Wolfgang Thierse / Julia Marguier

Wolfgang Thierse im Gespräch mit Volker Resing - Cicero Podcast Politik: „Die SPD hat nur in eine Richtung verloren, in Richtung AfD und CDU“

Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse ist in diesen Tagen 80 Jahre alt geworden. Im „Cicero Podcast Politik“ will er seine Partei vor einem Minderheitenprogramm bewahren und beklagt sich über Identitätspolitik und programmatische Anbiederung an die Grünen. 

Autoreninfo

Volker Resing leitet das Ressort Berliner Republik bei Cicero. Er ist Spezialist für Kirchenfragen und für die Unionsparteien. Von ihm erschien im Herder-Verlag „Die Kanzlermaschine – Wie die CDU funktioniert“.

So erreichen Sie Volker Resing:

Der frühere stellvertretende SPD-Vorsitzende und Bundestagspräsident Wolfgang Thierse warnt seine Partei vor zu viel Nähe zu Grünen und Linken. Manche Funktionäre würden gerne die Politik der anderen machen und hätten verlernt, „die eigene Position durchzuhalten oder wieder stärker sichtbar zu machen“, so der gerade 80 Jahre alt gewordene Parteiveteran im Cicero Podcast Politik. Besonders wendet sich Thierse gegen identitätspolitische Verengung seiner Partei. „Die SPD kann nicht gewinnen, wenn sie den Versuch macht, für alle Minderheiten Politik zu machen“, so der aus der DDR-Bürgerrechtsbewegung stammende Sozialdemokrat. „Wenn die SPD als Volkspartei eine Zukunft haben will, dann muss sie den Blick auf die Mehrheit der Bevölkerung richten.“

Wolfgang Thierse war immer ein unbequemer Geist in seiner Partei. In der Umbruchzeit 1989/1990 nach der friedlichen Revolution auf den Straßen der DDR geriet er in der Politik. Kurzzeitig war er Vorsitzender der ostdeutschen Sozialdemokratie, um dann stellvertretender Vorsitzender der wiedervereinigten SPD zu werden. 1998 wurde er Präsident des Deutschen Bundestages und damit der erste Ostdeutsche in einem höchsten Staatsamt. Heute beklagt er das mangelnde Selbstbewusstsein seiner einstigen Landsleute sowie auch die falschen Zuschreibungen der „Wessis“. „Es gab ein richtiges Leben im falschen System“, sagt Thierse heute mit Blick auf die DDR und mahnt Differenzierung an, die die „Unfreiheiten und die Unterdrückungen“ in der Diktatur nicht kleinreden dürfe.

Wolfgang Thierse und Volker Resing
Wolfgang Thierse (li.) und Volker Resing in der Cicero-Redaktion / Julia Marguier

 
Thierse ist zuletzt immer wieder mit seiner Partei in einen Clinch geraten, vor allem dann, wenn er sich gegen Cancel Culture und seiner Meinung nach überzogene Gender-Diskurse beklagte. Im Cicero Podcast Politik plädiert er dafür, den Focus der Politik wieder zu ändern. „Man wagt ja in diesen Zeiten schon das kleine Wörtchen ‚normal‘ gar nicht mehr auszudrücken“, so Thierse. „Da wird man ja sofort faschistischen Denkens geziehen, das ist mir so passiert.“ Aber eine solche Orientierung brauche sozialdemokratische Politik wieder. Sie müsse sich wieder denen zuwenden, „die arbeiten gehen, denen es nicht bombig geht, die keine ganz besonders besonderen kulturellen Interessen haben“. Die Ampel-Regierung habe besonders dies vernachlässigt, etwa in der Klimapolitik auch den sozialen Ausgleich zu suchen, so Thierse.

Deutliche Worte findet Thierse auch zur aktuellen Migrationspolitik. Den Zugewanderten habe Deutschland zu wenig abverlangt, meint er gerade auch angesichts aktueller antisemitischer Ausschreitungen auf Deutschlands Straßen. Doch es sei nötig, klar zu machen, dass, wer in dieses Land kommt, aus welchen Gründen auch immer, „der kommt in ein geschichtlich und kulturell geprägtes Land“, so Thierse. „Zu dieser Prägung zählt zum Beispiel auch der Holocaust und die moralische politische Verpflichtung, die sich daraus ergibt.“ Wer das nicht einsehe, sei hier falsch. Thierse wendet sich auch gegen den Terminus des „antiislamischen Rassismus“. Es sei ein „eigentümlicher Begriff“, so Thierse, der sich selbst in der katholischen Kirche engagiert hat. Religionskritik müsse in unserem Lande legitim sein, so Thierse, „das wissen Christen längst“. Islamkritik werde zu oft als Rassismus verdächtigt, beklagt er.

