
- Die Methode Merkel sprengt das System
Das „Bayern-Beben“ blieb aus. Merkel-Bashing ist zwar auch nach dieser Landtagswahl immer noch en vogue. Dabei verdanken es CSU und CDU ausgerechnet der Bundeskanzlerin, dass die Union ihren Platz als Volkspartei in einer zersplitterten Parteienlandschaft behaupten kann
Wer kann sich an eine Landtagswahl erinnern, die bundesweit soviel Aufmerksamkeit erfahren hätte wie diese Bayernwahl? Seit Monaten präsentierte die Demoskopie immer spektakulärere Zahlen, Politiker gaben zunehmend schrillere Statements ab und Journalisten fanden von Mal zu Mal dramatischere Adjektive, um antizipierte Tragödien und Triumphe zu beschreiben. Nun, da sich der Pulverdampf des Wahlkampfes verzogen hat, ist das Ergebnis etwas nüchterner, dennoch aber äußerst außergewöhnlich. Die Grünen haben einen fulminanten Wahlkampf abgeliefert, sie hatten zweifellos das Momentum auf ihrer Seite. Trotzdem: Ihre demoskopischen Höchsttaxierungen haben sie nicht ganz erreicht.
Die Freunde der Partei machen zwar einen linksliberalen Ruck aus und postulieren den Sieg der Weltoffenheit und progressiver Positionen. Aber dem Jubel fehlt es etwas an Substanz. Das beweist ein Blick auf die Werte des linken Spektrums, repräsentiert von Rot-Rot-Grün, bei der Landtagswahl 2013: Damals hatte dieses progressive Idealbündnis 31,3 Prozent. 2018 sind es etwas weniger, nämlich 30,4 Prozent. Der grüne Erfolg wird folglich begleitet von einem Desaster für die politisch nächsten Verwandten. Das schmälert nicht die Tatsache, dass die Grünen einen großen Sieg eingefahren haben. Aber ein „Wendepunkt“, „historisch“, „eine Zäsur“ ist das nicht, weil eben nur die Hegemonie mitte-links gewechselt hat. Das aber ist in Baden-Württemberg, Thüringen und anderswo längst der Fall. Die Größe der politischen Lager dagegen ist statisch. Es wird in linksliberalen Kreisen also eher aus Vorfreude heraus gejubelt, weniger um des Ergebnisses wegen.
Die CSU ist immer noch Volkspartei
Ähnlich, aber unter umgekehrten Vorzeichen, ist der Befund bei der CSU. Da hatten Untergangsphantasien die Runde gemacht, es wurde das Ende als bayerische Volks- und Staatspartei beschworen. Jene, die der Partei schon immer in besonderer Abneigung verbunden waren, freuten sich besonders laut und hatten schon den Sekt kaltgestellt. Und in der Tat, die 37,2 Prozent, die die CSU eingefahren hat, bedeuten 10,5 Prozent Verlust und schmerzen die Christsozialen sehr. Dieses Ergebnis wird mit Sicherheit auch personelle Folgen haben und die Partei als ein Trauma durch die nächste Legislaturperiode begleiten.
Die CSU ist aber immer noch Volkspartei. Denn die Verluste sehen durch die höhere Wahlbeteiligung brutaler aus, als sie sind. Der Verlust an Wählern, die 2013 ihr Kreuz bei der Partei gemacht haben, ist vergleichsweise weniger groß: Waren es 2013 5,6 Millionen, votierten 2018 immerhin noch über fünf Millionen für die CSU. Das sind alarmierende Zahlen, deretwegen aber das Todesglöckchen als Volkspartei nicht geläutet werden muss. Wer weiß, wie die Rivalen 2023 ihre potentielle Wählerschaft mobilisieren können, wie die ökonomischen Rahmenbedingungen aussehen, ob es dann den berühmten „Rückenwind aus Berlin“ gibt und ob die CSU die vielen Fehler dieses Wahlkampfes vermeiden kann.
War die CSU zu rechtspopulistisch?
Davon abhängig ist vom jetzigen Punkt aus der weitere Abstieg ebenso denkbar wie der erneute Aufstieg. Unterstrichen wird der Eindruck, dass das Wahlergebnis keine neue Epoche für Bayern einläutet, durch die Tatsache, dass nach den Grünen mit den Freien Wählern eine Partei den dritten Platz erreicht, die gern als „Bauernverband der CSU“ geschmäht wird. Eine Abstrafung für die CSU, weil sie „zu rechtspopulistisch“ sei, ist das ganz sicher nicht. Dass die AfD zwar kein sensationelles, gleichwohl doch solides Ergebnis erzielt hat, widerlegt die Thesen, die CSU habe entweder zu wenig gegen Merkel aufbegehrt oder aber durch „Parolen“ die Rechtsaußen erst stark gemacht. Vielmehr zeigt das unter dem Bundestrend liegende Resultat, dass das Wachstum der AfD durch ein breites Angebot konservativer Politik gedämpft wird.
