?Helmut Kohl wusste von der DDR nichts?

Im zwanzigsten Jahr der Einheit hat Cicero den letzten Ministerpräsidenten der DDR getroffen. Gespräch über Stasi-Vorwürfe, Freundschaft und den Altkanzler.

Herr de Maizière, Sie waren Bratschist beim Rundfunksinfonieorchester Berlin, Rechtsanwalt in der DDR, dann haben Sie große Politik gemacht, und jetzt sind Sie wieder Rechtsanwalt in der Bundesrepublik. Was war für Sie die schönste Station?
Wenn ich noch mal 18 wäre, würde ich zunächst wieder Musik studieren.
Andere müssen mit 18 erst einmal zur Armee. Sie haben in der DDR auch Wehrdienstverweigerer betreut. Hatten Sie mit denen damals je eine Chance?
Mit den Wehrdienstverweigerern nicht, und immer wieder habe ich mich selbst gefragt: Soll ich dies tun? Ich habe auch mit Gottfried Forck darüber gesprochen, der damals unser Bischof in Berlin-Brandenburg war. Er sagte: ?Sie sind der Einzige, der in die Haftanstalt reinkommt. Also, Sie werden dies wohl tun müssen.?

Wie viele Wehrdienstverweigerer waren das insgesamt?
Für ein Jahr weiß ich es genau: 1982 waren es 25 Verfahren. Und alle 25 endeten entweder, wenn es um den 18-monatigen Grundwehrdienst ging, mit 20 Monaten Freiheitsstrafe, oder, wenn es um die dreimonatige Reserve ging, mit sieben Monaten Freiheitsstrafe. In allen 25 Verfahren saß Gottfried Forck hinten im Zuschauerraum.

Hat er den Richter damit beeindruckt?
Ja, doch, die Anwesenheit von einem Vertreter der Kirche führte dazu, dass die Verhandlungen sehr sachlich geführt wurden. Sonst konnte es vorkommen, dass die Angeklagten beschimpft wurden.

Sie waren ja auch Mitglied der Ost-CDU.
Ich bin 1956 eingetreten als 16-jähriger Oberschüler, weil mir mein Klassenlehrer am Grauen Kloster in Berlin sagte: ?Du bist jetzt der Einzige, der nicht in der FDJ ist, und du fliegst von der Schule, wenn du nicht in die FDJ eintrittst.? Da hat meine Mutter gesagt: ?Du fliegst hier raus, wenn du da eintrittst?, und mein Vater hat am Abend erklärt: ?Du trittst morgen in die CDU ein. Wollen wir mal sehen, ob sie es wagen, ein Mitglied einer befreundeten Partei von der Oberschule zu schmeißen.? Ich habe in der CDU nie ein Amt gehabt bis zum 10. November 1989, da wurde ich Vorsitzender.

Sie sind später verdächtigt worden, für die Stasi gearbeitet zu haben. Das ist nie bewiesen worden. Schmerzt Sie dieser Vorwurf noch heute?
Damals hat mich das sehr getroffen. Aber der Bundestag hat ja dann ein Gesetz beschlossen zur Überprüfung von Anwalts- und Notarzulassungen. Da hat in Berlin die Senatorin Limbach angeordnet, dass ich untersucht werden soll. Nach anderthalb Jahren hat man mir einen Brief geschrieben, die Überprüfung sei abgeschlossen.

Das heißt, Sie sind heute mit sich im Reinen?
Ja, sicherlich! Ich weiß, was ich mit der Staatssicherheit besprochen habe und warum ich mit denen gesprochen habe, und ich weiß, dass zwischen denen und mir immer der Tisch stand, und ich hab mir da nichts vorzuwerfen. Aber es herrschte unmittelbar nach der Wiedervereinigung in dieser Frage ja auch eine ziemliche Hysterie. Und es war natürlich besonders pikant, den ehemaligen Ministerpräsidenten damit behelligen zu wollen.

Haben Sie sich in der Zeit, als Sie Bundesminister waren und die Stasi-Vorwürfe eskalierten, von Helmut Kohl, dem Regierungschef und Ihrem Parteivorsitzenden, dessen Stellvertreter Sie waren, ausreichend unterstützt gefühlt?
Ich würde eher sagen, er hat sich kein Bein ausgerissen. Ich glaube, im politischen Tagesgeschäft Solidarität aus den eigenen Reihen zu erwarten oder zu verlangen, das gehört eigentlich nicht zum Geschäft. Und Dankbarkeit schon gar nicht.

