Ein Wahlplakat der oppositionellen CHP auf dem Taksim-Platz in Istanbul / dpa

Wahlen in der Türkei - Auf Messers Schneide

Am Sonntag finden die umkämpften Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei statt. Selbst AKP-Unterstützer räumen ein, dass Erdogans Ära zu Ende gehen könnte. Die Wahlen werden einen Wendepunkt in der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung des Landes darstellen.

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Hilal Khashan ist Professor für Politische Wissenschaften an der American University in Beirut und Autor bei Geopolitical Futures.

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An diesem Sonntag werden die Wähler in der Türkei an die Urnen gehen, um ihre Stimme bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen abzugeben, die sich zu den am stärksten umkämpften Wahlen seit der Machtübernahme durch die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) im Jahr 2002 entwickelt haben. Das Rennen wird zwischen den beiden wichtigsten politischen Koalitionen des Landes entschieden: der Volksallianz unter der Führung von AKP-Chef Recep Tayyip Erdogan und der Nationalen Allianz unter der Führung von Kemal Kilicdaroglu, dem Vorsitzenden der Republikanischen Volkspartei (CHP)

Obwohl es ein Kampf um die Zukunft der Türkei ist, ist alles sehr stark von der Vergangenheit der Türkei beeinflusst. Der gescheiterte Putsch von 2016 hat die politische Landschaft des Landes umgepflügt und zu einem Wechsel zum Präsidialsystem und zur Bildung neuer politischer Bündnisse geführt. Seitdem ist die Türkei Zeuge eines politischen Kampfes um nationale Identität und religiöse Integration. Die beiden großen Parteien, die AKP und die CHP, haben konkurrierende Koalitionen geschmiedet und den politischen Diskurs sowie die Außenpolitik des Landes neu definiert. Während die AKP weiterhin eine radikale religiöse Ideologie vertritt, hat die CHP ihre säkularistische Rhetorik abgeschwächt und sich für ihre Fehler in der Vergangenheit entschuldigt, mit denen sie jahrzehntelang den breiten konservativen Block in der Türkei verprellt hat. 

Unabhängig vom Ergebnis werden diese Wahlen einen Wendepunkt in der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung der Türkei darstellen.

Apathie unter den türkischen Wählern

Bei vielen türkischen Wählern hat sich Apathie breit gemacht, vor allem im Süden des Landes, wo im Februar bei einem schweren Erdbeben mehr als 50.000 Menschen ums Leben kamen. Die einfachen Türken glauben nicht, dass sich die wirtschaftliche Lage verbessern wird, unabhängig davon, wer die Wahlen gewinnt. Sie haben genug von den tief verwurzelten Spaltungen zwischen den politischen Parteien. Eine niedrige Wahlbeteiligung in den stark kurdisch geprägten Gebieten könnte Erdogans größte Hoffnung auf eine weitere Amtszeit sein.

Im Osten und Südosten, wo die prokurdische Demokratische Volkspartei (HDP) auf den Listen der Grünen Linkspartei (YSP) kandidiert, die bereits ihre Unterstützung für Kilicdaroglu angekündigt hat, hat er nur begrenzte Unterstützung. Die kurdisch-islamistische Partei der Freien Sache hat zwar erklärt, dass sie Erdogan bei der Präsidentschaftskandidatur unterstützen wird, doch wird ihre Unterstützung die Stimmenverluste der Partei für Demokratie und Fortschritt und der Zukunftspartei, die sich zuvor von der AKP abgespalten hatten, nicht ausgleichen können. 

Es ist unwahrscheinlich, dass die AKP eine einfache Mehrheit im 600-köpfigen Parlament erhält, vor allem weil sich ihre Wählerbasis und die ihres wichtigsten Koalitionspartners, der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), überschneiden. Viele Wähler, die Erdogans autokratische Herrschaft ablehnen, sind zur MHP übergelaufen. Sie werden bei der Präsidentschaftswahl weiterhin Erdogan anstatt Kilicdaroglu wählen, aber die Parlamentskandidaten ihrer eigenen Partei (und nicht die der AKP) unterstützen. 

Konservative Frauen sind zunehmend enttäuscht

Die AKP genoss früher die uneingeschränkte Unterstützung konservativer Frauen, die in Erdogan einen Verbündeten sahen, nachdem er das Kopftuchverbot für Angestellte des öffentlichen Dienstes aufgehoben hatte. Diese Änderung der Politik – die es verschleierten Frauen ermöglichte, Polizistinnen, Richterinnen und Universitätsprofessorinnen zu werden – war einer der Hauptgründe für Erdogans Popularität in den 2000er-Jahren. Mehr als 20 Jahre nach der Machtübernahme durch die AKP haben die türkischen Frauen jedoch begonnen, die von ihnen errungenen Rechte als unveräußerlich zu betrachten. 

