
- „Wir sind noch nicht am Ende des Weges“
Auch 27 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung ist der Ost-West-Konflikt in aller Munde. Die innere Einheit sei noch nicht erreicht und unsere Demokratie keine Selbstverständlichkeit, sagt der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse im Cicero-Gespräch
Herr Thierse, Sie haben die deutsche Wiedervereinigung einmal als besonders emotionalen Moment beschrieben. Wie haben Sie persönlich den 3. Oktober 1990 erlebt?
Das war in der Tat ein großer, emotionaler Moment. Das Glück der Wiedervereinigung war historisch zunächst einmal etwas ganz Unwahrscheinliches. Am Ende eines Jahres der Wunder, das mit der friedlichen Revolution, der Selbstbefreiung der Ostdeutschen begann und dann in einem ausgesprochen schnellen Prozess in der Wiedervereinigung endete. Das war ein glücklicher Moment. Aber ich habe damals schon gewusst und auch öffentlich geäußert, dass der Weg der Angleichung der Lebensverhältnisse langwierig, schmerzlich und von so manchem Konflikt begleitet sein würde.
Wie fühlen Sie sich heute, wenn Sie zurückdenken und auch den bisherigen Prozess Revue passieren lassen können?
Wir haben viel erreicht, aber der Weg ist noch nicht zu Ende. Ich hoffe sehr, dass in diesem Jahr der 3. Oktober, der ja in Mainz gefeiert wird, anders verlaufen wird als vor einem Jahr in Dresden, wo hasserfüllte Menschen die gewählten Politiker aufs Übelste beschimpft haben. Das ist erschreckend gewesen und ich hoffe, dass sich das nicht wiederholt. Die Demokratie ist ein Ort, wo man sich frei äußern kann, wo man streiten kann und soll, aber doch nach Regeln und mit Fairness – und unter Bewahrung des menschlichen Anstandes.
Aktuell ist wieder von der Spaltung des Landes die Rede, auch durch den hohen Stimmenanteil der AfD in den neuen Bundesländern. Sprechen die Wahlergebnisse gegen eine Einheit?
Das halte ich alles für unangemessen. Wir müssen nur begreifen, dass wir noch nicht am Ende des Weges sind. Die innere Einheit, wie man das nennt, ist noch nicht erreicht. Es gibt eben Unterschiede zwischen West und Ost, die wahrnehmbar sind und die manchmal auch etwas greller sind als die Unterschiede zwischen Nord und Süd, die es ja schließlich auch gibt. Die Wahlergebnisse sind ein relativer Unterschied, kein absoluter. Schließlich hat die AfD auch in Baden-Württemberg und Bayern große Erfolge erzielt, wie im Osten natürlich auch. Dass es aber diese Unterschiede gibt, hat mit der Geschichte zu tun. Der Westen hat 40 Jahre Vorsprung in Sachen Demokratieerfahrung. Die Ostdeutschen haben eine dramatische Veränderung hinter sich, eine vollständige Umwälzung, und nicht alle sind aus dieser Umwälzung als Sieger hervorgegangen. Es gibt auch die Verlierer der Einheit, die Benachteiligten oder diejenigen, die sich so fühlen.
Es sind nicht nur die sogenannten Globalisierungs- und Wiedervereinigungsverlierer, die die AfD wählen. Bekanntermaßen erhält sie auch viele Stimmen aus Akademikerkreisen.
Ja, deswegen ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass es für den AfD-Erfolg nicht nur soziale und ökonomische Ursachen gibt. Eine mindestens genauso große Rolle spielen kulturelle Faktoren. Etwa das Gefühl, das ich eine Entheimatungs-Befürchtung nenne: Durch die dramatischen Veränderungen, durch eine Welt ohne Grenzen, eine technisch-ökonomische Entwicklung, aber eben auch besonders fassbar durch die Flüchtlingsbewegung, die das Land natürlich auch verändert. Und durch die Beobachtung, dass Staat und Regierung – also Angela Merkel im Besonderen – dies alles nicht im Griff haben.
Wurden diese Sorgen nicht genügend berücksichtigt, wie es momentan oft heißt?
