Justitia mit Maske / c Dominik Hermann
Justitia mit Maske / c Dominik Hermann

Pandemie und Rechtsstaat - Die Causa Corona VII: Ausnahme als Rechtsform der Krise

Der Begriff des Ausnahmezustands wird von Juristen normalerweise abgelehnt. Wie soll man aber sonst die Erscheinungsformen des Pandemierechts erklären? Ein Beitrag zu einer juristischen Fehlerkultur.

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Autoreninfo

Oliver Lepsius ist Professor für Öffentliches Recht und Verfassungstheorie an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster.

So erreichen Sie Oliver Lepsius:

Während sich die Politik in Deutschland meistenteils noch immer weigert, die zurückliegende Corona-Krise aufzuarbeiten, werden in der Judikatur immer öfter Stimmen laut, die kritisch hinterfragen, ob der Staat während der Pandemie möglicherweise überzogen hat und ob rechtsstaatliche Prinzipien ausreichend beachtet worden sind.

Cicero nimmt diese wichtige Debatten zum Anlass, um in einer großen Serie mit namhaften Rechtswissenschaftlern die weiterhin offenen Fragen zu diskutieren. Wie verhielt es sich etwa während der Pandemie mit der Gewaltenteilung? Wurde das Grundprinzip der Verhältnismäßigkeit genügend beachtet? Welche Rolle spielt der Staat während der aktuellen Prozesse um mögliche Impfschäden? Im siebten Teil unserer Serie „Die Causa Corona“ beschäftigt sich Oliver Lepsius, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Verfassungstheorie an der Universität Münster, mit der Ausnahme als Rechtsform der Krise. Weite Teile seines Textes sind ursprünglich in die Georg-Jellinek-Rede „Ausnahmezustand als Rechtsform der Krise“ eingeflossen, die der Verfasser im Rahmen des Festakts zur Verleihung des Horst-Sendler-Preises am 23. März 2023 im Bundesverwaltungsgericht in Leipzig gehalten hat. Die Langfassung, die später im Deutschen Verwaltungsblatt erschienen ist, finden sie mit sämtlichen Verweisen und Fußnoten am Ende des Artikels zum Download.

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I. Der Ausnahmezustand im rechtswissenschaftlichen Diskurs

Die an mich herangetragene Themenwahl drückt das Bedürfnis aus, erneut die Frage nach dem Ausnahmezustand zu stellen. Hatten wir ihn? Brauchten wir ihn? Wie erkennen wir ihn überhaupt? Was folgt aus ihm? 

Krisen und die Nachfrage nach Ausnahmen

Schon vor der Pandemie ließ sich in der Rechtswissenschaft ein gesteigertes Interesse an diesem Begriff feststellen. Nach 2000 folgte eine Krise auf die nächste. Die Öffentlichkeit gewöhnte sich an eine permanente Krisenstimmung, nahm die Beschreibung von Problemen als Krise nicht nur hin, sondern begann die Abfolge von Krisen als Bestätigung einer vertrauten Zeitdiagnose und lebensweltlichen Daseinsbeschreibung zu erwarten. Krisen wurden zu einer Metapher der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung, zum „Beschreibungsmodus für Beschleunigungsgesellschaften“. Es wundert daher nicht, dass in der Rechtswissenschaft ein Interesse an Ausnahmelagen und Ausnahmenormen erwachte – als ob Recht auf Selbstbeschreibungsnarrative von Beschleunigungsgesellschaften durch eine Veränderung reagieren müsste, für die das Wort „Ausnahme“ bemüht wurde. Ein Indikator für den intensiven Diskurs ist das weitgehend zeitgleiche Erscheinen von wenigstens vier Habilitationsschriften, die sich mit Krisen schon vor der Pandemie befassen. Diese dicken Bücher erschienen kurz vor der Pandemie. Sie sind sich letztlich darin einig, krisenhafte Zustände vom Ausnahmedenken zu trennen. Die jüngere Forschungsliteratur vermittelt jedenfalls nicht den Eindruck, dass in der Abkehr von den üblichen Zuständigkeiten und Verfahren ein Vorteil liegen könnte. Die genannten Bücher und die ihnen gemeinsame Grundaussage zeigen, dass der „Ausnahme-Diskurs“ 2020 zu einem Ende gekommen war.

Historische Erfahrungen mit normierten Ausnahmezuständen

Die grundlegende Zurückhaltung des Forschungsdiskurses gegenüber einem Denken in oder mit Ausnahmen hat überdies Gründe, die in der Verfassungsgeschichte und philosophischen Grundprägungen liegen. Die Erfahrungen mit dem Notverordnungsrecht des Art. 48 WRV sind durch und durch negativ, nicht nur im Kontext der Machtergreifung, sondern auch aus der Erfahrung heraus, dass der Versuch, den Rückgriff auf solche Ermächtigungen zu begrenzen, indem man sie materiellrechtlich definiert, zum Scheitern verurteilt ist. 

Der Parlamentarische Rat hatte daher weder ein Notverordnungsrecht noch andere Derogations- und Suspensivregelungen vorgesehen. Die Thematik wurde vom verfassungsändernden Gesetzgeber in den 1960er Jahren erneut und wieder abschlägig behandelt. Die Zurückhaltung gegenüber dem Ausnahmedenken geht hintergründig sicher auch auf eine Aversion gegen die Dicta von Carl Schmitt zurück, souverän sei, wer über den Ausnahmezustand entscheide, bzw., alle Regeln setzten eine Normallage voraus – was Abweichungen, ergo Ausnahmeregeln, unvermeidlich zu machen schien. Aber auch die deutsche Philosophietradition des Idealismus kennt keine Philosophie der Ausnahme. Sie präferiert das Systemdenken, die Generellität des Allgemeinen Gesetzes. Das übersetzt sich dann auch in Grunderwartungen der Rechtsdogmatik. Alles spricht gegen die Ausnahme: die Geschichte, die Philosophie, die Dogmatik.

