
- „Man könnte es auch als Eiertanz bezeichnen“
Seit Beginn der Corona-Pandemie berät Maximilian Mayer die Bundesregierung hinsichtlich ihrer Corona-Strategie. Der Asien-Experte kritisiert das Auf-Sicht-Fahren der Bundeskanzlerin und fordert einen dramatischen Strategie-Wechsel. Ein Gespräch darüber, wie es auch anders gehen könnte.
Maximilian Mayer ist Junior-Professor für Internationale Beziehungen und globale Technologiepolitik am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn.
Herr Mayer, Sie beraten die Bundesregierung seit Beginn der Pandemie. Was ist hierbei Ihre Expertise?
Im Februar wurde ich angefragt vom Bundesinnenministerium, um als Asien-Wissenschaftler unter anderem darüber berichten, was in den dortigen Ländern passiert während der Corona-Pandemie. Aus dieser Beratung ist dann schnell eine größere, interdisziplinäre Plattform entstanden, bei der Wissenschaftler aus ganz unterschiedlichen Bereichen zusammengefunden haben, um Input zu geben. Ich konnte berichten, welche konkrete Maßnahmen die asiatischen Länder getroffen haben, welche Infrastrukturen genutzt wurden, welche Vorbereitungen es gab, welche Kommunikationsformen und welche politischen Narrative angewendet wurden. Es war wichtig zu verstehen: Was sind dort die grundsätzlichen strategischen Entscheidungen, die getroffen wurden, um mit der Pandemie umzugehen?
Aber gerade von politischer Seite heißt es immer wieder, das seien andere Systeme und andere geographische Bedingungen. Taiwan ist eine Insel. Japan auch. China ist eine Diktatur. Gibt es überhaupt Interesse von Regierungsseite, einzelne Strategien-Elemente zu übernehmen?
Interesse gab es natürlich. Aber es gab relativ früh die Annahme, dass es eigentlich nicht so relevant ist, was da passiert aus den von Ihnen genannten Gründen. Wiederholt betont wurden die geographische Lage, das politische System oder kulturalistische Argumente, dass dort eben alles ganz anders funktionieren würde. Im Grunde wurde kein systematischer Versuch unternommen, sich alles genauer anzusehen. Wie machen das Länder wie Australien oder Neuseeland, aber auch Vietnam, Thailand oder die Mongolei? Natürlich gibt es große Unterschiede, und niemand möchte Blaupausen einfach übertragen. Aber das pauschale Argument: Naja, es sind Inseln, ist Unsinn. Taiwan etwa ist per Flugverkehr extrem eng verbunden mit Festlandchina, mit Hongkong, mit vielen anderen Ländern in Asien. Soweit ich weiß, gibt es bis heute keine systematische Auseinandersetzung mit Entscheidungsträgern, Epidemiologen oder der Wissenschaftscommunity in diesen Regionen.
Hat die Regierung trotzdem dazugelernt und wenn ja, was?
Man hat auf jeden Fall dazugelernt. Allein, weil unser Wissen über das Virus enorm gewachsen ist, weil die Testverfahren viel besser geworden sind und weil man versucht hat, aus Fehlern zu lernen. Aber wir haben nicht die grundsätzliche Strategie verändert. Die Bundesregierung hält an der „Auf-Sicht-fahren-Strategie” fest. Deren Ziel ist es, die Krankenhäuser nicht zu überlasten. Und wir wollen zu hohe Todeszahlen vermeiden.

Ist das denn verkehrt?
Aus dieser Strategie lassen sich sehr schwer einfache und klar verständliche Maßnahmen ableiten. Wie sich gezeigt hat, lässt sich etwa der Wert der 7-Tage-Inzidenz schwer in klare Maßnahmen übersetzen. Die Kanzlerin nennt es auf Sicht fahren, man könnte es auch als Eiertanz bezeichnen. Hier haben wir nichts dazugelernt, und was die wichtige Zusammenarbeit zwischen den Ressorts angeht, so hat man sich sogar zurückentwickelt seit Frühling. Damals gab es eine kurze Phase, in der man über die Ressortgrenzen hinweg sehr gut versucht hat, Probleme zu lösen. Jetzt gibt es wieder Grabenkämpfe zwischen verschiedenen Ministerien, Kommunikationshürden und so weiter. Hinzu kommt die Subsidiarität unseres föderalen Systems. Alle Abläufe im Gesundheitssystem sind extrem zersplittert und zergliedert. Dem Gesundheitsminister fehlen Zugriffsrechte. Durch die Notwendigkeit von Koordination verlieren wir viel Zeit. Es läuft routinierter als noch am Anfang der Pandemie, aber es bleibt schwierig und ist definitiv viel zu langsam.
Was wäre die Alternative zu diesem Auf-Sicht-Fahren?
Wenn man davon ausgeht, dass wir die Massenimpfung bis zum Jahresende 2021 abgeschlossen haben, dann ist wohl ein großer Teil der Bevölkerung noch in den Herbst hinein noch immer immunologisch naiv. Das heißt, bis dahin könnte es zu weiteren Wellen kommen, weitere Lockdowns würden notwendig. Darum müsste man eigentlich hin zu einer konsequenten Eliminierungsstrategie.