Soviel zur Momentaufnahme. Was aber lässt sich aus den Ergebnissen des Wahlsonntags schließen? Für den Bund sind die Folgen mutmaßlich nämlich sehr viel dramatischer als in Bayern:
Zunächst einmal ist festzustellen, dass die Merkelsche Sozialdemokratisierung der Union einen sehr hohen Preis hat – sich aber aus Sicht der Merkelianer auch auszahlt. Gerade mit Letzterem haben die innerparteilichen Großkritiker der Kanzlerin ja eigentlich nicht gerechnet.
Ein Abo auf Regierungsbeteiligung
Fest steht aber: Eine Regierung gegen die Union ist in Bayern nicht möglich. Genau wie im Bund also oder zuletzt in Niedersachsen und Schleswig-Holstein, im traditionell eher rötlichen Norden. Die Schwarzen haben in der komplizierten Gemengelage des neuen Parteiensystems somit quasi ein Abo auf eine Regierungsbeteiligung, vielerorts sogar auf die Regierungsführung. Obwohl also außerhalb Bayerns ein Drittel der Wähler, auf die die Schwesterparteien zu Zeiten Kohls verlässlich bauen konnten, verschwand, ist der für die pragmatischen Christdemokraten konstitutive Zugang zur Macht sicherer geworden. Viele von ihnen wertschätzen das höher, als mit über vierzig Prozent in die Opposition gehen zu müssen, wie es im alten Drei- und Vierparteiensystem gar nicht so selten vorkam.
Mag mancher Konservative auch betrauern, dass viele vormalige Anhänger aus dem rechteren Teil des Wählerspektrums der Union von der Fahne gegangen sind, so sind diese zum Teil doch durch neue Wähler aus dem Mitte-Links-Bereich ersetzt worden. Mit dieser Verschiebung in der Unionswählerbasis verändert sich auch die Partei selbst. Dass sich angesichts der durchgehend mauen Wahlergebnisse der späten Merkeljahre, die im Vergleich mit den sechs Jahrzehnten davor fast immer Negativrekorde darstellen, eine neue „Stahlhelmfraktion“ herausbildet, ist höchst zweifelhaft. Zwar hoffen die düpierten und marginalisierten Konservativen in der Union jetzt auf ein bundesrepublikanisches Pendant zu Österreichs Kanzler Sebastian Kurz, der ja auch Ehrengast bei Söders Wahlkampffinale war. „Zu meiner Abschlusskundgebung kommt keine Kanzlerin, sondern ein Kanzler“, wie der Bayer genüsslich betonte, bevor die Umfragewerte auf Talfahrt gingen.
Merkels epochaler Kraftakt
Der Politologe Albrecht von Lucke vermutet, dass das Modell Volkspartei in Deutschland nicht tot ist, aber nur eine einzige von ihnen in Deutschland überleben wird. Es braucht keine prophetischen Gaben, zu erraten, welche das sein wird. Die Union hat sich seit der Jahrtausendwende Rot-Grün soweit anverwandelt, dass sie sich einen Teil davon einverleiben kann und an den Rest anschlussfähig ist. Damit wurde erfolgreich die einzig je existente, rein linke Mehrheit in der Geschichte der Bundesrepublik gesprengt: Die rot-grüne Koalition von 1998 wird auf sehr lange Sicht nicht wiederkehren.
Ebenso wenig aber auch 40 Prozent „+x“ für die Union. Angela Merkels epochaler Kraftakt, die politische Positionierung der Staatspartei irreversibel verrückt zu haben, ist eben nicht nur eine beeindruckende politische Kühnheit, die ihr 2005 niemand zugetraut hätte. Sondern auch eine brutale Zäsur. Denn, auch das zeigen die jüngsten Wahlergebnisse, die einst ermüdend stabilen politischen Verhältnisse der Bundesrepublik sind dadurch mehr „zum Tanzen gebracht“ worden, als es alle linken Spontis je vermocht haben.
Das Vorbild der Kretschmann-Grünen
Die ehemalige Volkspartei SPD, sie liegt in Trümmern. Die einstige proletarische und prekär beschäftigte Stammwählerschaft ist entfremdet. Exzessive politische Korrektheit, folgenloses Maulheldentum und die Agenda 2010 haben diese Wählergruppe in die Arme von AfD und Linkspartei getrieben. Die SPD weiß wohl um dieses Problem, aber die Dogmatiker aus der mittleren Funktionärsebene töten durch innerparteilichen Druck jedweden realpolitischen Vorstoß. Die Bemühungen der Pragmatiker, die Agendapolitik zu korrigieren, ohne sie aufzugeben, verpuffen beim Wähler. Schließlich steht die Konkurrenz von der Linken immer bereit, bei den Verheißungen noch einmal draufzusatteln.