Wiederbelebung durch die Pandemie

Und dann kam die Pandemie. Mit ihr wurde die Rede von der Ausnahme wieder hoffähig. Das hatte seine lebensweltliche Berechtigung. In der Pandemie blieb zunächst wenig, wie es vorher war. Ich muss die lange Latte der Maßnahmen nicht in Erinnerung rufen. Lebensweltlich war die Ausnahme da, und sie kam in Gestalt von Recht. Rechtsverordnungen der Länder erfassten das gesamte soziale Leben und sie taten dies in erster Linie in Gestalt von Verboten. Die primäre Maßnahme des Gesundheitsschutzes war das Verbot mit erheblicher ordnungsrechtlicher Sanktion. Normales Sozialerhalten war plötzlich bußgeldbewehrt verboten. Phasenweise war das Tennisspielen oder Golfen als Effekt der Betriebsschließungen der Sportanlagen Unrecht, und dies ganz unabhängig von der jeweiligen Kontaktnähe. Weder die konkrete Kontaktnähe (Beispiel Golf) noch die abstrakte Kontaktnähe (Beispiel Tennis) konnte das Verbot erklären. Wenn für sich genommen normales Sozialverhalten, das infektiologisch unerheblich ist, strafbewehrt wird, beginnt die Unterscheidung von Recht und Unrecht zu verschwimmen. Aber auch jenseits solcher in Rechtsform gegossener Absurditäten: Eine Rechtsordnung, die alle Bürger als Nichtstörer in Anspruch nimmt, verliert einen plausiblen Bezugspunkt von Rechtmäßigkeit. Wie soll der Bürger diese Mutation von Recht begreifen? Hier entstand ein grundsätzliches Problem für die Glaubwürdigkeit von Recht. Über die normale Rechtsordnung, über die tradierten, eingeübten und sozial konsentierten Verhaltensmaßstäbe von Recht und Unrecht legte sich ein Verordnungsregime, das Verhalten nach einem anderen, nämlich infektiologischem Kriterium erfasste.

II. Alles ganz normal?

Der Befolgungsanspruch dieses Rechts richtete sich nach der Leitdifferenz „ansteckend-nicht ansteckend“. Während die Rechtfertigung nach der Leitdifferenz „rechtmäßig-rechtswidrig“ eine Bestimmung des Rechtswidrigen benötigt, also den Diskurs über das Rechtswidrige nicht nur zulässt, sondern sogar erfordert und somit die Bestimmung des Rechtswidrigen zum Produkt einer kollektiven, verfahrensrechtlich organisierten Willensbildung und Normsetzung macht, die überdies zahlreiche Graduierungen erlaubt, lässt die Leitdifferenz „ansteckend-nicht ansteckend“ keine solchen Graduierungen zu. Kann es über „ansteckend“ einen Diskurs geben? Kann darüber eine Mehrheit entscheiden, ein Wahlkampf geführt werden? Ein Pandemierecht, das meint, Ansteckungen vermeiden zu müssen und das dieses Kriterium zum Ausgangspunkt der Regelsetzung macht, nutzt die Formen des Rechts, aber es ist nicht das Recht, das wir kennen, das die Verfassung etabliert und das wir Rechtsstaat nennen und zwar aus dem schlichten Grund, weil es seine Rechtfertigung, die Beachtung der Leitdifferenz „ansteckend-nicht ansteckend“, aus einem rechtlich nicht weiter behandelbaren Kriterium ableitet. Die Rechtfertigung des Pandemierechts folgt einer naturwissenschaftlichen Zwangsläufigkeit. Einer dergestalt begründeten Regelsetzung steht der Einzelne machtlos gegenüber. Recht droht dann zum Abbild der Natur in Gestalt eines Virus zu werden, zu einer neuen Form des Natur-Rechts, obwohl doch alles Recht Menschenwerk ist. Wir stehen jedenfalls vor der Aufgabe, den grundsätzlichen Wandel von Recht während der Pandemie erklären zu müssen.

Der Gesetzgeber als Verordnungsgeber

Wie erklären wir, dass flächendeckende Grundrechtseingriffe auf dem Verordnungswege ohne öffentliche Debatte oder parlamentarische Beratung und Beschlussfassung eingeführt werden konnten, dass der Gesetzgeber die Bestimmung der Freiheitssphäre dem Verordnungsgeber überließ? Wie erklären wir, dass zum Zentrum der Normsetzung ein Gremium wurde, das in der Staatorganisation gar nicht vorgesehen ist und das es nur inoffiziell gibt, nämlich die Ministerpräsidentenkonferenz ergänzt durch die Bundeskanzlerin? In diesem verfassungsrechtlich inexistenten Gremium – der offizielle Titel des inoffiziellen Gremiums lautete „Videoschaltkonferenz der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder“ – saßen überdies ganz überwiegend Amtsträger, die für den Erlass der Coronaschutzverordnungen, die sie dort jedoch vereinbarten, unzuständig waren. Denn die Zuständigkeit lag nach § 32 IfSG bei den Landesregierungen, nicht bei den Ministerpräsidenten. Nicht wenige Länder hatten, weil das IfSG dies erlaubte, die Zuständigkeit für den Verordnungserlass an die Gesundheitsminister subdelegiert. Die Zuständigkeit für die Bundesrechtsverordnungen lag beim Bundesgesundheitsminister, nicht bei der Bundesregierung als Kollegialorgan und schon gar nicht bei der Kanzlerin.

