
- Freiheit stirbt in Stücken
Im Umgang mit Terrorismus fordert der Staat von den Bürgern Gelassenheit und Trotz. Gleichzeitig werden Veranstaltungen aus Angst vor Anschlägen abgesagt, wie jetzt ein Fronleichnam-Zug im Ruhrgebiet. Wenn aber der Staat die Sicherheit delegiert, löst er sich langsam auf, schreibt Alexander Kissler
Kleines Rätsel für die sommerliche Zeit: Was ist das eigentlich, „unsere Art zu leben“? Gehört dazu das Flanieren auf öffentlichen Plätzen, der gefahrlose Gang von A nach B, das gemeinschaftliche Musikhören, Konzertbesuchen, Fleischessen, Tabakrauchen und Weintrinken? Deutschlands Politiker sind sich einig: die vertraute Art, in der Bundesrepublik Deutschland zu leben, dürfe angesichts der „terroristischen Bedrohung“ (Thomas de Maizière) nicht aufgegeben werden. So aber geschieht es. Der Islamismus, ein Feind all dieser Freiheiten, verzeichnet mühelos Terraingewinne. Auch und gerade an Fronleichnam.
Der ehemalige Bundesinnenminister sagt im Juni 2017, „wir dürfen unser Denken und Fühlen nicht von Terroristen beherrschen lassen.“ Gefragt seien „Achtsamkeit im Umgang miteinander und so etwas wie trotzige Gelassenheit im Umgang mit der Gefahr.“ Gelassenheit, die aus Trotz erwächst, einen Trotz, der sich in Gelassenheit äußert, ein Weiter-so-leben-als-wäre-nichts-geschehen und somit Öffentlichkeit als Mutprobe empfiehlt der CDU-Politiker im Einklang mit fast allen Politikern fast aller Parteien. Die Devise laute: Augen zu und durch – und immer an die Toleranz denken, den Respekt, die Zivilcourage. Das heutige Fronleichnamsfest aber und die kommende Fußball-Weltmeisterschaft markieren zwei weitere kleine Schritte hin zur unfreien Angstgesellschaft. „Sicherheitsbedingungen“ besiegen unsere Art zu leben.
Dreifach unerfreulich
Von „erhöhten Sicherheitsbedingungen“ spricht der katholische Pfarrer im nordrhein-westfälischen Bergkamen, wo deshalb die traditionelle Fronleichnamsprozession abgesagt wurde. Die Kirchgemeinde sollte durch „Absperrgitter“ und durch „drei Lkw oder Pkw an neuralgischen Kreuzungen“ Sorge dafür tragen, dass bei ihrem Fronleichnamsumzug kein Auto in die katholische Menschenmenge fahren kann, „für die ganze Zeit der Prozession. Und das war doch eine sehr starke Herausforderung.“ Die Bedingungen „vom Planungsamt der Stadt Bergkamen“ seien kurzfristig nicht zu erfüllen. Fronleichnam wird zur Indoor-Veranstaltung.
Die Nachrichten aus Bergkamen bedeuten dreierlei: Die weltliche Gemeinde ist nicht willens oder nicht fähig, die Sicherheit der örtlichen Katholiken bei Ausübung ihrer Religionsfreiheit zu gewährleisten; der Terror, oft ein islamistischer, macht als Drohung auch vor Bergkamen nicht halt; die kirchliche Gemeinde fügt sich, statt trotzig und gelassen auf ihrem Umzug zu beharren. Christen feiern, beten, singen nun hinter geschlossenen Türen. Der Katholizismus bleibt an diesem Fronleichnam unsichtbar, die Öffentlichkeit wird nicht von christlicher Religion belästigt. Freiheitsfeinde siegen.
Der Staat löst sich schleichend auf
Sicherheitsbedenken führen derweil in Frankreich zur Einschränkung der Public-Viewing-Angebote. Auch hier schwindet der gemeinsame öffentliche Raum. Die Republik leert sich. Nur „in besonders gesicherten Zonen“ dürfen bei der bevorstehenden Fußball-Weltmeisterschaft Spiele auf Großbildleinwänden übertragen werden. Kontrollen, den Prozeduren auf Flughäfen vergleichbar, stehen zwischen dem Fan und seiner Leidenschaft. Insgesamt wird sich dadurch das Angebot verkomplizieren, „aus Sicherheitsgründen“, und das meint auch hier: aus Angst vor gewaltbereiten Muslimen.
Dass eine solche Angst gerechtfertigt sein kann, zeigt nun der Anschlag im belgischen Lüttich. Vier Menschen, darunter zwei Polizistinnen, starben durch die Hand eines Mörders, der mehrfach „Allahu akbar“ rief. Der „Islamische Staat“ reklamiert die Tat für sich. Dennoch sollen wir, die Bürger, uns weiterhin, wie es die Bundeskanzlerin empfiehlt, „die Art, wie wir leben, nicht kaputtmachen“ lassen? Unverändert dürfen wir uns, wie Angela Merkel rät, nicht „von unserem Weg abbringen lassen, von unserer Art zu leben“? Ein Staat, der die Sicherheit im öffentlichen Raum nur begrenzt und punktuell und manchmal gar nicht garantieren kann, löst sich schleichend auf. Eine Exekutive, die die Organisation öffentlicher Sicherheit an die Bürger delegiert, exekutiert ihr eigenes Versagen. Wer „an unserem freiheitlichen System (…) nichts ändern“ will (Thomas de Maizière), der muss es verteidigen. Alles andere ist keine Art.