 

Das Gespräch wurde am 16. Oktober 2023 aufgezeichnet.

 

Sie können den Podcast jetzt hier – klicken Sie dazu „Inhalte aktivieren“ – hören, oder auch auf allen Podcast-Portalen.

 

Sie sind interessiert an weiteren Themen und noch kein Abonnent von Cicero Plus? Testen Sie uns, gratis für 30 Tage.

Mehr Podcast-Episoden:

 

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.

Fritz Elvers | Fr., 27. Oktober 2023 - 19:00

Ist nun aber schon seit über 10 Jahren so.
Kein Arbeiter oder kleiner Angestellter nimmt die sPD noch ernst.

Hatte Schröder ihm nicht aufgetragen, zum Friseur zu gehen?

Heidemarie Heim | Fr., 27. Oktober 2023 - 19:13

Die hätte ich mir und wahrscheinlich viele Mitbürger mit nicht nur Politikverdrossenheit, sondern Wut, Besorgnis, Verzweiflung, der seit Jahren gesetzten Narrative und inflationär gebrauchten von Hypermoral triefenden, oberlehrerhaft vorgetragenen Begriffe mehr als überdrüssig gewünscht! Einzelne Rufer in der Wüste, in den Parteistallungen quer stehende Kühe oder die späten Einsichten von Verzeihung ! Politpensionären, die einmal das Gesicht und die Identität einer Volkspartei prägten, hilft in diesen Zeiten niemandem mehr. Mein eigener Vater, lebenslanger SPD-Anhänger trotz und wegen seiner Herkunft aus einem dem Nationalsozialismus sehr zugewandten Elternhauses, würde sich im Grab umdrehen, könnte er sehen was aus seiner Partei geworden ist. Ich lebe noch und behaupte, dass meine Generation im Westen (Baujahr 58 wie der Kanzler!) im Rückblick eine der glücklichsten war und sein wird. Trotz Kaltem Krieg u. RAF-Terror ansonsten Frieden, Freiheit und Demokratie für alle Friedfertigen!!

Enka Hein | Sa., 28. Oktober 2023 - 16:04

Antwort auf von Heidemarie Heim

....stimme Ihnen voll zu.
Es war trotz RAF und kaltem Krieg eine sehr gute Zeit.
Aber auf die letzten 20 Jahre kann ich verzichten.
Und es hat mit der politischen Elite in Berlin und deren Wandlung hin zum linksgrünem Spinnertum zu tun.

Karla Vetter | Fr., 27. Oktober 2023 - 19:27

ist einer der wenigen Genossen, mit dem ich tatsächlich noch konform gehen kann. Er vermittelt nicht sofort das Gefühl in der SPD ganz rechtsaußen zu sein. Außerdem ein ziemlich authentischer Redner, wie ich mal live feststellen konnte. Und einer der wenigen Christen in der Sozialdemokratie.

Tomas Poth | Fr., 27. Oktober 2023 - 19:42

... weigert sich zu erkennen, daß die SPD in den letzten 18 Jahren 14 Jahren mit in der Regierung, an den Hebeln der Macht, saß. Sie war stolz darauf, daß mit Merkel SPD-Politik durchgesetzt werden konnte, klagte aber dafür nicht belohnt geworden zu sein.
Das es zu den ganzen Problemen so gekommen ist, wie es sich derzeit darstellt, war auch SPD-Politik.
Wenn die SPD dafür abgestraft wird ist es nur Folgerichtig. Klar kann sie 14 Jahre lange falsch geführte Politik nicht innerhalb von 2 Jahren aufholen, schon gar nicht mit den Grünen. Aber die SPD will es ja selbst nicht! Ihre müßt erst in der Versenkung verschwinden, damit ihr eure Arroganz verliert!
Die Grünen natürlich auch.