Auch wenn die Verordnungen, deren Inhalte nach einer solchen Schalte auf einer Pressekonferenz im Beisein des RKI-Präsidenten verkündet und begründet wurden, hinterher durch die zuständigen Landesverordnungsgeber formaliter nachvollzogen wurden, bleibt doch der Umstand, dass über den Umfang der gesellschaftlichen Freiheit im informellen Raum von formell Unzuständigen entschieden wurde. Diese Praxis begann im März 2020 und sie führte sogleich zu einer der folgenreichsten Entscheidungen, nämlich den flächendeckenden Schulschließungen. Ich wage die These, dass bestimmte Einzelmaßnahmen letztlich nur erklärlich sind, weil es gerade dieses Entscheidungsformat gegeben hat. Diesem zentralen Entscheidungsgremium, der „MPK-BK“, fehlen die institutionellen Voraussetzungen für die Entscheidung von grundrechtlichen Verteilungskonflikten. Inhalt, Zweck und Ausmaß der Verordnungsdelegation müssen im Parlamentsgesetz geregelt sein, weil dort die öffentliche Debatte vorgeschaltet wird und der – idealiter gedacht – Ideenwettbewerb von Argument und Gegenrede den Eingang in die Gesetzgebung findet, so dass die nachfolgende Verordnungsgebung die Gesetzgebung arbeitsteilig entlasten kann. Doch das Wesentlichkeitsargument griff nie wirklich durch. Erst als im Herbst 2021 die Idee einer gesetzlichen Impfpflicht aufkam, setzte sich das Wesentlichkeitsargument durch, was auch mit den veränderten politischen Mehrheiten erklärt werden mag. Dies machte sich dann auch gleich ergebnisrelevant bemerkbar. Bekanntlich ist es zur allgemeinen Impfpflicht nicht gekommen, weil im Laufe der parlamentarischen Beratung die Gründe dafür schwanden. 

Die Willensbildung und Entscheidungsfindung in der Regierung und erst recht innerhalb eines Ressorts, das für den Verordnungserlass zuständig ist, folgt anderen Kriterien als im Parlament. Sie ist nicht öffentlich. Sie dient nicht der Abwägung. An ihr nimmt kein repräsentativ zusammengesetzter Personenkreis teil. Die Entscheidung unterliegt politischen Hierarchien. Ob Grundrechtsschutz zu einem Regelungsbelang wird, wird als Frage der Inzidenz behandelt nicht aber als verfassungsrechtlicher Auftrag. Kurzum: An die Stelle der Abwägung gleichrangiger Schutzgüter tritt eher eine politische Hierarchisierung der Schutzgüter. Der Aufgabenzuschnitt der Regierung, ihre Zuständigkeitsverteilung und Verfahrensordnung sind aber gar nicht darauf eingerichtet, die unterschiedlichen Grundrechte abwägend zu schützen.

Verteilung von Grundrechten durch Kabinette und kryptische Exekutivausschüsse

Über die Verteilung von Grundrechtslasten entschied also ein Gremium, das von seiner Zusammensetzung und Organisation für Abwägungsentscheidungen ungeeignet war. Regierungen bilden die Ressortkompetenzen ab, repräsentieren also eine sachbereichsspezifische Expertise. Für zahlreiche infektiologisch relevante Lebensbereiche gibt es in den Regierungen schon keine Expertise mangels Ressortkompetenz. So hat der Bund mangels Zuständigkeit kein Schulministerium. In der Bundesregierung wird über Schulschließungen ohne eigenen Ressortunterbau gesprochen. Wenn auch noch der private lebensweltliche Zugang zur Schule fehlt, weil die Entscheidungsträger in der Bundesregierung zufällig alle kinderlos sind, entsteht ein erheblicher Graben zwischen dem Ziel Kontaktbeschränkungen durch das Schließen von Bildungseinrichtungen zu erbringen und dem dafür nötigen fachlichen wie ersatzweise persönlichen Zugang zu diesem Lebensbereich. In der Folge wurden Belastungen und Zielkonflikte nicht erkannt. Dass unter solchen organisatorischen Bedingungen keine guten Entscheidungen getroffen werden, leuchtet ein, und inzwischen haben politische Akteure eingeräumt, dass die Schulschließungen ein Fehler waren.

Die juristisch unsichtbare soziale Dimension der Grundrechtseingriffe

Die grundrechtlichen Schutzbereiche haben die soziale Dimension der Grundrechtseingriffe nicht erfassen können. Der Eingriffseffekt fiel teilweise in ein grundrechtliches Vakuum. Grundrechte sind als Minderheitenrechte konstruiert und nicht als Rechtfertigungshürde für flächendeckende Eingriffe in normales Sozialverhalten. In dieser Hinsicht bleibt nur die allgemeine Handlungsfreiheit, die aber keinen substantiellen Freiheitsschutz vermittelt, sondern der Sache nach ein grundrechtlicher Anspruch auf rationale hoheitliche Begründung ist. Freizeitverhalten, das nur unter Art.  2 Abs. 1 GG fällt, wird im Effekt nicht wirklich als Freiheitsausübung geschützt. 

Demgegenüber sind Betriebsschließungen in der Gastronomie ein Eingriff in die Gewerbefreiheit, der ökonomisch allerdings kompensationsfähig ist. Der mit der Betriebsschließung verbundene soziale Funktionsverlust (die Gaststätte als Ort der Begegnung und Kommunikation) ist hingegen grundrechtlich gar nicht abbildbar. Oder um ein anderes Szenario zu bieten: Wer Universitäten schließt, Sport- und Freizeiteinrichtungen schließt und über Betriebsschließungen die Minijobs abschafft, legt das soziale Leben von Studierenden lahm. Wenn diese dann auch noch von den Kontaktbeschränkungen besonders getroffen werden, weil sie in Einpersonenhaushalten leben, dann kumulieren in dieser Bevölkerungsgruppe Eingriffe mit geradezu existenzieller Dimension. Doch kann diese Belastungssituation grundrechtlich nicht abgebildet werden mit dem Effekt, dass es dann auch keine gerichtliche Überprüfung des von Studierenden zu duldenden Freiheitsverlust gegeben hat. Die Belastung geht in der Schutzlosigkeit der allgemeinen Handlungsfreiheit unter, sie ist rechtlich im Grunde gar nicht abbildbar. Die gerichtliche Überprüfung kann unter diesen Bedingungen die tatsächliche Freiheitsdimension nicht erfassen. Die Lebenserfahrung trifft auf juristische, jedenfalls gerichtliche, Irrelevanz.

