
- „Es gab eine Logik in dem Wahnsinn“
Im NSU-Prozess ist Beate Zschäpe zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Doch der Fall ist damit noch längst nicht aufgeklärt, sagt der Journalist Stefan Aust. Und zwar auch, weil Spuren von staatlichen Stellen beseitigt wurden
Herr Aust, Frau Zschäpe ist zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Das Gericht hat zudem die besondere Schwere der Schuld festgestellt. Finden Sie das Urteil gerecht?
Ich kann die Entscheidung des Gerichts nachvollziehen. Es wäre mir deutlich lieber gewesen, wenn Frau Zschäpe eine vollständige Aussage gemacht hätte. Ich glaube, dieses Urteil ist auch die Quittung dafür, dass sie das nicht getan und nicht an der Aufklärung dieser schrecklichen Verbrechensserie mitgewirkt hat.
Dieser Prozess hat sich fünf Jahre lang hingezogen. Er füllt inzwischen über 600 Aktenordner. 540 Zeugen und 54 Sachverständige wurden gehört. Trotzdem gibt es kaum Beweise gegen die Hauptangeklagte. Worauf hat das Gericht das Urteil „lebenslänglich“ gestützt?
Obwohl Beate Zschäpe an keinem der Tatorte war und ihr keine direkte Beteiligung an den Morden nachgewiesen werden konnte, war sie doch ein fester Bestandteil eines terroristischen Netzwerk, das Morde und Sprengstoffanschläge verübte. Sie wusste von den Morden, auch wenn sie immer erst im Nachhinein davon erfahren haben will. Auf dieser Grundlage ist das Gericht wohl von einer Mittäterschaft ausgegangen. Aber das lässt sich abschließend erst beurteilen, wenn das Urteil in schriftlicher Form vorliegt.
Zschäpes Anwälte haben bereits Revision angekündigt. Eine peinliche Blamage für das Gericht, oder?
Es ist zu früh, darüber etwas Verlässliches zu sagen. Eine Revision ist keine Berufung. Sie kann auch abgelehnt werden. Wenn sie zugelassen wird, müsste allerdings das gesamte Verfahren noch einmal neu durchgezogen werden. Ich kann mir das nur schwer vorstellen.
Bevor der Prozess angefangen hat, gab es schon viele Ungereimtheiten. Da wurden Akten geschreddert und Spuren an Tatorten beseitigt Sind das nicht alles Bedingungen, die dem Gericht die Arbeit massiv erschwert haben?
Das Gericht hatte die Aufgabe, ein Urteil zu sprechen über die, die vor Gericht standen, über Frau Zschäpe und vier mutmaßliche Mittäter. Es ging nicht darum, den Fall insgesamt aufzuklären. Es gab in der Tat schon sehr viele Punkte im Vorfeld, die es dem Gericht nicht gerade einfach gemacht haben. Der wichtigste war, dass Frau Zschäpe vorher keine relevanten Aussagen gemacht hatte. Dazu kommt, dass auch das Bundesamt für Verfassungsschutz nicht alles getan hatte, um den Fall aufzuklären.
Neun von zehn Opfern hatten einen Migrationshintergrund. Das hat dazu geführt, dass die Polize lange in die falsche Richtung ermittelt hat – nämlich in die Richtung organisierter Kriminalität. Kritiker sprechen von institutionalisiertem Rassismus. Hat dieser Punkt die Arbeit des Gerichtes auch erschwert?
Nein, das glaube ich nicht. Viel entscheidender finde ich, dass erkennbar verdrängt worden ist, was sich bei manchen dieser Fälle schon früh als Verdacht aufdrängte – vor allem bei dem Nagelbombenattentat 2004 in Köln.
Nämlich?
Dass die Täter aus der rechten Szene kommen müssen. Das hat man verdrängt.
Warum?
Vielleicht, weil man nicht genügend Anhaltspunkte hatte. Ich bin kein Ermittler. Aber es gab ja nicht nur Zeugen, die gesagt haben, das waren rechte Täter. Auch das Bundesamt für Verfassungsschutz hat sich in die Ermittlungen eingeschaltet. Es gab sogar Anhaltspunkte dafür, dass dieser Nagelbombenanschlag verdächtige Ähnlichkeiten mit einem rechten Nagelbombenanschlag in London hatte. Spätestens da hätten die Ermittler erkennen können, dass sie mal in die rechte Ecke sehen müssen.
Es ist schwer vorstellbar, dass es nur drei Täter gewesen sein sollen, die diese Mordserie akribisch geplant und durchgeführt haben. Was glauben Sie, wer hat die unterstützt?
