber tatsächlich zugenommen haben, darf angezweifelt werden.
Das Dilemma der meisten psychischen Erkrankungen ist ja, dass es keine Labortests oder sonstige objektive Parameter für sie gibt. Die Bewertung des menschlichen Verhaltens, ob dies nun Ausdruck einer Erkrankung ist oder nicht, ist zudem ausgesprochen kulturabhängig. Nach Partner- oder Jobverlust sind in der Betroffenheitskultur viele Menschen in psychiatrischer Behandlung, die vor 20 oder gar 30 Jahren kein Psychiater gesehen hätte. In Deutschland gehören Angsterkrankungen mittlerweile zum guten Ton, während sie in Italien kaum verbreitet sind.
Prokastination als psychische Krankheit?
Schon recht nah an das Diagnosesystem der psychischen Erkrankungen gerückt ist die Prokrastination. Dahinter verbirgt sich ein Aufschiebeverhalten, welches eine zunehmende Zahl von Psychologen als Symptom einer psychischen Erkrankung sehen möchte. Alternativ zur psychischen Erkrankung bietet sich das Diktum der Entscheidungsvermeidungskultur des Philosophen Peter Sloterdijk an, Zitat: „Das Einschlagen eines Nagels verlangt die Zustimmung einer Kommission, die, ehe sie der Nagelfrage näher tritt, ihren Vorsitzenden, dessen Stellvertreter, den Kassenwart, den Schriftführer, den Frauenbeauftragten und ein externes Mitglied wählt, das die Anliegen des regionalen Ethikrats für Technikfolgenabschätzung und Umweltschutz geltend macht“.
Gut bebrütet für psychische Erkrankungen ist auch die Hochsensibilität. Dazu gibt’s natürlich auch schon Bücher, bspw.: „Von wegen Mimose“. Darin wird erläutert, dass es mitnichten um die medikalisierte Befreiung von Verantwortung und Verpflichtung geht, sondern um eine Variante des psychophysischen Normalzustandes. VHS-Kurse zur Hochsensibilität werden schon seit Jahren angeboten. Mit diesen geht es los, im schwarmintelligenzerzeugenden Internet weiter und schwuppdiwupp landen Befindlichkeitsstörungen und psychische Akzentuierungen in den zukünftigen Klassifikationen für psychische Erkrankungen. Die Autorin Juli Zeh sagte einmal: „In einer Welt, in der sich die, denen es am besten geht, am beschissensten fühlen, ist etwas grundverkehrt.“ Sie könnte recht haben.
Der kollektive Vereinbarkeitswahn
Allen Anforderungen der Globalisierung zum Trotz: Noch nie hatte der Mensch der westlichen Welt so viel Zeit, sich mit sich selbst zu befassen. Um das alles in den Griff zu bekommen, sollten Sie Seminare für Burnoutprophylaxe, Achtsamkeit und Empathie besuchen. Dort lernen Sie, wie Sie Beruf, Familie und vieles mehr vereinbaren können. Eine perfekte berufliche Karriere und ein intaktes Familienleben sind dann kein Problem mehr.
Im realen Leben muss man sich allerdings entscheiden, ob 60- bis 70-Stundenwoche mit Aussicht auf eine Chefarztposition an einer Uniklinik oder treusorgender Familienvater. Die Work-Life-Balance ist Heuchelei, überzeugt sind von ihr nur die neunmalklugen Frettchen der Ratgeberliteratur.
Wie soll der postmoderne Mensch ihnen zufolge sein? Natürlich empathisch und gleichzeitig durchsetzungsfähig, authentisch und gleichzeitig diplomatisch, geschickt, achtsam und gleichzeitig zielorientiert, sich selbst verwirklichend und gleichzeitig sozial, selbstfürsorglich und gleichzeitig engagiert arbeitend, in sich ruhend und gleichzeitig dynamisch – wer sollte da nicht unzufrieden werden? So ist der kollektive Vereinbarkeitswahn ein wesentliches Einfallstor zur kollektiven Unzufriedenheit.
