
- Die Renaissance des Emmanuel Macron
Weder für die Christdemokraten noch für die Sozialdemokraten zeichnet sich bei der EU-Wahl eine Mehrheit ab. Der neue Kommissionspräsident müsste dann vom Rat der Regierungschefs ernannt werden. Das wäre ganz im Sinne von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron
In Deutschland hält sich hartnäckig der Begriff der Grande Nation als Synonym für Frankreich. Kein Franzose kennt ihn, niemand nutzt ihn. Wenn schon spricht man von grandeur, was die besondere, ja herausgehobene Stellung Frankreichs bezeichnet, als Wiege der Aufklärung und der Freiheit. Dass sich der Begriff im deutschen Sprachgebrauch derart festgesetzt hat, liegt zum einen an althergebrachten Vorurteilen, zum zweiten an der großen Lust der Franzosen, mit reichlich Pathos zu formulieren und selbst kleinere Ideen sprachlich so zu verpacken, als seien sie nobelpreiswürdig, mindestens. Und an der Fähigkeit, die eigenen Interessen angemessen durchzusetzen.
So gesehen ist der Name Renaissance von Emmanuel Macrons Wahlbündnis für die kommende Europawahl extrem passend, verströmt er doch hinreichend Pathos, verkündet genügend Selbst- und Geschichtsbewusstsein und verpflichtet sich zudem den Werten des Humanismus. Den Namen eines Wahlbündnisses mit noch mehr Inhalt aufzuladen dürfte schwierig werden.
Warum das Alles? Schon der Name La Republique En Marche ist ja von ähnlicher Wucht und wahrlich nicht schlecht. Doch es gibt mehrere Probleme.
Zu versnobt für eine Nebenrolle
Erstens gehören sowohl Macron als auch seine Partei LREM tatsächlich keiner der europäischen Parteienfamilien an. Das ist nicht nur Feststellung eines Faktums, sondern bezeichnet vor allem, dass sie ideologisch weder zum konservativen, noch zum sozialdemokratischen Lager gehören, dass sie vielmehr offen sind für Ideen aus vielen Denkschulen. Die Klammer, die sie zusammenhält, ist Europapolitik. Das ist kein Lippenbekenntnis, sondern strategische Ausrichtung, begründet in der Einsicht, dass kein europäisches Land auf sich allein gestellt, in einer globalisierten Welt auch nur annähernd konkurrenzfähig wäre. Man könnte daher meinen, es sei logisch, dass Macron letztendlich bei den Liberalen gelandet ist, aber auch das greift zu kurz. Liberales Gedankengut wie auch ökologische Ideen sind „nur“ weitere Einflüsse auf eine sich selbst als postideologisch verstehenden Politik, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt und eine europäische Entwicklung. Renaissance eben – hätte (weniger pathetisch) auch von Gerhard Schröder sein können.
Der zweite Faktor ist ganz schlicht: Jeder französische Präsident hält eine Nebenrolle für deutlich unter seiner Würde. Aber genau das wäre passiert, hätte Macron die LREM in ein Bündnis mit Christ- oder Sozialdemokraten geführt, die ihn und seine Partei ja beide umworben und mit Kusshand genommen hätten. Die LREM wäre geschrumpft zu einer Partei unter anderen. Und sie wäre dabei nicht die Größte und Maßgebliche geworden.
Rückfall hinter die Wahl vom 2014
Das ist der Grund, warum Macron drittens so vehement gegen das System der Spitzenkandidaten ist. Demokratietheoretisch ist das auch ein Rückfall hinter die Wahl von 2014. Aber es stehen dieses Mal auch nicht zwei europaweit bekannte Figuren wie Jean-Claude Juncker und Martin Schulz zur Abstimmung. Vor allem erklärt es sich mit Machtpolitik, mit bestehenden Verträgen und geltendem EU-Recht. Denn die Verträge sind völlig eindeutig: Das EU-Parlament entscheidet nicht allein über den Kommissionsvorsitz, sondern mit gleichem Recht und gleicher demokratischer Berechtigung auch der Rat der Regierungschefs der Mitgliedstaaten. Das findet nicht zuletzt das Bundesverfassungsgericht richtig und lehnt deshalb eine Sperrklausel ab, anders als für alle anderen Wahlen in Deutschland.