Ernst-Günther Konrad | Sa., 28. Oktober 2023 - 08:18

So sehr sich Thierse abmüht, den "alten SPDler" abzugeben und seine Partei wieder ein Stück nach rechts zu rücken und an seine ehem. Wählerklientel zu erinnern, man wird auch ihn nicht hören. Ihm geht und ging es genauso, wie anderen Mahnern über die SPD hinaus. Für Kühnert & Co. sind Männer wie Thierse nur noch ein Überbleibsel vergangener Zeiten, die man einfach erstmal nicht beachtet, die sterben ja demnächst weg. Und wenn sie es zu doll treiben, dann geht man mit ihm um, wie seinerzeit mit Sarrazin. Obgleich sich fast alles inzwischen bewahrheitet, sogar noch schlimmer darstellt, wie er es in seinem Buch beschrieb. Die "alte" SPD gibt es nicht mehr. Sie ist vielmehr auf dem besten Weg sich selbst abzuschaffen. Obgleich ihnen die Wahlergebnisse und Umfragen zu denken geben müssten, findet keine selbstkritische Eigenbetrachtung mehr statt. Deutschland schafft sich ab titelte Sarrazin und meint damit auch die SPD. Mal sehen, wie lange er noch so frei reden darf.

Walter Bühler | Sa., 28. Oktober 2023 - 10:04

Das hat Thierse bei diesem klugen Interview nicht gesagt.

Meine Erfahrung ist: Die SPD ist - wie andere Parteien! - von Menschen gekapert worden, die sich Politik zum Brotberuf gewählt haben.
In unserm Land dürfen sie diesen speziellen Beruf (als Parteifunktionäre und Politiker) ohne jeden Qualifikationsnachweis ausüben. Solche Leute kommen nicht aus der Arbeitswelt, sondern zunehmend aus dem akademischen Lumpenproletariat, das in den Gesellschafts- und Sozialwissenschaften an den Universitäten produziert wird. Sie organisieren sich dort in ideologisch unterschiedlich übertünchten, aber gleich funktionierenden Karriere-Netzwerken. Die faktische Loyalität eines Funktionärs gilt seiner "Verbindung" (wie man früher sagte), nicht dem Gemeinwohl des Landes.
Die "ideologische Verkleidungen" dieser Karrierenetzwerke und "NGO's" spiegeln den Niedergang der Geistes- und Kulturwissenschaften wider, der in den letzten Jahren stattgefunden hat.

Das Resultat kann man jeden Tag zu bestaunen.

Dorothee Sehrt-Irrek | Sa., 28. Oktober 2023 - 11:44

Also Herzliche Glückwünsche und mein Kompliment für Ihr gutes und fröhliches Aussehen, Herr Thierse.

Markus Michaelis | Sa., 28. Oktober 2023 - 13:33

Wolfgang Thierse höre ich gerne zu. Aber dem immer wieder vorgetragenen Argument, dass oder warum die Menschen an die einfachen Botschaften der AfD glaube, kann ich nicht (mehr) so gut zuhören. Natürlich vereinfacht die AfD vieles - ich habe mich nicht genug mit ihr beschäftigt, um genau zu wissen was, aber sicher ist das so.

Der relevante Punkt scheint mir aber doch, dass die "Altparteien" ("Altmedien", "Altinstitutionen" etc.) in einer Weise vereinfachen, die glaube ich viele Menschen abschreckt - micht zumindest.

Das Klima ist DAS eine Thema (anstatt es abzuwägen), es gibt NUR negative Seiten des Klimawandels, NUR negative Seiten des Brexits, NUR positiver Seiten der Migration, und und und. Mir scheinen soviele Erzählungen der anderen Parteien viel zu selbstsicher, zu einfach und zu wenig an eine Welt angekoppelt, wie ich sie zu sehen glaube.

Walter Bühler | Sa., 28. Oktober 2023 - 20:34

Antwort auf von Markus Michaelis

... das betütelt und betreut werden muss. Verkünder einfacher Botschaften bescheinigen sich selbst die Betreuungskompetenz, und erteilen sich selbst den Betreuungsauftrag, ohne das Dummerchen zu fragen, ob es von ihm überhaupt betreut und vertreten werden will.

Auch ich, Herr Michaelis, bekomme daher eine Gänsehaut, wenn die "Altparteien" ("Altmedien", "Altinstitutionen" etc.) uns Bürger in dieser Weise mit ihren "einfachen" Botschaften bevormunden wollen.