
- Winterzeit für Xi Jinping
In der Volksrepublik mehren sich Probleme, die sich zu einer regelrechten Staatskrise auswachsen könnten: vom Energiesektor über die Außenpolitik bis hin zum Immobilienmarkt. Für Xi Jinping, den als unangreifbar geltenden Präsidenten Chinas, kommt das zur Unzeit. Denn sein Führungsstil steht bei vielen in der Kritik.
Irgendwann in etwa einem Jahr wird die Kommunistische Partei Chinas (KPC) ihren alle halbe Dekade stattfindenden Parteitag abhalten. Das ist stets eine sehr große Sache, denn bei dieser Gelegenheit wird entweder der nächste Parteivorsitzende ernannt – oder er übernimmt die Führung. Außerdem werden dort die Ernennungen für das Zentralkomitee, das Politbüro und den wichtigen Ständigen Ausschuss des Politbüros abgeschlossen.
Nach einem Jahrzehnt an der Macht scheint Xi Jinping jedoch wenig geneigt zu sein, sich an den bisher gepflegten Comment der Partei zu halten und zurückzutreten. Er lehnte es ab, 2017 einen Nachfolger für das Amt des Vizepräsidenten zu ernennen und verbaute stattdessen einige vielversprechende Karriereaussichten der aufstrebenden sechsten Führungsgeneration der KPC. Und in den vergangenen fünf Jahren hat er den Großteil der Zeit darauf verwendet, die Grundlagen für einen längeren Verbleib seiner selbst an der Macht zu schaffen. Wenn er 2023 nicht mehr Parteivorsitzender ist, wird das mit ziemlicher Sicherheit daran liegen, dass er sich selbst in eine noch höhere Position befördert hat, die es derzeit noch nicht gibt.
Machtkämpfe und Palastintrigen
Das bedeutet jedoch nicht, dass es im kommenden Jahr an Machtkämpfen und Palastintrigen mangeln wird, wie sie üblicherweise den (stets komatösen) Kongressen selbst vorausgehen. Das Drama scheint sogar schon begonnen zu haben – gerade jetzt, wo mehrere schwelende politische und wirtschaftliche Probleme in den kommenden Monaten überzukochen drohen. Wenn sich jemals ein Zeitfenster vor dem Kongress für Xis Gegner öffnen sollte, dann könnte ein langer kalter Winter genau der richtige Zeitpunkt sein.
Eines muss zunächst klargestellt werden: Die Wahrscheinlichkeit, dass Xi die Macht verliert, ist äußerst gering. Wenn nicht gerade ein schweres persönliches Gesundheitsproblem auftritt, bräuchte es schon eine epochale Krise in China, damit sich die zahlreichen rivalisierenden Fraktionen zusammenschließen, gegen ihn mobilisieren und ihm die Kontrolle über die zentralen Machthebel der KPC entreißen. Während seiner gesamten Regierungszeit hat Xi mit seinen umfassenden Säuberungsaktionen traditionelle Fraktionen zerschlagen, außerordentlich mächtige Persönlichkeiten und ihre Schützlinge zu Fall gebracht und kritische Patronage-Netzwerke neu konfiguriert, in deren Zentrum er nun selbst steht.
Xi hat die Zentrale Militärkommission und damit die Volksbefreiungsarmee, den wichtigsten Garanten für die Herrschaft der KPC, fest im Griff und hat in letzter Zeit auch in den anderen Sicherheitsdiensten fleißig aufkeimende Fraktionen zerschlagen. Seine Vision der „nationalen Verjüngung“ und sein konsequentes Vorgehen bei der Etablierung Chinas als Großmacht sind dem Vernehmen nach in der Öffentlichkeit sehr beliebt. Außerdem hat die Kommunistische Partei ihre eigene Legitimität wahrscheinlich zu sehr mit dem Personenkult um Xi verknüpft, um nicht mit ihm unterzugehen.
Xis Autorität ist nicht in Stein gemeißelt
Aber selbst wenn seine formale Position kugelsicher erscheint, ist Xis Autorität noch lange nicht in Stein gemeißelt. Alle größeren Machtkämpfe im Vorfeld des Parteikongresses werden sich wahrscheinlich darauf konzentrieren, seine Vorherrschaft auf drei sehr wichtigen Feldern zu schmälern: Klientelismus, Personal und Politik. Doch dies könnte sich als äußerst problematisch erweisen, weil deswegen beispielsweise lähmende Fraktionskämpfe wieder aufleben und zu einer Lähmung bei der Art von Krisen führen könnten, mit denen Peking in den kommenden Monaten womöglich konfrontiert sein wird.