Erdogan hat sich wiederholt auf die Aufhebung des Schleierverbots berufen, um zu betonen, dass er mehr für die Frauen getan hat als viele seiner Vorgänger seit der Gründung der Republik im Jahr 1923. Am auffälligsten ist, dass er in seinen Reden über Frauen in traditioneller Weise spricht und sie vor allem als Mütter und Versorgerinnen darstellt. Sein Geschlechterdiskurs hat mit der gesellschaftlichen Entwicklung des Landes und der rasanten Urbanisierung nicht Schritt gehalten. In der Türkei fordern heute Frauen, auch verschleierte, die gleichen Rechte auf Arbeit wie Männer. 

Ein weiteres Beispiel für diesen Trend ist der Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen im Jahr 2021. All dies ist Teil der Rhetorik der Regierung, die die Werte der Familie verteidigt und sich gegen den korrupten, dekadenten Westen wendet, wie sie es nennt. Es hat jedoch auch Widerstand gegeben. Erdogans Entscheidung, zwei islamistische Parteien, die den Austritt aus der Istanbul-Konvention gefordert hatten, in seine Koalition aufzunehmen, hat zu Spannungen innerhalb der AKP geführt. 

Enttäuscht von den Veränderungen, die sie in der AKP wahrgenommen haben, könnten viele konservative Frauen am Wahltag lieber zu Hause bleiben, als für Erdogan oder Kilicdaroglu zu stimmen. Erdogan wird auch nicht mehr als Verfechter der jüngeren Generation gesehen, die sich an einen bestimmten Lebensstil gewöhnt hat, der auf die Errungenschaften der Erdogan-Ära zurückzuführen ist. Die Finanzkrise hat die wirtschaftlichen Fortschritte der ersten Jahre von Erdogans Herrschaft zunichte gemacht, was zu einer Aushöhlung seiner Unterstützerbasis geführt hat. 

Konservativer Wählerblock ist ein wichtiger Machtfaktor

Der konservative Wählerblock ist bei den meisten Wahlen in der Türkei ein entscheidendes Element, insbesondere bei Präsidentschaftswahlen. Die Konservativen brachten Erdogan und die AKP vor 21 Jahren an die Macht und unterstützen ihn auch weiterhin. Der ehemalige Ministerpräsident Ahmet Davutoglu, Gründer der mit der CHP verbündeten Zukunftspartei, hat gesagt, dass die Opposition die Konservativen für sich gewinnen muss, um Erdogan bei den Wahlen zu besiegen. 

Seit Jahrzehnten tobt in der Türkei ein Konflikt zwischen konservativen und säkularen Kräften, insbesondere der CHP. Die Konservativen, einschließlich der religiösen und national-islamischen Bewegung, stellen etwa 45 Prozent der Bevölkerung. Zählt man die kurdischen religiösen Gruppen hinzu, so erhöht sich der Anteil der Konservativen auf mehr als 50 Prozent der türkischen Bevölkerung. Bei früheren Wahlen gelang es Erdogan, die Stimmen der konservativen Kurden zu gewinnen, was sinnvoll ist, wenn man bedenkt, dass etwa ein Drittel der AKP-Abgeordneten Kurden sind. Da die AKP die Wahlen seit 2002 dominiert, hat die CHP versucht, konservative Wähler anzuziehen, indem sie für Toleranz gegenüber religiösen Gruppen warb, die religiöse Kleidung respektierte und sich mit islamischen Parteien verbündete.

Die Konservativen sehen in Erdogan jedoch nach wie vor den einzigen politischen Führer, der in der Lage ist, die Bestrebungen des türkischen Volkes zu verwirklichen. Er hat seine Anhänger wiederholt daran erinnert, dass es ihm gelungen ist, die Hagia-Sophia-Moschee, die 1935 von Mustafa Kemal Atatürk in ein Museum umgewandelt wurde, 2020 wieder für Gottesdienste zu öffnen

 

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In der Tat hat sich Erdogan viele konservative Anliegen zu eigen gemacht, was zu erheblichen Konfrontationen mit säkularen Kräften und der Armee führte, die in dem verpfuschten Putsch 2016 gipfelten. Erdogan hat diese Hindernisse überwunden, aber die bevorstehenden Wahlen stellen ihn vor eine neue große Herausforderung, da sich die wirtschaftlichen Bedingungen verschlechtern und die Inflation in die Höhe schießt.

