Unruhen in Neukaledonien
Ein Mann steht vor einem verbrannten Auto nach Unruhen in Neukaledonien / dpa

Unruhen in Neukaledonien - Frankreich im Nickel-Krieg

Im französischen Pazifikgebiet Neukaledonien toben gewaltsame Auseinandersetzungen. Vordergründig geht es ums Wahlrecht. Tatsächlich dürften China, Russland und Aserbaidschan den Konflikt angeheizt haben, um sich einen Vorteil auf Rohstoffmärkten zu verschaffen.

Autoreninfo

Antonia Colibasanu ist Analystin bei Geopolitical Futures und Dozentin an der rumänischen National Defence University mit Sitz in Bukarest.

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Am Montag dieser Woche hat der französische Präsident Emmanuel Macron eine Dringlichkeitssitzung mit seinem Verteidigungs- und Sicherheitsrat abgehalten, um über die Unruhen im französischen Pazifikgebiet Neukaledonien zu beraten. Bei zwei weiteren Ratssitzungen in der vergangenen Woche hatte Paris zunächst den Notstand in dem Gebiet ausgerufen und dann die Gendarmerie, die französische Nationalpolizei, eingesetzt, um die örtlichen Sicherheitskräfte bei der Wiederherstellung der Ordnung zu unterstützen. Demonstranten legen die Inselgruppe im Südpazifik seit dem 13. Mai lahm, um gegen die Pläne Frankreichs zu protestieren, das Wahlrecht auf französische Staatsbürger auszuweiten, die seit mindestens zehn Jahren in Neukaledonien leben.

Von ausländischen Regierungen angezettelt?

Französische Beamte behaupten jedoch, dass die Unruhen von ausländischen Regierungen angezettelt werden. Am 17. Mai nannte der Innenminister des Landes ausdrücklich Aserbaidschan, und andere französische Beamte haben auch Russland und China ins Visier genommen. Die aserbaidschanische Regierung stritt eine Beteiligung rasch ab, aber es lohnt sich, darüber nachzudenken, warum Frankreichs Widersacher seine pazifischen Gebiete womöglich destabilisieren wollen und was ein Erfolg bedeuten könnte.

Neukaledonien liegt im südwestlichen Pazifik, östlich von Australien und nördlich von Neuseeland. Damit liegt es an dem Schifffahrtskorridor, der sich von Südostasien, Australien und Neuseeland bis zur Westküste Amerikas erstreckt. Die Hauptinsel ist Grande Terre, auf der sich die Hauptstadt und das Zentrum der Proteste, Nouméa, befindet und auf der der größte Teil des Landes liegt und die meisten Einwohner Neukaledoniens leben.

Frankreich kolonisierte den Archipel in den 1850er Jahren, angezogen von seinem natürlichen Reichtum, insbesondere dem Nickelvorkommen. Der Widerstand der einheimischen Kanak-Bevölkerung gegen die französische Präsenz wuchs über Jahrzehnte hinweg und mündete schließlich in den 1970er Jahren in die „Kanak and Socialist National Liberation Front“, ein Bündnis, das sich für die Unabhängigkeit einsetzt. Der Streit wurde in den 1980er Jahren immer heftiger und führte zu den Abkommen von Matignon (1988) und Nouméa (1998), die einen Fahrplan für die Entkolonialisierung entwickelten, der die Rückgabe von Land sowie drei Unabhängigkeitsreferenden vorsah. Mit dem Abkommen von Nouméa wurde auch die Liste der Wahlberechtigten in Neukaledonien für die Regionalwahlen eingefroren, sodass nur noch gebürtige Einwohner und solche, die sich vor 1998 in dem Gebiet niedergelassen haben (sowie deren Nachkommen), wahlberechtigt sind.

Frankreich billigt Verfassungsreform

Das Lager der Unabhängigkeitsbefürworter scheiterte und verlor die Referenden in den Jahren 2018 und 2020, bevor es die dritte und letzte Abstimmung im Jahr 2021 wegen des Ausbruchs von Corona boykottierte. Als Macron das Gebiet 2023 besuchte, forderte er Neukaledonien auf, die Wählerlisten freizugeben, damit die Franzosen, die in den zurückliegenden 25 Jahren dorthin migriert sind, an den Provinzwahlen 2024 teilnehmen können. In diesem Monat hat die französische Nationalversammlung eine entsprechende Verfassungsreform gebilligt und damit die Voraussetzungen für eine endgültige Abstimmung in einer gemeinsamen Sitzung des Parlaments geschaffen. Dadurch würden etwa 25.000 neue Wähler hinzukommen, was für ein Gebiet, in dem bei der Volksabstimmung 2021 weniger als 200.000 Wähler registriert waren, eine erhebliche Veränderung darstellt.