Erklärungsverlegenheiten

Es sollte deutlich geworden sein, dass Entscheidungen im Pandemierecht – – – den Satz müsste nun ein Adjektiv beschließen, doch die Bewertung des Geschehens fällt mir nicht gerade leicht. Die Kategorie der Verfassungswidrigkeit, mit der die Staatsrechtslehre gerne arbeitet, passt hier nicht. Man kann der Verfassung ja nicht vorwerfen, dass sie die Grundrechte als Minderheitenschutz konzipiert und nicht an flächendeckende infektiologisch begründete Eingriffe gedacht hat. Und ist es nicht sinnvoll, dass der Bundessstaat Gremien zur Bund-Länder-Koordination auch außerhalb des Gesetzgebungsverfahrens ausbildet? Soll man es dem Bundestag verdenken, dass über die Frage der Wesentlichkeit und dem aus ihr abgeleiteten Bestimmtheitsniveau politisch entschieden wird? Klare verfassungsrechtliche Regelverletzungen liegen hier nicht vor. Und so haben die Gerichte entschieden. Doch ist das schon die Antwort, die Juristen geben müssen? Funktioniert der Rechtsstaat schon, wenn und weil Gerichte entscheiden? Wir – und mit dem „Wir“ meine ich uns, den Juristenstand, wie auch „uns“ als Teil der Bürgerschaft und des zivilgesellschaftlichen Diskurses, sind eine Erklärung schuldig für etwas, was, alles in allem, jedenfalls nicht normal war. Weder die Zuständigkeit, noch das Verfahren, noch der Grundrechtsschutz wurde so praktiziert, wie wir das rechtsstaatlich gewohnt sind. Machen wir uns diesbezüglich nichts vor. Normal war nicht, was wir erlebt haben. Ich bin geneigt, Konrad Adenauer zu zitieren, der seiner Verwunderung über die Verfassungsrechtsprechung 1952 mit den Worten Ausdruck gab: „Dat ham wer uns so nich vorjestellt.“

III. Die Notwendigkeit eine Ausnahme zu erklären

Wir sind jedenfalls eine Erklärung schuldig, als Juristen wie auch als Teil der Gesellschaft. Wie können wir die rechtsstaatliche Anomalie der Pandemiejahre erklären? Wenn ich recht sehe, stehen fünf Erklärungsansätze im Raum.

Krise

Der erste operiert mit der Beschreibung als Krise. Es war Pandemie und Pandemie ist Krise. Dieser Ansatz ist publizistisch recht verbreitet, als Wahrnehmungskategorie juristisch aber nur wenig tauglich. Diejenigen, die dem Gedanken näher nachgehen, verwerfen ihn recht schnell. Katarina Barley etwa betont, Parlamente seien auch in der Krise gezwungen, ihre Aufgaben wahrzunehmen und dazu auch handlungsfähig zu sein. Insofern plädiert sie für ein Zurück zur parlamentarischen Normalität und vorausschauende Maßnahmen, um die Handlungsfähigkeit der Parlamente in Krisen zu festigen. Aus medialer Sicht sieht Thomas Darnstädt in der Krise die Kommunikation selbst in der Krise. In der Krise gehe es um einen Prozess der kommunikativen Selbstverständigung, nicht darum, das Diskursergebnis vorwegnehmend festzusetzen, es gehe darum, Orientierung zu ermöglichen, nicht Orientierung zu geben. Auf den Bitburger Gesprächen 2022 hat ein Verfassungsrichter, der an den Notbremse-Erscheinungen beteiligt war, erläutert: „In der Krise gewinnen eben typischerweise die Krisenmaßnahmen“. Da sein Vortrag allerdings nicht im Tagungsband veröffentlicht ist, kann die juristische Tragfähigkeit dieser Aussage hier nicht weiter geprüft werden.

Wissenschaftsbasiert entscheiden

Der zweite Erklärungsansatz verspricht wissenschaftsbasierte Entscheidungen. Hier wird Politik dem Anspruch nach entpolitisiert. Der erhoffte Gewinn an Rationalität ist allerdings legitimatorisch bitter erkauft, denn das Argument mündet in die Prämisse, dass Expertise pluralistischen Abwägungsentscheidungen überlegen sei. Denkt man das Argument weiter, müsste eine Expertenherrschaft überlegen sein, jedenfalls bei komplexen Sachverhalten mit geringem Erfahrungsstand. Aber: Expertise ist ja gerade eine Expertise der abgegrenzten, speziellen Zuständigkeiten. Experten können nicht abwägen, denn dann müsste sie notgedrungen auf Bereiche ausgreifen, die sie lebensweltlich, nicht aber als Experten beurteilen können. Expertise und Abwägung stehen in einem Zielkonflikt. Man kann es auch so formulieren: Wenn wir das pandemische Krisenmanagement als wissenschaftsbasiert rechtfertigen, dann hat „die“ Wissenschaft ein Problem. Denn sie trifft auf die Erfahrung, wenn Wissenschaftler beraten, werden am Ende in Deutschland die Schulen für 38 Wochen geschlossen.

Solidarität

Der dritte Erklärungsansatz operiert mit Solidarität. Wir verzichten kollektiv auf Freiheitsrechte zugunsten der Kapazitäten unseres Gesundheitssystems oder zugunsten vulnerabler Gruppen oder weil wir aller gleichermaßen geschützt werden sollen. Auch eine solche Erklärung ist heikel: Die Pandemie war nicht der große Gleichmacher. Solidarität ist letztlich eine Frage der sozialen Ungleichheit, aber auch des Lebensalters. Ein Jahr ist für eine Fünfjährige oder eine Fünfzehnjährige von anderer Relevanz als für eine Fünfzigjährige. Vor allem gab es keine solidaritätsstiftenden Akte, die man in der Gesetzgebung finden könnte, nicht aber in einer Video-Schalte. Schließlich: Wie weit reichte Solidarität als Erklärungsanspruch? Gestattet sie eine Impfpflicht, also den hoheitlichen Zugriff auf die Integrität des eigenen Körpers? Wo liegt die Grenze zur Aussage, du bist nichts, die Volksgesundheit ist alles? Deswegen wollen wir auf diesen Erklärungsansatz besser auch nicht setzen.

