
- Projekt „Festung Europa“
Emmanuel Macron hat sich mit einem Brandbrief an die europäischen Bürger gewandt. In seinen Vorschlägen ist viel von Weltoffenheit und Werten die Rede. In Wahrheit geht es eher um das Gegenteil, auch um eine Absage an die Willkommenskultur von Angela Merkel
Es kommt eher selten vor, dass sich der Regierungschef eines europäischen Staates nicht nur direkt an seine eigenen Landsleute wendet, sondern an die „Bürgerinnen und Bürger Europas“. Genau das hat Emmanuel Macron am vergangenen Montag getan, und es dürfte ihm klar gewesen sein, dass er sich damit auch einer Kritik aussetzen würde, die weit über Frankreichs Grenzen hinausreicht. Dass er es dennoch gewagt hat, spricht erst einmal für ihn – auch wenn man den pathetischen Ton, in dem sich ein wahrhaft karolingisches Selbstverständnis zeigt, befremdlich findet. „Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg war Europa so wichtig“, behauptet Frankreichs Präsident gleich am Anfang seines Appells. Um dann hinzuzusetzen: „Und doch war Europa noch nie in so großer Gefahr.“
Anderes historisches Bewusstsein in Ungarn und Polen
Dieser geradezu endzeitliche Befund dürfte insbesondere in Mittel- und Osteuropa mit einer gewissen Verwunderung aufgenommen werden – zumal Macron ja ausdrücklich von „Europa“ spricht, vom ganzen Kontinent also (und nicht etwa nur von der EU). Und da ist das historische Bewusstsein in Ländern wie etwa Polen oder Ungarn eben doch etwas anders ausgeprägt als in Frankreich oder in (West-)Deutschland. Östlich des ehemaligen Eisernen Vorhangs haben die Menschen den Kalten Krieg und den Sowjetimperialismus anders (und vor allem am eigenen Leibe) erlebt als die Bürger im Westen. Die französische Perspektive ist also keineswegs allgemeinverbindlich, und Macrons fast schon eschatologische Warnung lässt vermuten, dass insbesondere die derzeitige Gelbwesten-Bewegung deutliche Spuren am Gemütszustand des Hausherrn im Élysée-Palast hinterlassen hat.
Wenig Sensibilität für die Befindlichkeiten der „Bürgerinnen und Bürger“ zeigt Emmanuel Macron überdies, wenn er im Zusammenhang mit dem Brexit von einer „nationalistischen Abschottung“ spricht, die eine „Ablehnung ohne jegliche Perspektive“ bedeute. Dass die Brexiteers ihren Wahlkampf mit allerlei falschen Versprechungen geführt haben, ist die eine Sache. Das macht aber noch nicht jeden Briten, der für den Austritt seines Landes aus der Europäischen Union gestimmt hat, zu einem tumben und rückwärtsgewandten Nationalisten. Vielmehr ist es genau solch ein Paternalismus à la Macron, der viele Insulaner auf der anderen Seite des Ärmelkanals in ihrer EU-Skepsis bestätigen dürfte. Und das in Mittel- und Osteuropa verbreitete Gefühl, die EU sei vor allem ein von Deutschland und Frankreich dominiertes Elitenprojekt, ist mit dem Appell des französischen Präsidenten bestimmt auch nicht kleiner geworden.