Bücher des Monats - David Foster Wallace: Georg Cantor

Der US-Erzähler Wallace widmet dem Mathematiker Georg Cantor (1845–1918) eine Biografie, die Dietmar Dath sehr gefällt: Dies ist nicht nur eine dichte und sehr anschauliche Studie, es ist die Neuerfindung der Wissenschaftsprosa.

Nicht alles, worüber man vernünftig reden kann, lässt sich auch wahrnehmen. Atome sind so klein, dass das Licht, das sie trifft, aufgrund seiner zu groben Wellenlängen ihre Erscheinung nicht in optische Muster auflösen kann. Sie lassen sich deshalb so wenig fotografieren wie Vampire, der Zinsfuß oder das Gewissen. Rastertunnel-Mikroskope schaffen Abhilfe: Was sie im Kleinsten tasten, lässt sich ins große Bild setzen. Technisch hilft man sich an vielen ähnlich undurchdringlichen Grenzen. Wir können den Pfiff nicht hören, der Fledermäusen ihre Orientierung im Finstern ermöglicht, aber es gibt Apparate, die diesen Defekt ausgleichen. Dass wir aber nicht nur unsere allseitig verbesserungsbedürftigen Sinne, sondern auch das arme Hirn der Evolution verdanken und dass deshalb nicht nur viele Sachverhalte existieren, die wir nicht sehen, tasten oder schmecken, sondern auch solche, die wir nicht denken können, das ist schwer zu schlucken. Indes: selbst für die Handhabung dieser Ungeheuerlichkeiten gibt es Werkzeug, nämlich die Begriffe und Zeichensysteme für geregeltes Folgern: die Ressourcen der Mathematik.

Nutzt man diese Ressourcen, kann man sogar damit arbeiten, dass es mindestens zwei verschiedene Arten des Unendlichen gibt: eine abzählbare (1, 2, 3 …) und eine überabzählbare (zum Beispiel alles, was an Brüchen so zwischen 0 und 1 passt). Beide Mengen, die abzählbare wie die überabzählbare, sind unserer Anschauung glei­chermaßen entrückt. Man meint daher zu emp­finden, sie wären einerseits auf unwirk­liche Art gleich groß, ahnt aber auch, ihr Um­fang mache sie irgendwie verschieden. Die Mengenlehre sagt, sie seien «nicht gleich mächtig». Versucht man, die Eigenschaften solcher Mengen aufzulisten und genauer zu qualifizieren, gerät man schnell in definito­rische Strudel, argumentative Rückzugs­nöte, echte und scheinbare Paradoxa.

Solche Denk-Abenteuer zu schildern, gehört seit Anbruch der wissenschaftlichen wie der literarischen Moderne zu den schönsten Scherereien, die sich Erzähler zuziehen können – zumindest solche, die ihre Kunst nicht nur mit zufälligen Erfahrungen und hübschen Einfällen, sondern mit Wirklichkeit und Wahrheit belasten wollen, um herauszufinden, was diese Kunst aushält. Das Erzählen selbst – man vergisst das allzu leicht – ist ja ein Hilfsmittel, das Daten liefert über Dinge, die zwar der Spekulation, nicht aber der direkten Wahrnehmung zugänglich sind: wie sich das Weltganze in fremden Köpfen darstellt. (Würde ich je denken wie du, wäre ich nicht mehr ich, also geht das prinzipiell nicht; Identität ist so atomar wie Materie.)


Atmosphärische Miniatur und Essay

Der amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace kennt sich damit aus. Er hat das Erzählen in seinem Riesenroman «Infinite Jest» (1996) auf mehr als tausend Seiten bis kurz vor dem Zerreißen mit Wirklichkeit und Wahrheit vollgestopft. Das Weltganze nach Wallace erschließt sich dort über die Gesichtspunkte Tennis, Film und Terroris­mus – eine Triangulation: Man kann den gesamten Kosmos jederzeit aus drei Gesichtspunkten konstruieren, wenn sie für den Augenschein nur weit genug auseinan­derliegen. In Deutschland kennt man Wallace bislang eher als Kurzstrecken-Dichter, Reporter und Essayisten («Kurze Interviews mit fiesen Männern», «Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich», siehe „Literaturen” 3/2002).

Seine dichte und kostbare Studie «Georg Cantor. Der Jahrhundertmathematiker und die Entdeckung des Unendlichen» aber stellt das, was Wallace über die atmo­sphärische Miniatur, übers philosophische Räsonieren, die Reportage und den Essay weiß, in den asketischen Dienst der Erfin­dung einer neuen Sorte Wissenschaftsprosa. Diese erliegt weder der Versuchung, das seltsam entrückte Air der mathematischen Lehrsätze mit netter Geschwätzigkeit zu neu­tralisieren, noch die Sprödigkeit der Tatbestände hinter menschelnden Anekdoten über die Macken seines Helden Georg Cantor zum Verschwinden zu bringen. Die berühm­ten niederschwelligen, aber meist überhaupt nichts erhellenden Vergleiche («Stellen wir uns vor, ein Telefonbuch speichert unendlich viele Handynummern …»), aus denen das Infotainment seinen Zucker kaut, spart er sich gänzlich. Auch das, was die deutsche Übersetzung seines Buches eine «populäre Biographie» Cantors nennt – als Amerikaner kann er’s kürzer und verächtlicher: «Pop Bio» – überlässt Wallace anderen. Der große Mann, der unter anderem die heikelsten Fragen betreffend die oben erwähnten verschieden mächtigen Unendlichkeiten als Ers­ter ordentlich systematisert hat, tritt überhaupt erst nach mehr als der Hälfte des Textes in Erscheinung.