Ausnahme im Recht und außerhalb des Rechts

So bleibt als vierter Erklärungsansatz das Argument der Ausnahme. Hier zeigt sich eine eigentümliche Differenz zwischen der publizistischen, politischen Bewertung, die auf den Ausnahmecharakter verweisen zu pflegt, und der Bewertung in der Staatsrechtswissenschaft, die darauf beharrt, dass Ausnahmen von der Verfassungsordnung weder vorgesehen noch tatsächlich praktiziert worden seien. Pars pro toto sei Horst Dreier zitiert, der dem Procedere des Corona-Rechts durchaus kritisch begegnet. „Noch niemals in der Geschichte der Bundesrepublik sind für so viele Menschen so viele Grundrechte für einen so langen Zeitraum derart massiv eingeschränkt worden. Dennoch sollte man vorsichtig mit der verbreiteten Redeweise vom Ausnahmezustand sein, in dem wir angeblich leben. Denn einen verfassungsrechtlichen Ausnahmezustand kennen wir im Unterschied zu anderen Staaten nicht. In Deutschland sind bislang alle einschlägigen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie auf den verfassungsrechtlich vorgesehenen Bahnen und in den üblichen Verfahren erlassen worden. Auch sind Grundrechte in der aktuellen Krise nicht, wie man oft hören und lesen kann, ‚suspendiert‘ worden.“ Dreier fährt fort, das Grundgesetz beanspruche „auch in der Corona-Pandemie ungeschmälert Geltungskraft und bildet Grund wie Grenze für die Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt. … Des Weiteren geht es auch nicht an, eine Art von faktischer Ausnahmelage zu konstatieren und daraus, ohne sich auf eine Verfassungsänderung stützen zu können, ein normatives Sonderregime zu deduzieren, in dem etwas als grundgesetzkonform beurteilt wird, was im Normalfall als verfassungswidrig einzustufen wäre.“ Mit den letzten Aussagen wendet sich Dreier gegen Klaus Rennert, der eine an den Tatsachen orientierte Kontextualisierung der Normkonkretisierung erwogen hatte. Ähnlich lautet das Petitum von Jens Kersten und Stephan Rixen. Das ganze Gerede von der Ununterscheidbarkeit von Normal- und Ausnahmezustand führe in die normative Desorientierung.

Diese Stimmen sind ersichtlich von der Sorge getragen, einer drohenden Relativierung der Verfassungsbindung entgegenzutreten. Und in diesem Anliegen verdienen sie natürlich volle Zustimmung. Doch frage ich mich, ob das Mittel das Ziel wirklich fördern kann oder nicht das Gegenteil bewirkt. Die Konsequenz ist doch, dass Juristen akzeptieren, dass Grundrechte gelten aber nicht wirken, sich also letztlich mit einem idealistischen Freiheitsversprechen begnügen, dem keine reale Freiheit entsprechen muss. Man steht am Ende vor der Frage, ob die Verfassung in der Pandemie letztlich alles mitmacht und alles zulässt? Wird Freiheit im Sinne eines aufgeklärten Absolutismus einem Kollektivvorbehalt (Gesundheitssolidarität, Klimaschutz) unterzogen? Steht Freiheit grundsätzlich zur Disposition einer wissenschaftsbasierten Begründung nach dem Maßstab der Vertretbarkeit? Ist das der Preis der kollektiven Handlungsfähigkeit? Oder wäre es sinnvoller, punktuelle Ausnahmen zu akzeptieren anstatt graduellen Nivellierungen das Wort zu reden? Wenn das Corona-Recht keine erklärungsbedürftige Ausnahme ist, soll es dann eine prinzipiell verfassungsmäßige Verfassungskonkretisierung sein?

Relative Verfassungswidrigkeit

Zum Dilemma wird, dass die eingeübte staatsrechtliche Klassifizierung nur die Verfassungswidrigkeit oder die Verfassungsmäßigkeit, jedoch keine Zwischenstufen kennt. Die Ausnahme hätte das Potenzial begrifflich eine Zwischenstufe zu markieren, die etwas eigentlich Verfassungswidriges noch nicht als solches bezeichnen soll. Zwischenstufen, wie wir sie aus der Tenorierung der Verfassungsgerichtsbarkeit kennen, ein Gesetz sei „bloß verfassungswidrig“ aber noch nicht nichtig, oder es sei in verfassungskonformer Auslegung aufrechtzuerhalten, ließen sich doch auch gegenüber dem Corona-Recht fruchtbar machen. Warum nicht auch hier aussprechen, dass eine Maßnahme bloß verfassungswidrig ist, aber nicht nichtig, so dass sie für eine kurze Restlaufzeit bis zur Korrektur hinzunehmen sei, weil der Schaden durch Nichtigkeit größer wäre als durch befristete Restgeltung? Trauen wir uns also den Ausspruch des Makels zu und wo siedeln wir ihn an?

IV. Zulässige Ausnahmediskurse

Ausnahme als Folge der Anwendung von Recht

Die vielen Stimmen, die gegen eine Erklärung als Ausnahme argumentieren, haben ein Verständnis, das Ausnahmen außerhalb des Rechts ansiedelt. Die Inanspruchnahme einer Ausnahme ist dann gleichbedeutend mit der Aufgabe der Verfassungsbindung. Das ist aber kein zwingendes Verständnis des Begriffs der Ausnahme. Ausnahme lässt sich auch als politische oder soziologische Bewertung von Recht verstehen, betrifft also die Wirkungsdimension, nicht die Geltungsdimension, erklärt nicht kompetentiell, sondern funktional. Für eine Erklärung der Rechtsstaats-Performance in der Pandemie kann das ein plausibler Ansatzes sein, der jedenfalls geeignet wäre, verloren gegangenes Vertrauen in den Rechtsstaat pro futuro wiederzugewinnen. Beharrt man demgegenüber auf einem normalen Funktionieren der Verfassungsordnung, vertieft das nur die tatsächlich empfundenen rechtsstaatlichen Wunden und schürt das nur Ängste, wann und wie demnächst wieder so gehandelt werden wird. Welches Vertrauen, welche Rechtssicherheit, welcher Verfassungspatriotismus ließe sich auf eine Pandemie-Erfahrung gründen, die als Verfassungsnormalität deklariert würde? Sie mögen den Vergleich für unangebracht halten, aber er erklärt vielleicht auch das geschwundene Rechtsstaatsvertrauen gerade in Ostdeutschland: Die Erfahrung in der DDR war, dass dem schönsten Freiheitsversprechen der Verfassung keine effektive Wirkung entsprach. In der DDR hatten die Grundrechte doch kein Geltungsproblem. Dass manche hier Parallelen zur Gegenwart in der Pandemie ziehen, ist in der Sache natürlich unangemessen, psychologisch aber doch verständlich. Ich halte daher den Ansatz, das Pandemierecht als normalen Verfassungsvollzug zu deklarieren, für keine gute Strategie. Das kann als Bumerang zurückkehren.