Es sind ja nicht nur Sorgen. Das Eigentümliche ist, dass die AfD unter anderem da besonders erfolgreich ist, wo man die Erfolge der Wiedervereinigung besonders gut sieht: Görlitz ist die schönste Stadt Deutschlands. Sie ist mit sehr viel öffentlichem und privatem Geld saniert worden, sodass sie wie ein Zauber wirkt. Aber jetzt ist die AfD dort besonders erfolgreich. Man muss wissen, dass da die ostdeutsche Geschichte mitspielt. 1990 wollte noch eine Mehrheit der Ostdeutschen richtig an die Versprechungen von Helmut Kohl glauben, dass die blühenden Landschaften schnell kommen und dass das ohne Schmerzen geht. Und als diese Verheißung nicht erfüllt wurde, haben sie ihre Wut ein bisschen zur SPD getragen, aber vor allem zur PDS. Jetzt tragen sie diese fast autoritäre Heilserwartung in Form von Protest- und Wutstimmen zur AfD. Das ist eine ganz eigentümliche Geschichte in Ostdeutschland, die man nur erklären kann mit den übergroßen Hoffnungen und der Heftigkeit von Enttäuschungen in den vergangenen Jahrzehnten.
Wo sehen Sie diesbezüglich politischen Handlungsbedarf?
Wir müssen weiter daran arbeiten, dass es gleiche Löhne, Gehälter und Renten gibt und dass die wirtschaftliche Entwicklung im Osten stabilisiert wird – das ist die Basis. Aber dann brauchen wir vor allem den Streit miteinander. Es muss sichtbar werden, dass die AfD die teils aggressiven Hoffnungen der Ostdeutschen nicht erfüllen kann. Ich wünsche mir, dass in den nächsten vier Jahren ein Prozess der Ernüchterung gegenüber der AfD gelingt. Damit die Wähler sehen, dass die AfD nichts für sie tun kann. Dass sie zwar die Wut, den Unmut und die Verärgerung artikulieren, aber nichts Konstruktives zur Lösung der Probleme, die viele Menschen ängstigen, beitragen kann.
Viele hoffen auf einen positiven Affekt durch den Einzug der AfD in den Bundestag insofern, als es ein Weckruf sein und so die Debattenkultur auch innerhalb der etablierten Parteien stärken könnte. Wie sehen Sie das?
Ich finde, man veredelt damit das Verhalten von Wählern. Ich glaube, die Wähler konnten wissen, wen sie wählen. Denn die AfD gibt es in den Landtagen. Dort betreibt sie Obstruktion, dort gibt es hasserfüllte Reden, auch ausländerfeindliche Reden, nationalistisch-völkische Töne. Ich bin der Überzeugung, dass die demokratischen Parteien – jedenfalls eine Mehrheit von ihnen – ein Problembewusstsein davon haben, wie groß die Herausforderungen doch sind. Allerdings hat mich erstaunt, wie Angela Merkel auf dieses dramatische Wahlergebnis reagiert und gesagt hat: „Ich muss nichts ändern an meiner Politik.“
Die Jugend von heute hat naturgemäß keine so emotionale Verknüpfung zur Deutschen Einheit wie Sie, ganz einfach, weil sie diese nicht persönlich miterlebt hat. Ist es nicht positiv, dass für sie die Ost-West-Unterscheidung nicht mehr relevant ist? Muss man der heutigen Jugend den emotionalen Kern der Einheit unbedingt vermitteln?
Ja, das halte ich für wichtig. Man muss wissen, dass Freiheit, Demokratie, deutsche und europäische Einheit nicht selbstverständlich sind. Dass sie das Ergebnis eines mühseligen Prozesses sind, einer friedlichen Revolution und erheblicher politischer Anstrengungen. Wir müssen begreifen, dass Demokratie als die politische Lebensform unserer Freiheit nicht selbstverständlich ist. Wenn man ringsum sieht, dass es auch in Europa autoritäre Regime gibt, dass man die Demokratie missbrauchen kann zu ihrer Gefährdung und ihrer Selbstaufhebung, dann sollten junge Leute wissen, wie kostbar dieser friedliche Vorgang der deutschen Wiedervereinigung war, der auch ein großer Schritt für die Einheit Europas war. Nichts ist gefährlicher, als das alles für selbstverständlich zu halten. Die Demokratie ist gefährdet, sie ist sensibel und wir müssen sie verteidigen.
Wolfgang Thierse (SPD) war von 1998 bis 2005 Präsident des Deutschen Bundestages. Vor seinem Eintritt in den Deutschen Bundestag im Jahre 1990 gehörte er der Volkskammer der DDR an.