Die Grünen müssen gleichwohl feststellen, dass viele Menschen es zwar als sozial erwünschtes Verhalten betrachten, sich zu dieser Partei zu bekennen. Ein Teil von ihnen zieht aber in der Anonymität der Wahlkabine letztlich doch pragmatischere Entscheidungen vor. So kann die Partei in Bayern zwar erhebliche Stimmenanteile von der SPD erben. Vom Niedergang der CSU hat das linke Lager, anders als in Baden-Württemberg mit der CDU, aber nicht profitiert. Der vor der Wahl angesichts des Umfragehochs zur Schau gestellte Fundamentalismus in der Migrationsfrage und ihren Annexen haben ein dammbruchartiges Ausgreifen ins bürgerliche Lager verhindert – obwohl die Chance da gewesen wäre. Wer in der Mitte reüssieren möchte, muss auch wirklich eine Politik der Mitte machen und darf das nicht nur behaupten. In dieser Disziplin sind die Kretschmann-Grünen den bayerischen und Bundesgrünen weit überlegen.
Wohin marschiert die AfD?
Die AfD befindet sich am Scheideweg. Leider gibt es angesichts vieler Unappetitlichkeiten in ihrem Dunstkreis die Tendenz, der Partei einen quasi immerwährenden Rechtsruck, ein fortwährendes Abdriften in den Extremismus und folglich ihr baldiges Ende zu prophezeien. Hier ist aber der Wunsch Vater des Gedankens. Die Hoffnung auf ein Verschwinden der Partei sollte nicht dazu führen, dass auf eine differenzierte Analyse verzichtet wird. Ein Blick zu den west- und nordeuropäischen Nachbarn zeigt, dass rechtspopulistische Parteien nicht zwingend den Pfad zum Rechtsextremismus und ins Sektierertum nehmen.
Oftmals zu beobachten ist auch eine gewisse Mäßigung, die dauerhaft größere Wählerschichten erschließt oder sogar ins Mitregieren mündet. Beispiele hierfür sind unter anderem in Norwegen, Dänemark oder der Schweiz zu finden. Dort wurde der Narrensaum der äußersten Rechten gezähmt, und fundamentalistische Positionen sind so weit abgeräumt worden, dass die Parteien zwar nicht salon-, aber politikfähig geworden sind. Auch für die AfD ist diese Entwicklung nicht ausgeschlossen: In jüngerer Zeit gab es nicht nur zahlreiche Skandale mit rechtsextremer Grundierung, sondern auch Ausschlüsse, Rücktritte und Abmilderung randständiger Positionen. Ebenfalls hat die Angst vor einer Beobachtung durch den Verfassungsschutz einige Bewegung gebracht. Welche Richtung sich in der AfD durchsetzt, ist derzeit offen. Sollten es die Extremen sein, wäre das für die AfD der Marsch in die Bedeutungslosigkeit.
Abschied vom Parteiensystem der „Berliner Republik“
Welche Schlüsse lässt die Bayernwahl nun also für die Union zu? Die CSU hat weniger nach links verloren als nach rechts. AfD, FDP und Freie Wähler konnten alle zulegen – zulasten der CSU. Die Lieblingsthese von Angela Merkels Getreuen, es müsse sich in Richtung Grüne bewegt werden, ist also widerlegt. Damit hat sich die Union zwar unverzichtbar für die Bildung regierungsfähiger Mehrheiten gemacht, unterm Strich aber verloren und neuen Rivalen den Zugang zum Spielfeld geöffnet. Nach dem Bonner Parteiensystem ist jetzt auch das Parteiensystem der „Berliner Republik“ dahingeschieden. Die Erschütterungen werden weitergehen. Bald schon in Hessen, im nächsten Jahr in Sachsen, Brandenburg und bei der Europawahl. Mit taktischen Erfolgen der Schwarzen ist zu rechnen, strategisch aber haben sie sich einen Bärendienst erwiesen.
Die nächste Dekade gehört den bunten x-Parteien-Koalitionen und den koalitionären Tabubrüchen. Politik in Deutschland wird volatiler und unberechenbarer. Angela Merkel aber hat ihr Erbe gesichert: Um unter diesen Umständen regieren zu können, wird die Union ähnlich wendige und inhaltlich geschmeidige Spitzenkandidaten haben müssen. Ihre Kanzlerschaft mag im Abendrot liegen, ihre politische Verortung respektive Nichtverortung wird jedenfalls von der Morgenröte beschienen.
Der Siegeszug der Merkelianer
Ein Beleg hierfür sind auch die jüngsten Veränderungen in der Bundestagsfraktion: Der Fraktionsvorsitzende Kauder wurde dort zwar gestürzt, aber nicht von einem empörten Exponenten eines angeblichen Rechtsrucks, sondern mit Ralph Brinkhaus von einem relativ harmlosen Herausforderer, der politisch ganz ausgezeichnet zu Merkel passt und dies auch alle Welt wissen lässt. Bei der Wahl des Stellvertreters hat sich dann mit Andreas Jung schon wieder jemand durchgesetzt, der auch personalpolitisch ein echter Merkelianer ist. Die Epoche konservativer Gralshüter in der Christdemokratie ist damit endgültig vorbei, vielleicht mit Ausnahme der CSU, wo das letzte Glimmen der traditionellen Union noch nicht ganz verloschen ist, aber nur noch schwach schimmert.