 

Bisherige Folgen der Corona-Serie:

 

Es ist juristisch auch nicht zwingend, in Ausnahmen eine Derogation oder Suspension von Regeln zu sehen. Regeln, das mag zunächst überraschend klingen, kennen keine regelhafte, schematische Anwendung. Jede Anwendung einer generell-abstrakten Norm produziert eine konkret-individuelle Norm. Vergleicht man die Anwendungsakte untereinander, wird man Unterschiede der Rechtsfolgen feststellen, und diese erklären sich bereits normativ aus der jeweils anderen Tatsachenrelevanz, auf die die generell-abstrakte Norm antizipierend reagiert, wenn sie Ermessen einräumt, unbestimmte Rechtsbegriffe benutzt, als Finalnorm oder gar als Generalklausel formuliert ist. Was ist auf der Ebene der konkret-individuellen Norm jetzt Ausnahme oder Regelentscheidung? Die entscheidende Frage bleibt, wie die generell-abstrakte Regel im Lichte der Tatsachen interpretiert wird und wie sie im Lichte der Tatsachen interpretiert werden will (Ermessen). So gesehen sind alle konkret-individuellen Normen (wenn man einmal von der vertypten Massenverwaltung absieht) graduelle Formen von Ausnahmen. Es geht letztlich um eine Eigenschaft von Fallrecht im Unterschied zu einem generell-abstrakten Systemverständnis, also die Differenz von Ausnahmefall und Ausnahmezustand. Konkret gefragt: Ist „Wunsiedel“ eine Ausnahme von der Regel des allgemeinen Gesetzes nach Art. 5 Abs. 2 GG? Macht das deutsche Verständnis der Meinungsäußerungsfreiheit am Maßstab des internationalen Grundrechtsschutzes eine Ausnahme, wenn es Tatsachenäußerungen nicht erfasst? Statuiert die Grundmandatsklausel im Bundeswahlrecht eine historisch etablierte, seit 1953 praktizierte Grundregel oder handelt es sich um eine systemwidrige Ausnahme? An welchem Maßstab ist diese Frage zu messen, an dem der Wahlgleichheit des Art. 38 GG oder am Demokratie- und Bundesstaatsprinzip des Art. 20 GG oder an Maßstäben aus den Entscheidungen des BVerfG, das vor 25 Jahren die Grundmandatsklausel in einem anderen Rechts- und Faktenkontext zur Systemfrage erklärt hat? Kann eine Regel 70 Jahre nach ihrer Einführung zur Ausnahme werden?

Letztlich haben wir keinen juristischen Maßstab für Ausnahmen außer der Tatsachendimension, die Recht nun einmal immanent ist. Als das BVerfG über die Legalplanung der Südumfahrung Stendal entschied oder über die gesetzliche Zuerkennung des Körperschaftsstatus an Religionsgemeinschaften in Bremen, war allen Beteiligten klar, dass die Begründung nur im Lichte der konkreten Umstände überzeugte, eben als Sachverhaltsspezifik. Bei der Legalplanung Stendal etwa waren dies die Verkehrsprojekte deutsche Einheit. Es waren jeweils sachverhaltsbezogene Ausnahmen. In Bundesnotbremse I greift der Erste Senat des BVerfG dann aber ganz selbstverständlich auf diese beiden Entscheidungen zurück, um unproblematisch die Rechtsform des selbstexekutierenden Gesetzes zu bejahen, obwohl der betroffene Schutzbereich des Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG explizit entgegensteht. Was ist nun Regel, was Ausnahme? Ist die Ausgangssperre der Bundesnotbremse eine weitere Ausnahme und als solche mit der Eisenbahnplanung und dem Körperschaftsstatus von Religionsgemeinschaften vergleichbar? Oder begründen drei Ausnahmen jetzt die neue Regel, dass das selbstexekutierende Gesetz – das bekanntlich die normkonkretisierende Verwaltung wie die Fachgerichtsbarkeit aushebelt – zur Handlungsform im Instrumentenkoffer des Rechtsstaats zählt? Wenn Ausnahmen zur Regelhaftigkeit deklariert werden, handelt es sich um eine Beweislastumkehr, und zwar gegen die Freiheit. Das Ganze zeigt, wie künstlich die Trennung von Ausnahme und Regelhaftigkeit ist.

Ausnahme ist in der juristischen Binnenkommunikation also ein unzweckmäßiger Begriff, weil er nicht wirklich erklärt, worum es geht, nämlich um eine tatsachenbezogene und sachverhaltsspezifische Normerzeugung. In der juristischen Außenkommunikation, als soziale Erklärung, träte ich dem Begriff aber unbefangener gegenüber. Wir müssen als Juristen auch allgemeinverständlich sagen, was ist. Hier sind Rechtswissenschaftler natürlich freier als Richter. Wenn Rennert in dem oben erwähnten Aufsatz feststellt, es sei im Ansatz verfehlt, ungebrochen auf die Leitsätze zurückzugreifen, die das BVerfG zu den Maßstäben in Situationen der Normallage entwickelt hat, finde ich, dass er die richtigen Fragen stellt. Die Leser kennen mich ja als einen Anhänger der Kontextualisierung von Recht, der übertriebenen Systemerwartungen distanziert gegenübersteht.

Ausnahme als Tatsachenvarianz

Die Tatsachenvarianz, auch das Fehlen von Tatsachen, erklärt viele Entscheidungen, auch Gerichtsentscheidungen. Fehlen Tatsachen, sind im Gefahrenabwehrrecht Gefahrerforschungseingriffe zulässig mit einem graduellen Maßstab: je größer die Wahrscheinlichkeit der Rechtsgutsverletzung oder des Schadens, desto „endgültiger“ können die Maßnahmen sein. Die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit und des Schadens hat in der Gefahrenabwehrprognose immer eine Zeitkomponente, die sich bei den Tatsachen auswirkt.

