Anarcho-Kapitalist und Präsident: Javier Milei / dpa

Argentiniens neuer Präsident - Javier Milei geht ein Risiko ein

In einem Land, das an starke staatliche Eingriffe in die Wirtschaft gewöhnt ist, sorgen die Reformen von Javier Milei für Aufsehen. Viele stellen die Verfassungsmäßigkeit seiner Maßnahmen in Frage. Soziale Unruhen sind zu erwarten.

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Allison Fedirka arbeitet als Analystin für die Denkfabrik Geopolitical Futures. Sie hat mehrere Jahre in Südamerika gelebt. 

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Der argentinische Präsident Javier Milei hat sein Amt vor weniger als drei Wochen angetreten, doch hat er bereits eine Reihe von Veränderungen eingeleitet, die über den für jede neue Regierung typischen Hausputz hinausgehen. Er hat erklärt, dass seine Regierung das Ziel hat, den institutionellen und rechtlichen Rahmen Argentiniens zu erneuern. Obwohl sich viele der bisherigen Reformen auf die Wirtschaft beziehen, sind sie nur die ersten Schritte in Mileis Plan, Argentinien wieder voranzubringen und die strukturellen Probleme zu beseitigen, die das Land seit mehr als einer Generation geplagt haben.

Milei verschwendete keine Zeit, um in seinen ersten Tagen im Amt drastische Veränderungen in der Wirtschaft vorzunehmen. Seine Regierung senkte den künstlich hoch gehaltenen offiziellen Wechselkurs des Pesos von rund 400 Pesos pro Dollar auf 800 über Nacht. Außerdem versteigerte die Regierung Staatsanleihen im Wert von rund 2,96 Billionen Pesos (3,3 Milliarden Euro), die auf die Landeswährung lauten, um die Bilanz der Zentralbank von kurzfristigen Zahlungsrückständen lokaler Gläubiger zu befreien. Dieser Schritt wird als Vorstufe zur Aufhebung der Devisenkontrollen und als erster Schritt zur „Dollarisierung“ der Wirtschaft angesehen.

Wirtschaftsminister Luis Caputo kündigte außerdem starke Kürzungen der Energiesubventionen für die Verbraucher an. Diese Subventionen waren vielen früheren Regierungen ein Dorn im Auge, aber die Angst vor einer Gegenreaktion des Volkes hielt frühere Regierungen davon ab, das Problem anzugehen. Caputo kürzte auch die Budgets für Sozialprogramme und entließ kürzlich eingestellte Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes.

Die Änderungen zielen darauf ab, ausländische Investitionen anzulocken

Die meiste Aufmerksamkeit hat jedoch das am 21. Dezember eingeführte Mega-Dekret des Präsidenten auf sich gezogen. Die als „Notwendigkeit und Dringlichkeit“ bezeichnete Verordnung umfasst 366 Artikel, mit denen 41 Wirtschaftsvorschriften mit dem Ziel der Deregulierung der Märkte, der Förderung des Wettbewerbs, der Reduzierung staatlicher Eingriffe in die Wirtschaft und der Vereinfachung der Beziehungen zwischen dem privaten und dem öffentlichen Sektor überarbeitet werden sollen.

Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Beseitigung von Preisverzerrungen, der Abschaffung von Preisabsprachen und der Beseitigung von Hindernissen für den internationalen Handel. Es eröffnet auch Möglichkeiten für eine breitere Verwendung von Fremdwährungen auf dem heimischen Markt, insbesondere im Immobiliensektor. Die Änderungen zielen ferner darauf ab, ausländische Investitionen anzulocken, etwa durch die Öffnung staatlicher Unternehmen für die Privatisierung, die Beseitigung von Beschränkungen beim Landerwerb, die Garantie der Bezahlung von Verträgen in Fremdwährungen und die Beseitigung von Kosten im Bergbausektor.

Viele haben jedoch die Verfassungsmäßigkeit des Dekrets in Frage gestellt, da es die Befugnisse des Präsidenten überschreite. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass Not- und Dringlichkeitsdekrete in der modernen argentinischen Politik nichts Neues sind. In der Verfassung von 1994 wurden sie formell in den Rechtsrahmen des Landes aufgenommen, wobei darauf hingewiesen wurde, dass diese Maßnahme nur dann angewendet werden sollte, wenn „außergewöhnliche Umstände es unmöglich machen, die üblichen Verfahren einzuhalten“. (Der Nationalkongress kann diese Dekrete aufheben, aber dazu wäre eine breite Unterstützung beider Kammern erforderlich.)

