- Pläne im Kalten Krieg: Die nukleare Vernichtung Westdeutschlands
Eine atomar verwüstete Bundesrepublik wäre für die Sowjetunion völlig nutzlos gewesen – abgesehen von dem Umstand, dass sie als ideologischer und ökonomischer Gegner nicht länger existent gewesen wäre. Deshalb gab es militärische Pläne, Westdeutschland durch einen vorbeugenden Nuklearangriff zu zerstören. Die Parallelen zu Putins Wahnvorstellungen, wenn er heute über das Nichtexistenzrecht der Ukraine spricht, liegen auf der Hand.
Mit welchem Typ einer taktischen Atomwaffe, die soeben vor unseren Augen explodiert ist, haben wir es denn hier zu tun? Um ihre Soldaten nicht bereits an dieser Stelle ratlos auf dem Gefechtsfeld zurückzulassen, stattete die Nationale Volksarmee (NVA) der DDR ihre Truppen in den 1980er Jahren mit drei preiswerten und handlichen Hilfsmitteln zur Bestimmung des Kalibers aus: Einer Peilpistole aus Plaste, gedacht, um mit wenigen Handgriffen Unterkante, Breite und maximale Höhe einer atomaren Detonationswolke zu bestimmen, sowie zwei Rechenscheiben, mit deren Hilfe die im konkreten Fall hilfreiche und notwendige Mischung eines Gegenmittels für die ABC-Schutzmaske herauszufinden sei, unter anderem – so die lediglich bruchstückhaft überlieferte NVA-Bedienungsanleitung – Methanol, also einfachster organischer, aber für den menschlichen Körper giftiger Alkohol, weswegen Überdosierung offensichtlich auch im Atomkrieg zwischen Nato und Warschauer Pakt strikt vermieden werden sollte.
Für die Feststellung der Entfernung zwischen Detonationsort (Ground Zero) und Soldat wurde dagegen schlicht wie bei Gewitter empfohlen, die Sekunden zu zählen zwischen Lichtblitz und Eintreffen der Druckwelle. War sie zu stark, warst du zu schwach und die Rechenaufgabe hat sich erledigt. Die DDR-Armee erwartete von ihren Truppen Geistesgegenwart, körperliche Robustheit und sicheren Umgang mit Rechenschiebern auch in den ungewöhnlichsten Situationen.
Ein wenig mehr Zeit, ein bis zwei Zigarettenlängen, blieb immerhin laut Anleitung für das Ausmessen des Atompilzes: „Achtung! Die Ermittlung der Strichwerte [auf der Rechenscheibe, um das Kaliber zu bestimmen] erfolgt erst nach Stabilisation der Wolke (im Bereich 1 bis 100 Kilotonnen etwa neun Minuten nach der Detonation).“ Zum Vergleich: Die 1945 über Hiroshima und Nagasaki gezündeten Atombomben hatten eine Sprengkraft von 13 beziehungsweise 21 Kilotonnen.