
- Merkels undurchdachte Aussagen verschlimmern die Situation
Mit ihren teils sich selbst widersprechenden Aussagen verfehlt Kanzlerin Merkel ihr Ziel, die Bürger zu verantwortungsvoller Mitarbeit zu motivieren. Stattdessen verursacht sie in der Bevölkerung fatalistische Resignation und Egoismus.
Bundeskanzlerin Merkel ist nicht bekannt für rhetorische Glanzleistungen. Ihre Pressekonferenzen zur Coronavirus-Pandemie erschöpften sich weitgehend in Allgemeinplätzen: „Wir werden das Notwendige, das Menschenmögliche tun. Wir haben seit Januar darüber geredet. Wir müssen Prioritäten setzen.“ Zuhörer hätten natürlich gerne gewusst, was bei den Gespräche herausgekommen ist oder welche Prioritäten wo von wem gesetzt werden.
Weshalb emphatisch fordern, wir dürften uns in Europa nicht abschotten, wenn Italien und Österreich dies gerade tun und selbst Deutschland dies drei Tage später tun wird? Vor fünf Jahren hieß es, Grenzen ließen sich nicht wegen ankommender Flüchtlinge schließen. Heute werden sie trotz EU-Freizügigkeit hermetisch abgeriegelt - nur Berufspendler und Waren dürfen passieren. Der Sprecherin kam es nicht in den Sinn, in einer Pandemie-Krise könnten das Notwendige und das Menschenmögliche auseinander klaffen. Was tun im Dilemma, zu wenige Ressourcen auf zu viele Bedürftige zu verteilen? Wer soll dann gerettet werden, wer ohne Hilfe gelassen bleiben? Wer trifft diese Entscheidung - und nach welchen Kriterien?
Pro Monat fünf Millionen Erkrankte
Merkel ist an zwei Stellen konkret geworden. Sie kündigte an, 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung werde an dem Virus erkranken. Und sie wiederholte, das Gesundheitssystem dürfe nicht überlastet werden.
Brechen wir diese Aussagen herunter: 60 bis 70 Prozent von 83 Millionen bedeuten 50 bis 58 Millionen Infektionen. Die Bundeskanzlerin hat keinen Zeitraum für ihre Vorhersage angegeben. Die meisten Virologen rechnen mit dem Höhepunkt der Infektionen im Sommer. So muss der Zuhörer annehmen, dass sich die Zahlen auf diesen Zeitraum beziehen. Bis August wäre demnach mit über 25 Millionen Erkrankungen zu rechnen, und danach bis zum Jahresende nochmals mit weiteren 25 Millionen. Das bedeutet, dass pro Monat fünf Millionen erkranken, auf dem Höhepunkt der Ausbreitung vermutlich bis zu 15 Millionen.
Frühe und rigide Maßnahmen
Bisherige statistische Erfahrungen belegen, dass etwa 20 Prozent der Erkrankten stationär behandelt werden, fünf Prozent auf die Intensivstation müssen und ein Prozent beatmet werden müssen. Die Sterblichkeitsrate schwankt zwischen 0,2 Prozent (bisher in Deutschland) und über 6 Prozent (Italien). Erfahrungen aus China belegen, dass die Infektionsrate und damit die Sterblichkeit davon abhängt, wie früh und rigide Maßnahmen zur strikter Isolation getroffen werden. Taiwan, Hongkong und Singapur sind engstens mit China verflochten, haben aber bisher am erfolgreichsten die Ausbreitung der Ansteckungen begrenzt. Taiwan zählt bei über 23 Millionen Einwohnern nur 53 nachgewiesen Fälle. Auf Deutschland übertragen entspräche das 200 Fällen. Tatsächlich haben wir weit über 5.000.
Die Zahl von fünf Millionen Erkrankten pro Monat in Deutschland bedeutet, dass mindestens 10.000 Menschen sterben werden (0,2 Prozent); bei 25 Millionen sind es 50.000. Legt man italienische sechs Prozent zugrunde, wären es 300.000 beziehungsweise 1,5 Millionen. Das bedeutet, dass selbst im besten Fall jeden Monat mindestens eine Million Betten benötigt werden. 250.000 müssten intensiv behandelt werden, 5.000 benötigten Beatmung. In Deutschland sind etwa 500.000 Krankenhausbetten und 30.000 Plätze auf Intensivstationen vorhanden. Dies macht klar: Das Gesundheitssystem in seinen heutigen Dimensionen wird überfordert, sollten die Zahlen stimmen, die Frau Merkel so nonchalant genannt hat. Wenn die Zahlen der Kanzlerin stimmten, müsste China mit einer Milliarde Kranken rechnen. Gegenwärtig sind es knapp 100.000 - und die Zahl der Neuinfektionen sinkt.