Und damit zu den konkreten Wahlaussichten: Nach allen Prognosen wird es weder für Frans Timmermans noch für Manfred Weber reichen. Keiner der beiden hat große Aussichten, tatsächlich Kommissionspräsident zu werden. Das steht ziemlich fest. Denn abgesehen vom Votum der Staats- und Regierungschefs ist es schon höchst unwahrscheinlich, dass eine „Große Koalition“ aus Sozial- und Christdemokraten überhaupt eine Mehrheit im Parlament bekäme. Der Begriff Koalition ist dabei schon deshalb irreführend, weil ja keine gemeinsame Regierungsbildung stattfindet, sondern nur die Wahl eines oder einer Vorsitzenden und anschließend die parlamentarische Kontrolle der nach ganz anderen Regeln zusammengesetzten Kommission. Bei jeder anderen Parlamentsmehrheit wäre die Position der liberalen ALDE gestärkt und mithin die von Präsident Macron. Stimmt, aber nur bedingt!
Sozialistische Renaissance-Fraktion?
Erstens gilt das für alle kleineren Fraktionen. Denn zweitens werden die Liberalen ganz sicher nicht so stark werden, dass sie allein einer der beiden großen Fraktionen zur Mehrheit verhelfen könnten. Die deutsche FDP hat sich Blütenträume ja bereits abschminken müssen. Ähnlich geht es anderen ALDE-Mitgliedern. Und ja, die britischen Liberalen könnten ob des Brexit-Desasters klar gestärkt werden. Ob allerdings die Briten, die ja wahrlich nicht freiwillig Abgeordnete des EU-Parlaments werden und es zudem unter Umständen auch nur auf Zeit bleiben, überhaupt über eine so wichtige Frage wie die Präsidentschaft abstimmen dürfen, ist nicht abschließend geklärt.
Gelegentlich wird spekuliert, dass die portugiesischen Sozialisten eine Renaissance-Fraktion unterstützen könnten, Matteo Renzi den italienischen Partito Democratico einbringen würde, ja sogar Alexis Tsipras und Syriza bereit stünden. Das ist, mit Verlaub, alles Blödsinn, wird so nicht stattfinden. Syriza und der Partido Sozialista wollen nicht, und Renzi hätte nicht einmal mehr die Macht, seine Partei von einen solchen Schritt zu überzeugen.
Die Kandidatin aus dem Hut
Viel wichtiger ist etwas anderes: Wenn das Parlament als einer der beiden Akteure keinen eigenen Vorschlag zustande bringt, stärkt das automatisch die Position des Rates der Regierungschefs. Sie wären dann regelrecht in der Pflicht, einen Vorschlag zu unterbreiten. Und das wäre nach Lage der Dinge eben keiner der Spitzenkandidaten. Da ist Emmanuel Macron vor. Und nicht nur er. Auch andere Staatschefs können weder der Idee, noch den Personen viel abgewinnen. Timmermans war immerhin schon mal Außenminister, aber wer ist Weber, fragen sich nicht nur deutsche Wähler. Eigentlich müssen die Staatschefs jemand anderen aus dem Hut zaubern, respektabel, erfahren und für viele Seiten wählbar.
Und hier könnte dann Margrethe Vestager ins Spiel kommen, quasi über Bande. Gerade weil sie sich immer geweigert hat, den Titel Spitzenkandidatin für sich anzunehmen. Natürlich war sie das praktisch. Es wäre also kein Gesichtsverlust für das Parlament, sie zu wählen. Vestager hat als Kommissarin eine ebenso gute, weil durchsetzungsfähige Figur abgegeben, wie vergangene Woche in der Fernseh-Debatte der Spitzenkandidaten. Und Macron könnte sich zuguteschreiben, eine eigene Kandidatin, zudem eine Frau, durchgesetzt zu haben.
Eine Menge Renaissance also, und grandeur. Aber vielleicht sind ja noch ganz andere Personen im Hut. Oder auch draußen: Sollte Macrons Wahlbündnis in Frankreich zum Beispiel hinter der Partei von Marine Le Pen landen.