Erdogan hat versucht, die türkische Öffentlichkeit, insbesondere seine Anhänger, davon abzuhalten, sich auf die wirtschaftlichen Probleme des Landes zu konzentrieren. Er hat sogar die steigenden Lebensmittelpreise mit einem Achselzucken abgetan, als er kürzlich auf einer Kundgebung zu den Wählern sagte: „Ihr würdet euren Führer nicht für Zwiebeln oder Kartoffeln opfern.“ Mit dieser Bemerkung reagierte er auf eine von der Opposition geführte Kampagne, die ihn für die explodierenden Preise für Grundnahrungsmittel verantwortlich machte.

Der Preis für Zwiebeln, eine wesentliche Zutat in der türkischen Küche, die kürzlich als Symbol für eine Anti-Erdogan-Kampagne diente, hat sich in den letzten drei Monaten vervierfacht. Auch wenn es sich hierbei um einen unbedeutenden Punkt in einem breiteren Themenspektrum handelt, so ist es doch eine Blamage für Erdogan, der seinerseits Kilicdaroglu und seine Verbündeten des Verrats an den nationalen Interessen der Türkei beschuldigt hat. Er verurteilte sie dafür, dass sie ihren Wahlkampf mit der HDP koordiniert haben, die Erdogan als verlängerten Arm der militanten Arbeiterpartei Kurdistans bezeichnet. 

Erdogan muss versuchen, die Aleviten zu umwerben

Vor einigen Monaten schickte Erdogan eine Delegation zum Sitz der HDP in Ankara und schlug einen Dialog über eine demokratische Lösung der Kurdenfrage vor. Die Parteiführung lehnte den Vorschlag ab und stellte Erdogans Versprechen und Absichten in Frage, da prominente HDP-Führer sowie zahlreiche Parlamentsabgeordnete, mehr als 40 Bürgermeister und mehrere tausend HDP-Anhänger inhaftiert sind. Bei den Kommunalwahlen 2019 führte die Unterstützung der HDP für die Kandidaten der CHP in Istanbul und Ankara zur Niederlage der AKP. Die laue Haltung der Oppositionsparteien gegenüber den Kurden nach der Wahl bestärkte die Kurden jedoch in ihrem Glauben, dass Erdogans Gegner nicht vertrauenswürdig sind. 

Erdogan muss nun versuchen, die Aleviten zu umwerben, eine Glaubensrichtung, die zwischen 15 und 20 Prozent der türkischen Bevölkerung ausmacht. Die mitte-links-orientierte Gruppe ist misstrauisch gegenüber den Zielen der islamistisch geprägten AKP, nachdem die früheren Versuche der Partei, auf die Anliegen der Aleviten einzugehen, gescheitert sind. Die Aleviten haben die offizielle Anerkennung ihrer Kultstätten gefordert, und Erdogan scheint dem zuzustimmen, obwohl die konservative Basis der AKP die Aleviten als eine Sekte und nicht als Muslime betrachtet. (Bemerkenswert ist, dass Kilicdaroglu selbst Alevit ist.) 

Es wird ein harter Kampf werden

Die Nationale Allianz hat für den Fall eines Wahlsiegs eine Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie versprochen, ebenso eine strengere Kontrolle der Geldpolitik und einen deutlichen Wandel in der Außenpolitik des Landes. Außerdem hat sie sich verpflichtet, auf eine Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union hinzuarbeiten, die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten zu verbessern und die Türkei wieder in das F-35-Kampfjetprogramm aufzunehmen. 

Die AKP versucht unterdessen, unentschlossene Wähler zu gewinnen, indem sie eine versöhnliche Sprache verwendet, die alle Teile der türkischen Gesellschaft adressiert. Erdogans Chancen, die Wahl zu gewinnen, werden durch die Tatsache begünstigt, dass die Führer der Parteien der Nationalen Allianz aus einem breiten politischen Spektrum kommen – was sie im Wahlkampf zu Fehlern verleiten kann. Die Parteien sind schwierige Verbündete mit einer sehr unterschiedlichen Basis von Unterstützern. Mit Ausnahme der Partei der Guten haben sie keine unabhängigen Wahllisten vorgelegt, sondern gemeinsame Listen mit der CHP aufgestellt, was dazu führen könnte, dass viele Wähler ihre Stimme stattdessen Erdogan und der AKP geben. 

Sowohl Erdogan als auch Kilicdaroglu haben versprochen, die Wirtschaft anzukurbeln, die Inflation zu begrenzen, das jährliche Pro-Kopf-Einkommen zu erhöhen und die Arbeitslosigkeit zu verringern. Erdogan hat sich außerdem für große Infrastruktur-, Energie- und Verteidigungsprojekte eingesetzt. Es wird jedoch ein harter Kampf werden, denn selbst ein AKP-freundlicher Journalist räumte ein, dass Erdogans Wahlchancen auf Messers Schneide stehen. 

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