Man darf nicht von drei Tätern reden. Wie gesagt, Frau Zschäpe ist an keinem Tatort gewesen. Und die Beweise dafür, dass Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos an den Tatorten waren, sind auch nicht besonders stark. Mir hat mal einer der Ermittler gesagt, wenn die beiden Uwes noch am Leben wären, wäre es gar nicht so einfach, ihnen nachzuweisen, dass sie in jedem Fall am Tatort gewesen sein sollen. Es gibt zum Beispiel keine DNA-Spuren – bis auf den Fall des Mordes der Polizistin Michèle Kiesewetter, wo an einer Jogginghose sowohl Spuren von DNA von Mundlos als auch Blutspuren der erschossenen Polizistin waren.
Waren die Täter zu schlau, um Spuren zu hinterlassen?
Das klingt mir zu sehr nach Lob. Sie sind sehr systematisch vorgegangen, um nicht zu sagen, sehr professionell. Es ist aber nicht einmal klar, ob sie alle diese Morde allein begangen haben – und falls doch, ob es nicht Mittäter gab.
Wer soll ihnen denn geholfen haben?
Ich gehe davon aus, dass es Mitglieder ihres rechten Netzwerkes waren. Der NSU ist ja entstanden aus dem Thüringer Heimatschutz (Anm. der Red.: die wichtigste neonazistische Vereinigung in Thüringen). Es gab sicher auch Leute aus dem Umfeld von Blood & Honour (Anm. der Red.: Eine Nazi-Gruppierung, das seit 2000 verboten ist in Deutschland), die bereit und in der Lage gewesen wären, Morde zu begehen. Es ist ja so, dass die Bundesanwaltschaft parallel zu dem Verfahren in München noch ein weiteres Ermittlungsverfahren wegen Mordes gegen Unbekannt in diesem Umfeld laufen hat. Personen, gegen die dabei ermittelt wird, mussten deshalb nicht als Zeugen im NSU-Prozess aussagen.

Wie ist dort der Stand?
Die Ermittlungen sind noch nicht zu Ende. Es kann aber sein, dass die Bundesanwaltschaft irgendwann Anklage gegen andere Personen erhebt, denen sie eine Mitwirkung an den NSU-Morden zur Last legt.
Es gibt Aussagen von Polizeibeamten, die sagen, der Verfassungsschutz hätte ihre Ermittlungen systematisch behindert. Welches Interesse hatte der Verfassungsschutz, die Täter zu schützen?
Wenn man von dem Verfassungsschutz spricht, klingt das immer so, als sei das von oben angeordnet worden. Das glaube ich nicht. Aber die Vorgehensweise von Nachrichtendiensten in einer solchen Szene besteht ja immer darin, dass man sich V-Leute sucht, die dazugehören. Das ist dem Thüringer Verfassungsschutz und auch dem Bundesamt in erstaunlich vielen Fällen gelungen. Schon der Gründer des Heimatschutzes Thüringen, Tino Brandt, war ja ein vom Landesamt für Verfassungsschutz bezahlter V-Mann. Das Interesse des Verfassungsschutzes besteht ja immer darin, möglichst viel zu erfahren. Aber in dem Moment, in dem man den Fall an die Polizei übergibt, sind die Quellen weg. Um das zu vermeiden, werden V-Leute auch oft vor polizeilichen Ermittlungen geschützt. Das ist problematisch, aber in diesem Umfeld nicht selten.
Tino Brandt soll für seine Tätigkeit in den neunziger Jahren über die Jahre 200-000 D-Mark vom Verfassungsschutz kassiert haben. Er hat in einem Interview mit Ihnen gesagt, er habe damit seine politische Arbeit finanziert, zum Beispiel seine horrenden Handykosten. Kann man sagen: Der Verfassungsschutz hat das Monster NSU selber genährt?
Vielleicht nicht das Monster NSU, aber zumindest seinen Vorläufer, den Heimatschutz Thüringen. Wenn man sich in die Logik dieses Wahnsinns begibt, ist das Kalkül natürlich auch gar nicht so abwegig, dass man sagt: „Wir müssen unsere Leute in der Organisationsstruktur haben – und zwar am besten so, dass wir schon den Aufbau beobachten können. Was passiert, wird sowieso passieren. Und dann ist es besser, wenn es mit unserem Wissen passiert und wir nah dran sind und im Notfall die Polizei einschalten. Dass das eine heikle und auch sehr gefährliche Vorgehensweise ist, liegt auf der Hand.