Seit 1994 haben die Präsidenten 979 dieser Sondermaßnahmen erlassen. (Zum Vergleich: Zwischen 1853 und 1983 wurden nur 25 Notstandsdekrete erlassen.) Der ehemalige Präsident Nestor Kirchner, der von 2003 bis 2007 im Amt war, hielt mit 236 Dekreten den Rekord. Einige Rechtsexperten sind jedoch der Meinung, dass die Maßnahme die Befugnisse des Präsidenten übersteigt. Seit voriger Woche haben Mitglieder der Opposition damit gedroht, das Dekret aufzuheben, und einfache Argentinier sind auf die Straße gegangen, um ihren Unmut zu zeigen.

Milei versucht, die Unzufriedenheit dreier sozialer Gruppen in den Griff zu bekommen

Doch Milei war offenbar auf die Gegenreaktion vorbereitet. Unmittelbar nach der Ankündigung des Dekrets rief er zu einer außerordentlichen Sitzung des Kongresses zwischen dem 26. Dezember und dem 31. Januar auf. Darüber hinaus führten die ersten drei von elf Initiativen, die die Regierung dem Kongress vorlegte, wirtschaftliche Änderungen ein, die nicht per Dekret durchgeführt werden können, wie etwa Änderungen der Steuervorschriften. Damit wollte die Regierung zeigen, dass sie sich bei der Umsetzung ihrer Agenda nicht allein auf Durchführungsverordnungen verlässt.

Darüber hinaus spiegeln einige der Erlassartikel und vorgeschlagenen Initiativen Ideen wider, die von anderen führenden Politikern unterstützt werden. So verbietet das Dekret beispielsweise das Blockieren oder Besetzen von Einrichtungen, die als unverzichtbar gelten – eine Maßnahme, die an die Anti-Protest-Vorschläge von Patricia Bullrich, einer Präsidentschaftskandidatin in der ersten Runde, erinnert. Eine andere Initiative, die dem Kongress vorgelegt wurde, würde die Senkung der Einkommensteuer für viele Arbeitnehmer rückgängig machen – eine Maßnahme, für die der Präsidentschaftskandidat Sergio Massa während seiner Kampagne geworben hatte. Durch die Einbeziehung von Vorschlägen anderer Parteien will Milei die Opposition spalten und mehr Anhänger für seine Agenda gewinnen.

 

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Milei versucht auch, die Unzufriedenheit dreier sozialer Gruppen in den Griff zu bekommen: der Landarbeiter, der angestellten Mittelschicht und der gewerkschaftlich organisierten Industriearbeiter. Alle drei Gruppen standen seit der Rückkehr Argentiniens zur Demokratie im Jahr 1983 im Mittelpunkt größerer öffentlicher Unruhen. Im Allgemeinen hat der Agrarsektor positiv auf die angekündigten Reformen reagiert, zum Teil, weil die Währungsabwertung es ihnen ermöglichen würde, mehr in Pesos für ihre Exporte zu verdienen, die in Dollar abgerechnet werden. Viele Argentinier aus der Mittelschicht befürchten jedoch, ihre mietbegrenzten Wohnungen zu verlieren, wenn die Mietverträge zur Verlängerung anstehen, und weniger verfügbares Einkommen zu haben, da ihre Kosten steigen.

Die Gewerkschaften haben sich unterdessen gegen mögliche Änderungen der Einkommensteuer und der Arbeitsvorschriften gewandt, die die Probezeit für Neueinstellungen verlängern und die Kündigung von Arbeitnehmern während ihrer Probezeit erleichtern. Sie haben sich auch besorgt über die zu erwartenden Arbeitsplatzverluste im Zusammenhang mit den Sparmaßnahmen der Regierung geäußert. Dazu gehören Bauarbeiter, die ihren Arbeitsplatz verlieren könnten, wenn die Regierung weniger Geld für Infrastruktur- und andere Projekte ausgibt.

Wenn er scheitert, wird sich die wirtschaftliche Misere Argentiniens verschlimmern

Doch in den vergangenen 30 Jahren sahen sich viele argentinische Staatsoberhäupter mit regierungsfeindlichen Protesten konfrontiert. Unabhängig davon, wer die Wahl im Oktober gewonnen hat, waren soziale Unruhen irgendwann programmiert. Bislang scheint Milei die Beziehungen der Regierung zum Agrarsektor zu schützen, der in der ersten Hälfte des Jahres 2024 eine entscheidende Rolle spielen wird, wenn die Landwirte ihre Ernten verkaufen, um US-Dollar einzunehmen. Außerdem scheint er auf die bewährte Strategie zu setzen, verschiedene Gruppen von Arbeitnehmern und soziale Milieurs in bestimmten Fragen zu spalten. Dies wird den Widerstand gegen seinen Plan zwar nicht beseitigen, aber doch verringern.