Die Prognose muss sich im Entscheidungszeitpunkt auf Tatsachen stützen, sie kann nie ins Blaue hinein erfolgen. Im Verlauf des Geschehens nehmen die Kenntnisse über Tatsachen schon kraft Zeitverlaufs unweigerlich zu, was korrigierend zu berücksichtigen und bei neuen Entscheidungen zu einer verbesserten Tatsachengrundlage führt. Die Tatsachenabhängigkeit aller Regelsetzung, sei es als dem Beweis zugängliche Tatsachen bei der individuell-konkreten, sei es als abstrakte „legislative facts“, bei der generell-abstrakten Normerzeugung, fordert Empirie ein. Man darf jedenfalls nicht zulassen, dass modelltheoretische Begründungen an die Stelle von Tatsachen treten. Modelle beruhen auf Erfahrungswerten, die aber auch nur zur Prognose führen. Modelle ersetzen nicht die Tatsachengrundlage von Prognosen, sondern begründen Prognosen mit Prognosen.

Es geraten dann die Parameter der Modellbildung in den Blick. Pandemische Modelle können den Covid-19-Verlauf daher zunächst nur auf der Basis der Erfahrung mit anderen Viren hochrechnen, stellen also eine wackelige Prognose dar, weil sie die Erfahrung, die niemand hat, auch nicht ersetzen können. Modelle ersetzen daher keine Empirie, die niemand kennt und sie wirken sich geradezu hinderlich aus, wenn sie auf verkürzter Empirie beruhen (so in der Finanzkrise) oder die gewonnene Erfahrung nicht nachmodellieren. Das eine führt zu anfänglich falschen Entscheidungen, das andere zu über- oder untergriffigen Entscheidungen. Wer einseitig auf Modelle abstellt, handelt daher immer fehleranfälliger als wer empirisch begründet. Modellen zu vertrauen setzt daher entweder voraus, dass diese erfahrungsgesättigt sind (Wetterbericht) oder dass sie mangels konkreter Erfahrung zunächst eine abstrakte Orientierung bieten können. Letztlich aber weist die Tatsachenvarianz als zentrale Begründungskomponente von Entscheidungen immer auf Empirie zurück.

Eine Pandemiepolitik, die Grundrechtseingriffe etwa von Inzidenzwerten abhängig macht, basiert auf einem Modell, das auf die Tatsache der Ansteckungszahlen zurückgreift. Nur sind diese Zahlen gestaltbar (Menge und Kontinuität der Testungen, Feiertage), in der Erhebung kontingent (falsche oder überhöhte Testergebnisse, keine random samples) und bedürfen der Interpretation (Infektion von Jüngeren hat für die Gefahrenlage eine andere Bedeutung als die Infektion von Älteren). Die Inzidenzwerte sagen über die Gefahrenlage nur wenig aus. Sie bedürfen der Interpretation, sind aber keine Tatsachen. Trotzdem hat die deutsche Pandemiepolitik entscheidend auf diesen Parameter abgestellt. Verkürzt gesagt: Sie hat Tatsachen durch Modelle ersetzt, was in der ersten Welle noch vertretbar erscheint. Die gesetzlichen Schwellenwerte wurden freilich im November 2020 mit dem § 28a IfSG eingeführt und im April 2021 mit dem § 28b IfSG (Bundesnotbremse) zum Leitkriterium erhoben. Solche Entscheidungsgrundlagen haben nichts mit Ausnahmen zu tun, sondern sind klassische Tatsachenprobleme in der prognostischen Dimension.

Prozessual spielt sich diese Problematik im einstweiligen Rechtsschutz ab, der zu reduzierten Kontrollmaßstäben führt, diese als juristische Maßstäbe aber nicht zugunsten von Modellierern aufgeben darf. Wenn es keine Erfahrung mit Schulschließungen gibt, dann dürfen diese nicht ohne Evidenz angeordnet werden. Prävention darf nicht dazu führen, dass die Erhebung von Tatsachen verzögert oder verhindert wird, weil die Gegenwart nur noch aus der Perspektive einer Modellierungsprognose betrachtet wird: Ein dynamisches Geschehen bewirkte sonst, dass Ist-Aussagen wertlos sind, weil die Vorstellung vom Jetzt immer schon von einer Prognose des Morgen abgelöst wird, so dass sich kein Zeitpunkt mehr einstellt, in dem belastbare Tatsachen erhoben werden können. Eine Rhetorik des exponentiellen Wachstums relativiert die Tatsachenbasis des Jetzt. Wenn man von einer Ausnahme sprechen will, dann in dem Sinne, dass Tatsachen von Prognosen abgelöst worden sind. Die Ausnahme gründet dann aber nicht in den Tatsachen, sondern im Umgang mit ihnen. Nicht die Fakten begründen die Ausnahme, sondern der Denkstil. Diese Beispiele mögen genügen um zu zeigen, dass die Art des Umgangs mit der Tatsachendimension einiges erklären kann, warum das Recht in der Pandemie nicht „normal“ war.

Den gesamten Text mit sämtlichen Fußnoten finden Sie hier.

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Tomas Poth | Mo., 11. März 2024 - 21:43

Die Staatsorgane haben völlig überzogen und falsch gehandelt!
Mit unserer Wahlstimme müssen wir die Altparteien zur Verantwortung ziehen und sie aus allen Parlamenten fegen. Nur das wird sie zur Raison bringen.