Haben Sie eine Ahnung, wer diese kurze, aber intensive Kampagne überhaupt angezettelt hat?
Ich sage mal ganz vorsichtig, ich weiß, dass man bei der Spiegel-Redaktion, bevor es losging, wohl Bedenken hatte, dass man aber wohl den Hinweis bekommen hat, dass das Adenauer-Haus nicht sonderlich traurig darüber wäre.

Haben Sie heute noch ein Verhältnis zu Helmut Kohl?
Nein, gar kein Verhältnis. Ich bin sehr eng befreundet mit Wolfgang Schäuble. Mit Wolfgang Schäuble befreundet zu sein, heißt auch automatisch, in Mithaftung genommen zu werden und den Zorn des Kanzlers auf sich zu ziehen. Er tut mir im Grunde jetzt fast leid. Er ist fast alle seine Weggefährten los. Selbst Norbert Blüm hat er abserviert, und es gab ja andere wie Wolfgang Schäuble, die bis zur Selbstverleugnung Kohl gedient haben und die er so behandelt hat, wie er sie behandelt hat. Ich glaube, dass es jetzt sehr einsam um ihn geworden ist.
Wer Sie und Kohl am 3. Oktober 1990 hat nebeneinander stehen sehen, der hatte schon optisch den Eindruck, die wahren Machtverhältnisse vor sich zu sehen.

Haben Sie das auch so empfunden?
Ja, dafür kann ick ja nüscht, dass der Kohl 1,90 groß ist und ich 1,70 bin. Am 18. März gab es eine Fernsehsendung, in der am Schluss zehn Schnellschussfragen kamen. Da wurde ich gefragt, was unterscheidet Sie von Helmut Kohl, und ich habe geantwortet: ?Das Gewicht.?

Das war auch politisch zu verstehen?
Ihre Frage impliziert eine Konkurrenz, die ich nie gesehen habe. Es war nicht mein Ziel, Bundeskanzler zu sein.

Die Frage ist, ob Sie als ein Jurist, der erst ein knappes Jahr zuvor in die Politik gekommen war, sich ihm nicht überhaupt unterlegen gefühlt haben in den Verhandlungen über die Wiedervereinigung. Hinter Kohl stand immerhin ein erfahrener funktionierender Apparat.
Er hat ja gar nicht verhandelt. Die Verhandlungen hat Schäuble geführt. Helmut Kohl hat im Grunde die außenpolitische Seite abgedeckt. Wenn man mit Details zu ihm kam, sagte er immer: ?Ach, das interessiert mich nicht, machen Sie das mit Wolfgang Schäuble.? Sicherlich hatte er die größere Sachkompetenz, aber die bessere Feldkompetenz hatte ich. Er wusste von der DDR so gut wie nichts.

Wenn Sie sich das Ergebnis jetzt angucken, sind Sie zufrieden mit dem, was Sie damals eingebracht haben und was jetzt ?hinten rausgekommen? ist?
Zunächst war es ein beispielloser Vorgang, zu dem es keine Blaupause gab. Die Bundesrepublik hat sich 40 Jahre ein teures Ministerium für gesamtdeutsche Fragen geleistet, aber leider keins für gesamtdeutsche Antworten. Das Ganze war ja nicht nur ein Einigungsprozess, sondern es war gekoppelt mit einem unglaublichen Transformationsprozess. Die Menschen in Ostdeutschland mussten ein völlig neues politisches, Wirtschafts- und Kultursystem begreifen und zwar innerhalb von fünfeinhalb Monaten. Wenn ich mir ansehe, wie der gleiche Transformationsprozess in unseren Nachbarländern abgelaufen ist, glaube ich schon, dass wir das ziemlich deutsch hingekriegt haben. Wir hatten ja auch ein funktionierendes Rechtssystem in der einen Hälfte und einen wirtschaftlich potenten Partner, der enorme Lasten geschultert hat, auch materieller Art.

Warum nur haben die Menschen in der DDR das alles wieder vergessen?
Ich glaube, dass die Meinung, dass da vieles schiefgegangen sei, nicht richtig ist. Da ist zum Beispiel viel über die Treuhandanstalt geschimpft worden. Noch einmal, wenn ich mir die Privatisierung des Volkseigentums in anderen osteuropäischen Ländern ansehe, besonders in Russland, ist das bei uns, von einigen Untreuefällen mal abgesehen, in der Treuhand doch ganz zivilisiert abgelaufen, die ganze Privatisierung, die Umwidmung der Betriebsschulden in Altschuldentilgungsfonds.