Die jüngsten Initiativen, die dem Kongress vorgelegt wurden, geben den deutlichsten Hinweis auf Mileis Absichten, die über die Wirtschaftsreformen hinausgehen. Er hat den Kongress gebeten, Vorschläge zur Änderung der Funktionen des Staates, des Wahlsystems und der Verfahren für Ernennungen und Beförderungen zu prüfen. Ziel ist es, die Korruption auszumerzen, das Klientelsystem einzudämmen und die Regierung zu verkleinern. Etwa die Hälfte der elf Initiativen bezieht sich auf die Beendigung der Doppelbesteuerung von in Argentinien lebenden Personen, die Bürger Japans, Chinas, der Vereinigten Arabischen Emirate, Luxemburgs und der Türkei sind. Außerdem werden die Regeln für die Unterzeichnung internationaler Verträge und die Genehmigung von Auslandsreisen für den Präsidenten reformiert.

Die Regierung hat die Reaktionen ausländischer Regierungen und Investoren auf die vorgeschlagenen Änderungen genau beobachtet. Brasilien hat sich besorgt über die möglichen Auswirkungen auf den Handelsblock Mercosur geäußert. Auch China scheint über den ideologischen Wandel in der argentinischen Regierung und die möglichen Auswirkungen auf den Handel besorgt zu sein.

Peking drohte mit der Aussetzung eines Abkommens mit Argentinien über einen Währungsaustausch im Wert von umgerechnet 5,9 Milliarden Euro, um Milei zu drängen, seinen Wunsch nach einer weiteren Zusammenarbeit mit China deutlich zu machen. Die neue Regierung hat Präsident Xi Jinping gebeten, das Abkommen nicht auszusetzen, und einen neuen Botschafter in Peking ernannt. Das Problem für Länder wie Brasilien und China besteht jedoch darin, dass sie befürchten, auf dem argentinischen Markt weniger wettbewerbsfähig zu sein und – insbesondere Brasilien – aufgrund der marktfreundlichen Veränderungen ausländische Investitionen an Argentinien zu verlieren.

Selbst wenn der Kongress die Änderungen nicht zum Scheitern bringt, wird es noch einige Monate dauern, bis sie Ergebnisse zeitigen. Für Milei wird das Ziel darin bestehen, die Reformen umzusetzen und die damit einhergehenden sozialen Unruhen zu bewältigen. Wenn er Erfolg hat, wird die Regierung in der Lage sein, den Staatshaushalt zu entlasten, Investitionen anzuziehen und das dringend benötigte ausländische Kapital ins Land zu holen. Wenn er scheitert, wird sich die wirtschaftliche Misere Argentiniens nur verschlimmern.

 

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Tomas Poth | Mi., 3. Januar 2024 - 16:05

Wenn die argentinische Wirtschaft dann brummt, können wir mit jeder Menge "Fachpersonal" aushelfen, die bei uns leider nicht einsatzfähig sind, aber sicher in Argentinien das BIP steigern können. :-))

Henri Lassalle | Mi., 3. Januar 2024 - 16:11

wird es wahrscheinlich geben. Das Programm des neuen Regierungschefs ist eine Schocktherapie - aber ob es eine Therapie ist, bleibt im Raum. Die grossen Probleme des Landes, die traditionell gewachsen sind - die Ausbeutung der Reichtümer durch Grossbesitzer und "Eliten" - wird er nicht beseitigen können, diese Strukturen sitzen zu fest. Und sollte es ihm tatsächlich gelingen, ausländische Investoren zu interessieren, dann werden sich die sozialen Spannungen erhöhen, vielleicht explosionsartig. Denn Investoren gehen immer im selben Stil vor: Sie wollen Privatisierung vorfinden, wenig investieren, Finanzvorteile geniessen und short-term-Gewinne einfahren.
Argentinien könnten dann schlimmstenfalls eine Art Kolonie für ausländische Investoren werden.

Stawrogin | Mi., 3. Januar 2024 - 21:41

Hört sich sehr nach der Schocktherapie a la Chicago Boys in Jelzins Russland an. Mir tun die Argentinier leid. Die Heuschrecken werden nichts übrig lassen.