Immerhin wäre Xis bisherige Machtkonsolidierung nicht möglich gewesen, wenn die chinesische Führung nicht erkannt hätte, dass die vor ihr liegenden turbulenten Zeiten einen starken Mann an der Spitze erfordern. Und er hat dieses offensichtliche Mandat gut genutzt, vor allem seit Anfang des Jahres, indem er schmerzhafte und potenziell unpopuläre Reformen durchgesetzt hat, welche vom Technologiesektor bis zur Spielsucht heikle Themen betreffen, vor denen ein weniger gefestigter Führer vielleicht zurückgeschreckt wäre.
Dennoch war eine Gegenreaktion gegen einige dieser Maßnahmen wahrscheinlich unvermeidlich, und in den letzten Monaten gab es eine Reihe von Anzeichen für brodelnde Unzufriedenheit. Um nur einige zu nennen: Die Polizei und andere Sicherheitsdienste werden immer stärker gesäubert. Dazu gehören auch Korruptionsuntersuchungen, die sich gegen Personen richten, die Xi bei dessen Amtsantritt im Jahr 2012 im Zuge der Durchführung seiner rigorosen Anti-Betrugs-Kampagne unterstützt haben. In Verbindung mit bestimmten Maßnahmen, die Xi ergriffen hat, um rücksichtslose Bauträger zu zügeln, deutet dies auch auf einen Riss zwischen Xi und anderen einflussreichen Parteigrößen hin. Am interessantesten ist vielleicht der 72-jährige Vizepräsident Wang Qishan, Xis rechte Hand im Ständigen Ausschuss und Chef der gefürchteten Zentralen Kommission für Disziplinaraufsicht während seiner ersten Amtszeit – eine Figur, deren frühere Aufgaben ihn für den Geschmack eines Diktators vielleicht ein wenig zu mächtig gemacht haben.
Abgleiten in einen Kalten Krieg mit den USA
Es gab auch eine mysteriöse Reihe von Führungswechseln in der chinesischen Armee. So wurde beklagt, dass es Xi nicht gelungen sei, das Abgleiten in einen neuen Kalten Krieg mit den USA, Chinas wichtigstem Wirtschaftspartner, aufzuhalten; ebenso wurde ihm vorgeworfen, Europa und Australien rücksichtslos gegen China aufzubringen. Es gab versteckte Kritik an Xis Führung und an seinen Ambitionen in bekannten Medienkanälen, explizite Kritik von hochrangigen Parteikadern sowie offene Anzeichen eines sich verschärfenden Streits mit Zeng Qinghong, einem ehemaligen Vizepräsidenten, Mitglied des Ständigen Ausschusses des Politbüros und Vertrauten des ehemaligen Präsidenten Jiang Zemin. Die Gefolgsleute des ehemaligen Staatschefs Deng Xiaoping kritisieren nach wie vor, dass Xi von Dengs Kurs der „Reform und Öffnung“ abweicht. Auffallend ist, dass Xi selbst China seit mehr als zwei Jahren nicht mehr verlassen hat – eine vernünftige Entscheidung während einer Pandemie, aber dennoch eine, die als Angst davor interpretiert werden könnte, nicht ins eigene Land zurückgelassen zu werden.
Tatsächlich ist so etwas aber gar nicht völlig außergewöhnlich. Während Xis Regierungszeit hat es von Anfang an immer wiederkehrende Kritik wegen seiner Preisgabe des kollektiven Führungsmodells der KPC gegeben oder daran, dass er einen Personenkult pflegt (der nach Mao streng verboten war). Ebenso kursierten regelmäßig irgendwelche „Hinweise“ darauf, dass sich etwas Großes gegen ihn zusammenbraut. Xi hat bei seinem Streben und der Konsolidierung seiner Macht eine lange Spur von Grausamkeiten hinterlassen, gleichzeitig ist er aber nicht so mächtig, dass kein Feind mehr übrig bliebe. Das alles erscheint derzeit nur etwas wichtiger, weil auf dem Parteikongress wahrscheinlich so viel auf dem Spiel steht und verschiedene Fraktionen in Peking einen Anreiz haben, sich jeden Anflug von Schwäche zunutze zu machen.
Zur Realität gehört auch, dass China an mehreren Fronten heftige Stürme zu gegenwärtigen hat, sowohl im Ausland als auch im Inland. Vor allem zwei davon werden nicht so bald verschwinden. Die eine ist die potenziell explosive Krise im Immobiliensektor, die durch den strauchelnden Immobilienriesen Evergrande verkörpert wird. Peking versucht absichtlich, das massiv verschuldete Unternehmen langsam scheitern zu lassen, um eine Marktpanik und die Gefahr einer Ansteckung einzudämmen. Dies ist ein vernünftiger Ansatz und wahrscheinlich besser, als das Unternehmen entweder zu retten oder es allein seinem Schicksal zu überlassen. Aber es bedeutet auch, dass Evergrande Woche für Woche am Rande der Zahlungsunfähigkeit stehen wird, da eine Rückzahlungsfrist nach der anderen näher rückt. Womit jede Woche die Gefahr besteht, dass Pekings beste Pläne ins Wanken geraten und Evergrandes Probleme sich auf den gesamten Immobiliensektor ausweiten, während die chinesischen Immobilienpreise zum ersten Mal seit Jahren zu fallen beginnen.