Ist es möglich, dass Mitarbeiter des Verfassungsschutzes im Fall des NSU aus der Mitwisser- in die Mittäterrolle gerutscht sind? In Kassel, wo am 6. April der Türke Halit Yozgat in seinem Internet-Café erschossen wurde, hielt sich zum Zeitpunkt der Tat ein hauptamtlicher Mitarbeiter des Verfassungsschutzes auf, der weder etwas gesehen noch gehört haben will.
Das ist einer Vorgänge, die trotz der Bemühungen des Gerichtes nicht aufgeklärt worden sind. Wenn Sie meine persönliche Meinung dazu hören wollen: Ich glaube nicht, dass der Mann zum NSU gehörte und an dem Mord beteiligt war. Ich glaube aber auch nicht, dass er zufällig dort gewesen ist.
Sondern?
Das Bundeskriminalamt hatte sich an den hessischen Verfassungsschutz gewandt und um Hilfe bei der Aufklärung gebeten. Und dann hat die Vorgesetzte dieses Mitarbeiters ein Papier vom BKA über die Mordserie bekommen, das sie an ihre V-Mannführer weitergegeben und diesen aufgefordert hat, dass sich deren V-Männer in der rechten Szene umhören sollten, was man da so über diese Mordserie redet. Dass einer dieser V-Mannführer dann wenige Wochen später ausgerechnet bei einem Mord dabei ist ...
...aber genau das sind so viele Zufälle ....
... die man eigentlich nicht mehr glauben kann, das stimmt. Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass er dienstlich dort war. Der Polizei, die dort ermittelte, hat er aber nicht die Wahrheit gesagt. Hätte er das getan, hätte er seine Informationen vor der Polizei ausbreiten müssen. Das war ihm und seinen Vorgesetzten vielleicht zu heikel. Immerhin war die Serie damals ja nicht aufgeklärt und Böhnhardt und Mundlos lebten ja noch.
Die Anwälte der Nebenkläger haben immer wieder kritisiert, dass das Gericht Fragen zur Rolle des Verfassungsschutzes aus dem Prozess herausgehalten hat. Die Bundesanwaltschaft hat gesagt, die juristische Aufarbeitung der Morde sei das eine, der politische Hintergrund sei das andere. Kann man das eine überhaupt sauber vom anderen trennen?
Das hat das Gericht ja erkennbar versucht. Es hat nicht vorrangig versucht, die politischen Hintergründe aufzuklären. Wahrscheinlich gar nicht zu Unrecht. Wenn die Richter noch versucht hätten, aufzuklären, was elf Untersuchungsausschüsse nur unzureichend geschafft haben, dann hätte der Prozesse wahrscheinlich noch zehn Jahre gedauert.
Was haben denn die Untersuchungsausschüsse gebracht?
Schon der erste Untersuchungsausschuss im Bund und der Untersuchungsausschuss in Thüringen haben sehr viele Informationen ans Tageslicht gefördert. Die Abgeordneten haben Behördenvertreter angehört und diese auch ziemlich gegrillt. Für das Buch „Heimatschutz“, das Dirk Laabs und ich über den NSU-Komplex geschrieben haben, haben wir uns sehr auf die Erkenntnisse der Ausschüsse und der Ermittler gestützt.
Fällt Ihnen ein Beispiel ein?
Man hat jetzt eine Idee, was etwa im Kopf des Verfassungsschützers vorging, der Akten der V-Männer hat schreddern lassen. In einer Anhörung vor dem Bundesuntersuchungsausschuss sagte der Mann mit dem Decknamen „Lingen“ über die vielen V-Leute im Umfeld des NSU: „Die nackten Zahlen sprachen ja dafür, dass wir wussten, was das läuft“. Wären die Akten aufgetaucht, hätte man den Eindruck haben können, der Verfassungsschutz hätte eine Menge aus dem Umfeld des NSU gewusst, was aber ja nicht der Fall gewesen wäre... Er hat die Akten geschreddert, damit diese Fragen nicht auftauchen. Von dem damaligen Chefkoordinator der Geheimdienste im Bundeskanzleramt, Staatssekretär Klaus-Dieter Fritzsche stammt der Satz: „Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die Regierungshandeln unterminieren.“ Eine Kanzlerin, die vorher versprochen hatte, alles zur Aufklärung zu tun, hat ihn trotzdem nicht achtkantig rausgeschmissen.
Der Prozess hat sich über fünf Jahre hingezogen, ohne dass er Licht ins Dunkel um die Taten des NSU gebracht hat. Was hat das mit den Angehörigen gemacht?