Ihre Feldkompetenz bezieht sich vor allem auf die Gesamtbefindlichkeit der Menschen in der ehemaligen DDR. Wie erklären Sie sich, dass dort heute so viele Menschen wieder in Ostalgie verfallen?
Demokratie und soziale Marktwirtschaft machen mit einem gesicherten Arbeitsplatz und mit einem vollen Portemonnaie mehr Spaß als mit Arbeitslosigkeit und Hartz IV.

Ist es nur das?
Ja. Das ist einer der Hauptgründe. Wenn man die Bundesrepublik sieht, die Wirtschaftswunderzeit, das waren auch nach dem Krieg Aufstieg und Vollbeschäftigung und sogar Gastarbeiter. Es war so ein unglaubliches Gefühl von ?Wir sind wieder jemand?, inklusive Bern 1954; ja, da weiß ich heute noch die halbe Mannschaft aufzusagen: Rahn, Morlock, Schäfer, Posipal, Toni Turek und so weiter. Hingegen war der Umbruch der DDR für viele Ostdeutsche mit dem Zusammenbruch ihrer ganzen Lebensleistung verbunden.

Gab es Fehler, weshalb die Menschen jetzt sagen, ihre ganze Lebensleistung sei missachtet?
Beispiel Eisenhüttenstadt: Dort waren zu DDR-Zeiten 12000 Menschen beschäftigt. Jetzt sind es noch 2900 Menschen, und die produzieren fast das Doppelte von dem, was zu DDR-Zeiten dort produziert worden ist. Wir haben damals vorgesehen, die Autobahnen mit Leitplanken zu versehen, die DDR kannte ja Leitplanken gar nicht. Das wäre doch ein schöner Großauftrag für Eisenhüttenstadt gewesen. Dann wurde europaweit ausgeschrieben, und Eisenhüttenstadt war hinten. Man hätte also Schutzvorschriften haben müssen und getrennte Märkte, doch getrennte Märkte hätte geheißen, erneut Zollhäuschen aufzustellen an der innerdeutschen Grenze, und das war ja innerhalb der Europäischen Union nicht mehr möglich.

Das heißt, Sie reduzieren die heutige Stärke der Linken auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die die Menschen in den neuen Ländern empfunden haben?
Selbst die Idole, die die Menschen im Osten hatten, waren ja plötzlich nichts mehr, alle Sportler waren gedopt, die Schlagersänger des Ostens kamen nicht mehr vor ? Die Ostdeutschen haben 1989/90 einen großen historischen Sieg errungen, und wir haben es nicht verstanden, ihn auch in das Lebensgefühl der Ostdeutschen umzusetzen. Wir haben es versäumt, symbolische Dinge zu tun.

Ich habe gehört, dass der Bundeskanzler in jeder Kabinettssitzung den Postminister gefragt hat, wann es endlich in der ganzen ehemaligen DDR Telefone gibt. Damit die Menschen begreifen, es hat sich was geändert, Herr Schwarz-Schilling, wo bleibt dieses Symbol?
Wenn man sich jetzt Ostdeutschland anguckt, die modernere Infrastruktur steht hier, die Straßen sind besser, die Schienenwege sind alle in Ordnung, es gibt keine analogen Relais mehr, es ist alles digitalisiert ?

Was halten Sie eigentlich von der Bundeskanzlerin Angela Merkel?
Ich bin über ihre Entwicklung nicht so überrascht wie andere. Ich schätze ihre hohen analytischen und ihre großen formal-logischen Fähigkeiten. Was ich ihr nicht zugetraut habe, ist das Durchsetzungsvermögen, diese Fähigkeit, sich so gegen diese Männerschar zu behaupten. Im Moment ist es natürlich schwierig in der Finanz- und Wirtschaftkrise. Da würde ich mir manchmal mehr einen ordentlichen ordnungspolitischen Rahmen wünschen für das, was da passiert, und weniger reines Krisenmanagement.

Zumal das ziemlich teuer zu werden droht ?
Richtig, mit 500 Milliarden Euro hätten wir noch eine ganze Weile DDR spielen können.

Wie oft spielen Sie heute noch Bratsche?
Ich spiele mindestens alle 14 Tage Streichquartett, und im Mozartjahr 2006 habe ich bei ungefähr zwanzig Konzerten mitgespielt. Ich habe sogar wieder richtig angefangen zu üben.

Ich bedanke mich für dieses Gespräch.

Das Gespräch führte Günther von Lojewski

Foto: Picture Alliance

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