Chinas Energieengpass
Die größere Krise, die sich abzeichnet, ist wahrscheinlich Chinas Energieengpass. Für China gibt es, einfach ausgedrückt, keinen schnellen Ausweg, insbesondere angesichts der erschöpften Reserven an thermischer Kohle. (Kohle deckt mehr als die Hälfte des Strombedarfs des Landes.) China kann zwar mehr Kohle importieren; bereits im September stiegen die Einfuhren um 76 Prozent gegenüber dem Vorjahr, als sich Peking darauf konzentrierte, die Importe durch heimische Kohle zu ersetzen. Indonesien ist hier der größte Gewinner. Doch viele Länder, darunter auch Großabnehmer wie Indien (das rund 17 Prozent der weltweiten Kraftwerkskohleexporte abnimmt), sehen sich selbst mit Engpässen konfrontiert, was bedeutet, dass China um den Rohstoff konkurrieren und/oder zu viel dafür bezahlen muss, was die damit einhergehenden Pläne zur Deckelung der Strompreise erschwert.
Außerdem deckt die importierte Kohle noch immer nur einen kleinen Teil des chinesischen Bedarfs ab. Daher ist ein drastischer Anstieg der inländischen Produktion erforderlich. Es ist jedoch unklar, ob die chinesischen Produzenten dieser Aufgabe gewachsen sind. Anfang dieses Monats hat Peking Berichten zufolge die Bergbauunternehmen aufgefordert, bis zum Jahresende täglich bis zu zwölf Millionen Tonnen zu liefern – eine Summe, die ungefähr einem Drittel der durchschnittlichen Jahresproduktion Chinas in den letzten Jahren entspricht. (Der chinesische Stromverbrauch erreicht in der Regel im Januar seinen Höhepunkt.) Viele Bergwerke müssten vor einer Produktionssteigerung rasch expandieren, was das Risiko größerer (und möglicherweise politisch schädlicher) Unfälle erhöht. Peking verlangt von ihnen auch, dass sie die Preise für den Rohstoff niedriger ansetzen. Schätzungen zufolge könnte China ein Engpass im Umfang von 350 bis 400 Millionen Tonnen Kohle drohen.
Viele politische Risiken
Sollte es nicht gelingen, diese Probleme zu lösen, würde damit eine Reihe von politischen Risiken einhergehen. Weitverbreitete Stromausfälle, insbesondere im Winter, wären besonders problematisch, da sich die Erwartungen der chinesischen Öffentlichkeit nicht mehr auf Wohlstand um jeden Preis richten, sondern inzwischen eine umfassendere Sichtweise der Lebensqualität vorherrscht. (Aus diesem Grund werden in Peking Umweltverschmutzung und Industrieunfälle inzwischen als ebenso bedrohlich angesehen wie ein Anstieg der Arbeitslosigkeit.) Weit verbreitete Stilllegungen in der Industrie und im verarbeitenden Gewerbe, sei es aufgrund von Stromausfällen oder parallelen Engpässen bei den Vorräten an Hüttenkohle, würden sich auf die gesamte Wirtschaft auswirken und den Immobiliensektor weiter belasten – und damit direkt die Existenz vieler chinesischer Eliten bedrohen. Darunter auch einige der am höchsten verschuldeten Unternehmen des Landes, wodurch sich die politischen Machtkämpfe darüber verschärfen würden, ob man an Xis nervösen Plänen zur Steuerung des Sektors festhalten sollte. Eine daraus resultierende politische Lähmung käme zum denkbar schlechten Zeitpunkt.
Es ist durchaus vorstellbar, dass Xis Gegner die Gelegenheit nutzen, um seine Politik für die Misere des Immobiliensektors und die damit verbundenen Probleme verantwortlich zu machen – selbst wenn seine Reformen umsichtig waren und dazu dienten, die anhaltende Gefahr einer weitaus schlimmeren Entwicklung zu beseitigen. Ebenso ist es vorstellbar, dass Xis Zwangsmaßnahmen gegen Australien, insbesondere das Verbot der Einfuhr von Kraftwerkskohle aus diesem Land (das 2020 mehr als die Hälfte der chinesischen Importe lieferte), für die Energiekrise verantwortlich gemacht werden. Dass dies tatsächlich ein relativ vernachlässigbarer Grund für Chinas Kohleproblem ist, spielt keine Rolle. In Zeiten extremen Stresses zählt die Stärke eines Narrativs weit mehr als sein Wahrheitsgehalt.
Und wenn sich die Situation in den nächsten Monaten stark verschlechtern sollte, könnte das Narrativ, wonach Xis weitere Herrschaft unvermeidlich ist, am meisten leiden.
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