Angehörige haben ein Recht darauf, zu erfahren, was sich abgespielt hat. Die meisten waren über ihre Anwälte direkt an dem Verfahren beteiligt. Wenn so viele Fragen unbeantwortet bleiben, ist das natürlich sehr unbefriedigend. Aber selbst wenn man es besser hätte aufklären können, hätte das die Opfer auch nicht wieder lebendig gemacht. Das ist ein Trauma, das man wahrscheinlich sein Leben lang nicht verliert.
Die Witwe eines der Opfer hat gesagt, der Prozess sei reine Zeit- und Geldverschwendung gewesen.
Na ja, ich glaube, dass sie am ersten Prozesstag schon sehr viel gewusst hat, weil es die Untersuchungsausschüsse gegeben hat. Dort sind die meisten Dinge herausgekommen. Die Frage, was Frau Zschäpe vorher und nachher gewusst hat, ist für das Gericht entscheidend, aber für die Angehörigen nicht wahnsinnig relevant. Dass sie enttäuscht darüber sind, dass nicht alles auf den Tisch gekommen ist, kann ich nachvollziehen.
Von Frau Zschäpe fühlten sich die meisten Hinterbliebenen, die den Prozess beobachteten, regelrecht verhöhnt.
Das kann ich nachvollziehen. Wenn sie da die ganze Zeit nur im Prozess herumsitzt und nichts anderes von sich gibt als ...
... ein ziemlich mageres Eingeständnis der moralischen Schuld ...
...Ja, aber was will man eigentlich von solchen Leuten erwarten? Dass die sich plötzlich um 180 Grad drehen? Bei den RAF-Prozessen haben sich die meisten Angeklagten auch nicht anders verhalten. Die waren vielleicht intelligenter. Aber sie haben sich nicht zu ihrer individuellen Schuld bekannt. Sie haben auch später sinngemäß gesagt: „Ja, das war eben die Politik der RAF. Über die denke ich heute anders.“ Ihren eigenen Anteil an der Entführung Hanns-Martin Schleyers etwa haben nur wenige wie Silke Maier-Witt und Peter Jürgen Boock eingeräumt.
Sehen Sie noch andere Parallelen zwischen RAF und NSU?
Der Selbstmord der Täter. Der ist immer Teil des Konzeptes von Terroristen. In jeder Zelle der RAF-Terroristen der ersten Stunde lag das Theaterstück von Bertolt Brecht: „Die Maßnahme.“ Ich habe einen Satz daraus in einem Brief von Ulrike Meinhof wiedergefunden: „Furchtbar ist es, zu töten. Aber nicht nur andere, auch uns töten wir, wenn es nottut, da doch nur mit Gewalt diese tötende Welt zu verändern ist.“ Aus einem linken Blickwinkel mögen das manche für nachvollziehbar halten. Aber am Ende ist es nicht viel anders als das, was wir bei den IS-Attentätern oder bei den beiden Uwes erlebt haben.
Auch um den Tod der beiden ranken sich Verschwörungstheorien. Sind Sie sicher, dass sich die beiden selber getötet haben?
Ja. Davon kann man wohl ausgehen. Man kann sich natürlich fragen, warum zwei Männer, die zehn Menschen aus nächster Nähe so kaltblütig umgebracht haben sollen, sich selber erschießen, weil sich zwei Polizisten ihrem Wohnmobil nähern. Warum die sich nicht in großer Geste eine finale Schlacht geliefert haben. Mir erscheint das trotzdem schlüssig. Selbstmord ist immer Teil des Konzeptes von Terroristen.
Der NSU-Prozess hat nicht Ihr Vertrauen in den Rechtsstaat erschüttert?
Nein, der Richter hat eine schwierige Arbeit geleistet und das Verfahren immerhin zu Ende geführt. Ein Prozess ist auch in gewissem Sinne eine Bühne – Frau Zschäpe und ihre Mitangeklagten konnten die nicht wirklich für Ihre Ziele nutzen. Wenn Sie das mit den Auftritten der Angeklagten im Stammheimer RAF-Verfahren vergleichen, liegen Welten dazwischen.
Aber wenn einige Mittäter vielleicht noch auf freiem Fuß sind, wie können die Hinterbliebenen dann sicher sein, dass der Albtraum wirklich vorbei ist?
Ich will ja da nicht weiter herumspekulieren. Das ist ja nicht bewiesen, es deutet nur einiges darauf hin. Vielleicht aber waren es ja doch nur Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos mit ein paar Helfern, die zehn Menschen kaltblütig ermordeten.
Stefan Aust ist Herausgeber und Chefredakteur der Welt. Das Gespräch haben wir aus aktuellem Anlass aktualisiert.
Das Buch „Heimatschutz“ von Stefan Aust und Dirk Laabs ist im Random House Verlag erschienen.
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