Angesichts der Tatsache, dass die meisten dieser neuen Wähler eher für Frankreich und gegen die Unabhängigkeit sind – und dass der separatistischen Seite beim Referendum 2020 weniger als 10.000 Stimmen fehlten –, befürchten viele in der kanakischen Gemeinschaft, dass ihre Stimmen verwässert werden. Schon jetzt machen die Kanaks nur etwa 40 Prozent der Bevölkerung Neukaledoniens aus, während die Europäer und die Nachkommen der europäischen Kolonisten (die sogenannten „Caldoches“) etwa ein Viertel ausmachen. Das Ergebnis ist die schlimmste Gewalt auf dem Archipel seit vier Jahrzehnten.

Tiefe Spaltung

Die Proteste begannen im April. Es dauerte einige Wochen, bis sie sich zu Krawallen ausweiteten, aber die Tiefe der Spaltung wurde sofort deutlich. Am ersten Tag der großen Proteste, dem 13. April, versammelten sich Zehntausende von Menschen in der Hauptstadt Nouméa. Dort leben jedoch die meisten Einwanderer aus Frankreich, sodass sich die Demonstranten Berichten zufolge ungefähr gleichmäßig in Unabhängigkeitsbefürworter und -gegner aufteilten.

Doch die Unabhängigkeit ist nicht die einzige Trennlinie. Eine häufige Beschwerde der Kanak-Gemeinschaft betrifft die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit. Die „Kanak and Socialist National Liberation Front“ argumentiert, dass die Kanak-Jugend an den Rand gedrängt werde und Arbeitsplätze an Europäer verliert. Weitere ernste Probleme sind die wirtschaftliche Unterentwicklung und die übermäßige Konzentration auf einen einzigen Wirtschaftssektor, die Nickelindustrie. Nach Angaben des „Institut d‘Emission d‘Outre-Mer“ ist ein Viertel der Arbeitskräfte Neukaledoniens, etwa 15.000 Menschen, im Nickelbergbau beschäftigt. Das Gebiet gehört zu den fünf größten Nickelproduzenten der Welt, aber die indigene Gemeinschaft ist der Ansicht, dass die Gewinne nicht gerecht verteilt werden.

Zu diesem Zweck verlangte der für die Unabhängigkeit eintretende Präsident der Nordprovinz, einer der drei Verwaltungsregionen des Archipels, Mitte April von der französischen Tochtergesellschaft „Société Le Nickel“ (SLN) längere finanzielle Garantien gegen Umweltschäden an ihren Bergbaustandorten. Das Unternehmen beschäftigt mehr als 2000 Menschen in der Nordprovinz. Der Beamte gab sich mit dem Gegenangebot von Eramet, der Muttergesellschaft von SLN, nicht zufrieden und wies das Unternehmen an, alle Bergbauaktivitäten in dem Gebiet einzustellen.

Wichtiger Rohstoff

SLN ist nicht der einzige Bergbaubetreiber in Neukaledonien, aber der weltweit größte Produzent eines bestimmten Ferronickelprodukts, SLN25, dessen extrem hoher Nickelgehalt es für die Herstellung von rostfreiem Stahl sehr begehrt macht. (Nickel macht rostfreien Stahl widerstandsfähiger gegen Korrosion und Oxidation und verbessert seine Festigkeit und Duktilität.) Dank der hohen Qualität seiner Produktion konnte SLN im vergangenen Jahr einen Gewinn erzielen, obwohl der Weltmarktpreis für Nickel um mehr als 45 Prozent auf etwa 19.000 Euro pro Tonne fiel. Andere Nickelproduzenten in Neukaledonien, wo die Produktionskosten etwa 22.000 Euro pro Tonne betragen, hatten nicht so viel Glück.

SLN schloss seinen Betrieb wie angeordnet am 12. April. Einen Tag später begannen die Proteste in Nouméa. Der 13. April war aber auch der erste Tag, an dem russisches Nickel, Aluminium und Kupfer gemäß den britischen und amerikanischen Sanktionen von der London Metal Exchange (LME) und der Chicago Mercantile Exchange verbannt wurden. Obwohl kein weltweit gehandeltes Metall jemals in ein LME-Lagerhaus geliefert wird, ist in den meisten Verträgen festgelegt, dass sie an der LME lieferbar sein müssen. Daher würde das Verbot die russischen Produzenten dazu zwingen, niedrigere Preise zu akzeptieren.