Der feine Kies der Philosophie

Vorher filetiert Wallace mit sicherer Hand so anspruchsvolle Dinge wie das Problem der Induktion in nicht-experimentellen Wissenszweigen, einen Crash-Kurs in Infinitesimalrechnung, eine versuchsweise Übersicht ambulanter Erkenntnistheorie sowie die Geschichte des Unendlichen als Vorstel­lung und als Gegenstand von Vorstellungen (bei Angelegenheiten, die man nicht wahrnehmen kann, geraten diese beiden leicht durcheinander: So gut wie jede popu­lär­wissenschaftliche Darstellung beispielsweise der modernen Physik scheitert schon nach wenigen Absätzen an diesem Unterschied).

Wo Wallace doch einmal veranschau­licht – aber eben eher paraphrasierend als vergleichend –, passiert das stets unter ange­messenen Vorbehalten. Vor geometrischen Abbildungen schreckt er nicht zurück; sie bleiben die ehrlichsten Masken der Mathematik-Didaktik. Und wie etwas gerechnet wird, das man nie messen könnte, führt er mitunter recht ausführlich vor. Man merkt seinem Argumentationsgang überall die angelsächsische Tradition der wechselseitigen Kontrolle von einerseits kühlem Scharfsinn und andererseits hoher Erklärungsreichweite an.

Wenn er seine lesende Kundschaft daran erinnert, dass sie den platonischen Vorrang des Allgemeinen vor dem Gewimmel der Einzeldinge ja sicher noch aus der Schule kennt, hat er dabei das Bildungssystem von Staaten im Kopf, die ihrem Nachwuchs Maß und Zahl früh beibringen. Aber nicht nur die Elementarbildung, auch der geistige Habitus des gesamten Kulturraums spendiert ihm Voraussetzungen für sein Unternehmen, die in Deutschland leider nicht gelten. Manchmal knirscht sozusagen der feingemahlene Kies des steinigen Wegs der angelsächsischen analytischen und postanalytischen Philosophie unter seinen Füßen. Aber diese sexy Nebengeräusche – wie auch das leise Kühlgebläse des Computers, von dem er bei der Erörterung des Unterschieds zwischen diskreten und kontinuierlichen Kalkülen in sehr naheliegenden Exkursen sprechen könnte, was er aber bleiben lässt – reichern den Text gleichsam aus dem Off mit Informationen an, die gar nicht da stehen müssen, um von der Lektüre mit aufgerufen werden zu können.

Einmal faltet Wallace eine längere Abschweifung, die er sich verbietet, in den witzigen Flaps ein: «Zunächst wollen wir, um uns mindestens 10 hoch 3 Worte zu ersparen, zur Auffrischung einen Blick auf die zwei folgenden Graphen werfen.» Dieser Tonfall trennt ihn am deutlichsten von der trüben «Keine Angst vor Mathe»-Brühe, die modische deutsche Erklärclowns ihrem Pub­likum so gern auftischen. Wallace kann sehr witzig sein; nie wird er neckisch.


Kitschfreier Besuch bei einem Genie

Die persönliche Annäherung an Georg Cantor (1845–1918), diesen wissenschaftlich wie psychologisch so denkwürdigen und tragischen Menschen, der in seinen produktiven Berufsjahren zwischen 1870 und 1885 fast alle Denklandschaften besucht hat, geschieht behutsam, kitschfrei, intelligent. Anderthalb Jahrzehnte genialer Arbeit, in der Cantor unter anderem die exakte Definition der reellen Zahlen fand und die Mengenlehre begründete; ein von schweren aperiodischen Depressionen und harten Auseinandersetzungen mit wissenschaftlichen Gegnern geprägtes Leben: den Plot nachzuerzählen, den das Buch im Abriss bietet, ist unstatthaft; man kann das nicht knapper machen als Wallace.
David Foster Wallace’ «Cantor», dies zur Gattungsfrage, ist letztlich ein Roman: die Darstellung der Totalität des Kosmos, gesehen durch die Probleme anderer Köpfe als des eigenen. Der Held dieses Romans ist weder Georg Cantor noch «das Unendliche», sondern das menschliche Fassungsvermögen als solches. Wallace liebt es, triezt es, quält es manchmal sogar ein bisschen. Immer aber macht er ihm, stellvertretend für die Menschheit, alle Ehre.

 

Dietmar Dath, Jahrgang 1970, arbeitet als freier Autor in Freiburg. Nach einem Buch über den Physiker Paul Dirac erscheint jetzt der Roman «Waffenwetter».

 

David Foster Wallace
Georg Cantor. Der Jahrhundert­mathe­ma­ti­ker und die Entdeckung des Unendlichen
Aus dem Amerikanischen von Thorsten Schmidt und Helmut Reuter.
Piper, München 2007. 368 S., 22,90 €

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