Ernst-Günther Konrad | Di., 12. März 2024 - 09:32

Wird spätestens das Bundesverfassungsgericht endlich sich auch inhaltlich mit Corona auseinander setzen und eben solche Rechtsfragen, wie Sie sie aufwerfen überhaupt diskutieren? Die Entscheidungen in der Coronazeit haben sich gerade nicht mit der Fragestellung, ob überhaupt eine Ausnahmesituation vorlag beschäftigt. Es lagen schnell belastbare Daten vor bzw. wurden belastbare Daten nicht gemeldet und/oder ausgewertet, trotz hoher Bußgeldandrohungen und dennoch wurde diese Frage leichtfertig am Rande abgetan. Man glaubte der Politik und hinterfragte in der Sache nichts. Sie sind nicht der einzige Jurist und Rechtsgelehrte, der diesen Diskurs immer wieder in Gang setzen will. Man will aber keine öffentliche Diskussion, keine höchstrichterlichen Entscheidungen. Zu viele haben sich schuldig gemacht, wären vielleicht sogar strafrechtlich (Lauterbach u.a.) und/oder zivilrechtlich (Schadensersatz) zu belangen und haben Angst vor Offenlegung ihrer Verstrickungen. Es wird weiter geschwiegen.

Dorothee Sehrt-Irrek | Di., 12. März 2024 - 10:36

verfassungsrechtlichen Denkens.
Diesen "Ausnahmezustand" empfinde ich eigentlich seit der Wende und dass ich mich jetzt nicht zu Boden werfe und auf den Knien um Vergebung bitte angesichts der merklichen Inkompetenz meiner Einlassungen der letzten Jahrzehnte, hat damit zutun, dass ich in dieser "Ausnahme", gerade mit Blick auf Carl Schmitts Definition des Ausnahmezustands, meine Stimme als Aufrechterhaltung oder Ausmalung eines demokratisch verfassten Souveräns zu Gehör bringen wollte.
Schmitts Begründung des Ausnahmezustandes ist, soweit ich mich an mein Studium erinnere, im Kern undemokratisch.
Wie also lässt sich eine demokratische Ausnahme legalisieren und damit, darin gefällte Entscheidungen vorläufig legitimieren?
Ich würde an einer Verantwortlichkeit eines derart legalisierten Zustandes festhalten, die im Nachhinein, wenn nicht strafbar in einem juristischen Sinne, dann doch vom demokratischen Souverän im Nachhinein und evtl. Option währenddessen, infrage gestellt werden dürfen?

wandert dennoch die Souveränität, in unserer verfassten Demokratie durch die Parlamente, zu einer* Handelnden", deren Sprechakte dann doch wohl performativ genannt werden dürfen?
Das Sprechen vollzieht sich unmittelbar als Handlung, weshalb ich an einer gravierenden möglichen Differenz festhalten möchte.
Sagen wir es überspitzt, auch wenn dieser Person dann rechtliches Handeln zugestanden ist, so kann sie zwar in diesem Sinne tätig werden, sich aber nicht willkürlich mit dem Recht oder der Wahrheit in eins setzen.
Das bliebe immer auch eine Frage der Überprüfung ob der Statthaftigkeit der Handlungen oder aber deren Standfestigkeit.
Oder aber um es in etwa mit Nietzsche zu sagen, Göttlichkeit ist keine Frage des Wollens, nicht einmal der der Anrufung durch Irgendjemanden, dann vielleicht einer Beschreibung, Oscar Wilde´s folgend, "The Importance of Being Earnest", wobei die Ernsthaftigkeit vielleicht eine der wichtigsten Voraussetzungen ist?

Ines Schulte | Di., 12. März 2024 - 12:54

die wohl aufgrund von modellierten Hochrechnungen erfolgte, wirkt ja noch weiter. Viele Dienstleister, Händler oder Gastronomen haben aufgrund von auferlegten Betriebsschließen und späteren schleppenden Geschäfts finanzielle Soforthilfen beantragt, die sie nun zurückzahlen müssen, obwohl die Einbußen kaum wettgemacht werden konnten. Neben dem Frust über das verlorene Einkommen und teils abgewanderten Personals müssen sie sich heute mit zeitraubender Bürokratie auseinandersetzen. Viele können die Rückforderungen nicht stemmen. D.h. die Zeit der Einschränkungen wirkt nicht nur im psychologischen und zwischenmenschlichen Bereich noch nach, sondern bedeutet für manchen Unternehmer immer noch eine Zitterpartie mit ungewissem Ausgang. Interessant ist dabei, daß im Winter 23/24 trotz erneut angestiegener Inzidenzen niemand mehr etwas von neuen Verordnungen wissen wollte.

Urban Will | Di., 12. März 2024 - 12:59

die Unzulänglichkeiten der Entscheidungsfindung zu Zeiten der Pandemie aufzeigt. Entscheidungsfindung ist eine hohe Kunst und sie erfordert Fähigkeiten, die – leider – bei der Besetzung wichtiger politischer oder anderer Ämter nicht überprüft werden. Da zu Beginn der Pandemie alles noch sehr ungewiss war, waren schnelle Maßnahmen (die sogar zunächst ausblieben, wohl weil eine Alice Weidel als erste im BT sie forderte und dafür ausgelacht wurde) nachvollziehbar.
Im Verlaufe der Monate, als Erfahrungen gesammelt, immer mehr Tatsachen bekannt wurden, also Evidenz sich anreicherte, hätte man erwarten können und dies hätte auf jeden Fall erfolgen müssen (!), dass die Politik ihre Entscheidungen anders, auf anderer Basis trifft.
Es war mitnichten so. Es ging im „Hauruck“ - Stil weiter, jeder noch so große Blödsinn (vieles ist im Artikel aufgelistet) wurde durchgeboxt. Bis hin zur Impfpflicht, die dann Gottseidank im Parlament scheiterte.
Eine Aufarbeitung muss her!

Hans-Hasso Stamer | Di., 12. März 2024 - 19:15

In der Corona – Zeit war der Staat von einer Diktatur nicht mehr zu unterscheiden. Und ich habe ja eine jahrzehntelang erlebt, kann das also beurteilen.

Heute habe ich den Eindruck, dass sich die Institutionen des Staates nach dieser Zeit zurücksehnen. Es war wohl sehr bequem, ohne wirksamen Widerspruch autoritär durchregieren zu können.

Nie vergessen werde ich die Szene aus einem Video, wo einem Demonstranten gewaltsam sein Plakat, auf dem ein Artikel des Grundgesetzes geschrieben stand, entrissen wurde.. Als aber ein Transparent "AfDler töten" später einer Demo anführte, ließ die Polizei das durchgehen.

Diese Doppelmoral ist für mich bis heute ein moralischer Bankrott.