Nachdem die Nickelpreise jedoch über ein Jahr lang stetig gefallen waren, sind sie seit der Einführung der Sanktionen um etwa 20 Prozent gestiegen, und SLN war gezwungen, seinen Betrieb in Neukaledonien zu schließen. Darüber hinaus werden sich die Sanktionen auf die Lieferungen einer wichtigen Nickelsorte auswirken, die als raffinierte Klasse 1 bezeichnet wird und in Bezug auf die Qualität ein direkter Konkurrent von SLN25 ist. Tatsächlich ist Russland nach China der zweitgrößte Produzent von raffiniertem Nickel der Klasse 1. Kaum eine Woche nach Inkrafttreten des Verbots kündigte das russische Unternehmen Nornickel Pläne an, einen Teil seiner Aktivitäten nach China zu verlagern und ein Joint Venture mit einem chinesischen Unternehmen zu gründen. Aus der Sicht von Paris ist es sehr auffällig, dass Russland und China sich in der Nickelindustrie zusammentun, während ihr französischer Konkurrent in der Produktion von hochwertigem Nickel und Ferronickel wegen politischer Unruhen in einem französischen Pazifikgebiet seine Tätigkeit einstellen muss.

Welche Rolle spielt die Baku-Initiativgruppe?

Die französische Regierung hat Aserbaidschan direkter beschuldigt, die Unruhen in Neukaledonien zu schüren. Abgesehen von der historischen Feindseligkeit zwischen den beiden Ländern bezieht sich die Anschuldigung von Paris auf die Baku-Initiativgruppe, in der sich unabhängigkeitsliebende Kräfte aus verschiedenen französischen Überseegebieten zusammengeschlossen haben und die antikoloniale Aktivitäten gegen Frankreich fördert. Das Forum wurde voriges Jahr in Baku während eines Treffens von Ministern der Bewegung der Blockfreien Staaten ins Leben gerufen. Diese Details sind kein Beweis dafür, dass die aserbaidschanische Regierung zu den Unruhen in Neukaledonien beigetragen hat, dessen Abspaltung von Frankreich nur geringfügige Auswirkungen auf Aserbaidschan haben würde. Aber die Baku-Initiativgruppe ist für Paris nach wie vor ein ernsthaftes Problem. Und das aus gutem Grund: In einem offenen Brief, der am 19. Mai veröffentlicht wurde, forderten die Präsidenten von vier weiteren französischen Überseegebieten (Réunion im Indischen Ozean, Guadeloupe und Martinique in der Karibik sowie Französisch-Guayana in Südamerika) die französische Regierung auf, die Wahlrechtsreform zurückzuziehen.

Trotz der Zweifel an der Stärke seines Einflusses auf Neukaledonien war Frankreich am Wochenende weiterhin bemüht, Ruhe zu signalisieren. Am 19. Mai weigerte sich die französische Regierung Berichten zufolge, der australischen Luftwaffe die Rettung von auf dem Gebiet gestrandeten australischen Staatsangehörigen zu gestatten, weil es ein ungutes Signal wäre, würden ausländische Streitkräfte Evakuierungsmaßnahmen einleiten. (Evakuierungsflüge aus Australien und Neuseeland wurden für den 21. Mai angekündigt.) All dies dürfte Russland gefallen, das in seinem jüngsten außenpolitischen Konzept den Westen und die westlichen Werte als seinen Hauptrivalen in der Welt bezeichnet.

Auch China könnte profitieren

Auch China könnte von Frankreichs Rückschlägen profitieren. Andere Pazifikstaaten sehen in Frankreich seit langem einen wertvollen strategischen Verbündeten, der dem wachsenden Einfluss Chinas in der Region entgegenwirken kann. Die Abspaltung Neukaledoniens könnte jedoch andere Inselstaaten dazu ermutigen, die Unabhängigkeit anzustreben, was Peking die Möglichkeit gibt, an Boden zu gewinnen. Schließlich haben die Salomonen, Neukaledoniens Nachbar im Norden, bereits ein Sicherheitsabkommen mit China unterzeichnet. Da der Einfluss von Paris schwindet, könnte Peking seine Investitionen und militärischen Aktivitäten in der Region verstärken und versuchen, das Kräfteverhältnis neu zu ordnen.