Vom Arbeitsplatz zum Therapieplatz
Das reflexive Denken macht auch vor der Berufswelt nicht Halt. Durch die allmähliche Verdünnung der Arbeit durch Mitarbeitergespräche, Gespräche mit dem Betriebsrat, Supervisionen, Teamsupervisionen und und und gleicht manche Behörde mehr einer Selbsthilfegruppe als einer Arbeitsstelle. Ist es da ein Wunder, dass der Arbeitsplatz von immer mehr Arbeitnehmern mit einem Therapieplatz verwechselt wird?
Wo sich die Ratschläge der Psycholiteratur völlig problemlos umsetzen lassen – sich spüren, tiefer wahrnehmen, achtsam und fürsorglich mit sich umgehen, die Wohnung nach Feng Shui einrichten, sich einen Hund kaufen, diesen zur Arbeit mitnehmen, damit ein harmonisches Betriebsklima entsteht, streng auf die Einhaltung der Arbeitszeit achten, keine Überstunden mehr machen, sich alle 20 Minuten fragen, ob einem dieser Mitarbeiter oder jene Arbeit auch wirklich guttut, über den Betriebsrat eine Antistressverordnung einbringen, Handy ausschalten und sich selbst energetisch aufladen, neben der Worklifebalance auch die spirituelle Balance finden – und schon lässt es sich so richtig schön Kariere machen. Und das Wichtigste nicht vergessen: Immer schön kommunizieren und verbalisieren. Alles ist gleich wichtig und einfache Lösungen stehen unter Generalverdacht. Schließlich ist der Mensch hochkomplex.
Zivilisationskonzept nach Richard Sennett
Apropos Coaching und Supervision – als Gegenentwurf fällt mir spontan das Konzept des Amerikanischen Soziologen Richard Sennett ein. Mitte der 1970er Jahre erschien sein Buch mit dem Titel „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens“, Untertitel „Die Tyrannei der Intimität“. Darin beklagt der Autor u.a., dass der moderne Mensch der westlichen Welt überwiegend mit sich selbst beschäftigt sei. Sich selbst kennenzulernen dient nicht mehr dazu, ein Mittel zu sein, um die Welt zu verstehen, sondern ist zu einem Selbstzweck geworden.
Für Sennett gilt als Zivil, die Mitmenschen mit dem eigenen Selbst und seinen Problemen zu verschonen. Gemessen daran, befinden wir uns im Moment im Zustand der tiefsten Barbarei, wo jeder Tiffeltöffelkram zur traumatischen Erfahrung stilisiert wird. Wäre das Sennett'sche Zivilisationskonzept in unserer Kultur fest verankert, gäbe es weder Frühpensionierung noch Burn-out oder andere Luftnummern der Befindlichkeitsstörung, die es immer leichter haben, wie selbstverständlich in psychiatrische Klassifikationssysteme hineinzuschlüpfen.
Die Zukunft gehört nicht den rosa Elefanten
Da wir offensichtlich Zeiten des Mangels zu erwarten haben, wird Sennetts Zivilisationskonzept immer wahrscheinlicher. Natürlich werden jetzt die Achtsamkeitsaspiranten aufschreien und eine drastische Zunahme der psychosomatischen Krankheiten beklagen. Doch auch für die Achtsamkeit gilt, was für alle verherrlichten Ideen gilt, die zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Gesellschaft zu einem schillernden rosa Elefanten aufgeblasen werden.
Man kann nicht skeptisch genug sein. So haben zahlreiche Studien gezeigt, dass gerade ein nichtachtsamer Umgang bei der Genesung hilfreich ist. Israelische Kardiologen teilten Patienten nach Herzinfarkten in zwei Gruppen ein: In der einen machten die Patienten weiter wie bisher. In der Anderen hielten sie sich peinlich genau an die therapeutischen Empfehlungen, hörten dauernd in sich hinein und beobachteten achtsam ihren eigenen Zustand. Das Ergebnis war, dass die Nicht-Achtsamen länger lebten. So ist das nun mal mit rosa Elefanten: Ihre Häufigkeit und der Glaube an sie wird alleine dadurch entschieden, ob sich eine Gesellschaft dies erlauben kann. Die Zukunft gehört aber nicht den rosa Elefanten. Dafür rückt Sennetts Zivilisationskonzept allmählich näher.