Feinde des Westens werden auch hoffen, dass Neukaledonien den Beginn einer neuen Welle der Dekolonisierung markiert, die die globalen Verpflichtungen der USA und Europas in Frage stellen wird.

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Tomas Poth | Do., 23. Mai 2024 - 13:44

In Mali ging es um Uran, nun um einen anderen Rohstoff in Neukaledonien.
Wie war es noch mal mit Dekolonisierung?

Bernd Karl | Do., 23. Mai 2024 - 13:58

Putin ist schuld.
Kolonialmacht Frankreich ist lieb!
Bravo!
Lange nicht mehr so ein Schmarren gelesen!

Henri Lassalle | Do., 23. Mai 2024 - 14:41

In der Tat geht es neben den Bodenschätzen um geopolitische, gezielte Machenschaften, die sich gegen Frankreich richten. Es geht um Besetzung von Einflusszonen, um die Weltregionen unter sich aufzuteilen. Die Hauptakteure dieser trouble-makers sind China, Russland, Iran.

Die Befürchtung: Die Macron-Regierung könnte zu schwach sein, um Frankreichs Position zu halten, zumal die jetzigen Unruhen vorhersehbar waren. Frankreich beherrscht noch immer einen grossen Teil des Pazifiks. Der Verlust dieser Zone wäre ein ungeheurer Triumpf für China, das sofort neue Situationen ausnutzen würde und das in vehementer Weise. Das bettet sich in die harte Konfrontation West-Ost ein, was auch die Ukraine einschliesst: Es geht um geopolitische Interessenpolitik.
Der Kreis um Putin sagt es ja selbst: Wir kämpfen gegen den Westen, leider müssen dabei die Ukrainer leiden.

trachten. Aber es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass F z.B. aus seinen afr. Ex-Kolonien über Einbindung in das "franz. Finanzsystem" enorme Profite gezogen hat, bei zunehmender Verarmung der Einheimischen. Im Spiegel-Forum legte einst ein Forist sehr detailiert dar, wie die franz. Finanzforderungen nach dem Sklavenaufstand auf der Insel dazu führte, dass Haiti sich nie wieder erholte und noch heute als "gescheiterter Staat" gilt. Bezgl. der putschenden Militärs in den franz. Ex-Kolonien in der Sahel-Zone behauptete einst "Der Legionär" (Thomas Gast auf YT), dass diese und ihre Anhänger die "Ausschaltung" Gaddafis ganz anders bewerten als der "dem. Westen". Die "antifranz. Stimmung" könnte also auch "hausgemachte" Gründe haben.

trachten. Aber es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass F z.B. aus seinen afr. Ex-Kolonien über Einbindung in das "franz. Finanzsystem" enorme Profite gezogen hat, bei zunehmender Verarmung der Einheimischen. Im Spiegel-Forum legte einst ein Forist sehr detailiert dar, wie die franz. Finanzforderungen nach dem Sklavenaufstand auf der Insel dazu führte, dass Haiti sich nie wieder erholte und noch heute als "gescheiterter Staat" gilt. Bezgl. der putschenden Militärs in den franz. Ex-Kolonien in der Sahel-Zone behauptete einst "Der Legionär" (Thomas Gast auf YT), dass diese und ihre Anhänger die "Ausschaltung" Gaddafis ganz anders bewerten als der "dem. Westen". Die "antifranz. Stimmung" könnte also auch "hausgemachte" Gründe haben.

Maria Arenz | Do., 23. Mai 2024 - 16:42

werden dann schon sehen, was sie von ihren neuen Freunden haben. Wieviele Wiederholungen dieser immer gleich endenden Schmierenkomödie muss ich mir noch antun?

Mario Felizzi | Do., 23. Mai 2024 - 16:58

Frankreich kann nicht einmal in Ruhe ausbeuten!

Christoph Kuhlmann | Fr., 24. Mai 2024 - 10:05

Frankreichs postkoloniale Abenteuer haben bereits Westafrika destabilisiert. Der Zwang Bananen aus irgendwelchen Übersee-Besitzungen Frankreich zu essen, anstatt den Kunden im Supermarkt entscheiden zu lassen sagt alles. Die EU muss sich von den kolonialen Interessen einiger Mitglieder befreien. Die NATO auch. Dafür müssen sie selbst gerade stehen.