
- Berlins neuer Blick auf Warschau
Mit dem EU-Rechtsstaatsmechanismus wurde Polen und Ungarn die Rolle der „Bad Guys“ innerhalb der Union zugewiesen – beide Länder mussten damit rechnen, dass ihnen EU-Mittel vorenthalten werden. Doch mit dem Ukrainekrieg hat besonders Warschau plötzlich eine ganz neue Bedeutung gewonnen. Gerade für Deutschland gilt nun: Pragmatismus kommt vor Idealen.
Seit mehr als einem Monat herrscht Krieg in der Ukraine, und es überrascht nicht, dass der Konflikt Europa zunehmend unter Druck setzt. Am offensichtlichsten ist, dass sich Probleme bei den Lieferketten aus der Zeit vor dem Krieg mit den wirtschaftlichen Folgen der Invasion vermischt haben, was die Energiepreise in die Höhe getrieben hat, und dass die Sanktionen europäische Unternehmen gezwungen haben, alternative Partner zu finden. Die Ankunft von Millionen von ukrainischen Flüchtlingen belastet auch die Aufnahmesysteme der Staaten.
Trotz dieser enormen Herausforderungen besteht das bisher wichtigste Ergebnis des Krieges darin, dass er die Nato wiederbelebt und die Europäische Union im Hinblick auf Russland wieder zusammengeführt hat. Einer der Hauptnutznießer dieser Entwicklung ist Deutschland. Und um die neu gefundene Einheit der Union zu bewahren, steht Berlin an vorderster Front und ist bereit, gegenüber seinen EU-Partnern mehr Flexibilität zu zeigen.
Ein Beispiel dafür ist die Frage der Rechtsstaatlichkeit. Namentlich ungenannte EU-Beamte sagten kürzlich, dass die Union wahrscheinlich vorerst auf die Anwendung des Mechanismus der Rechtsstaatlichkeit verzichten wird, der die Auszahlung von EU-Geldern an die Einhaltung der von Brüssel definierten demokratischen Grundsätze durch die Mitgliedstaaten bindet. Dies stellt erkennbar eine Änderung der Vorkriegsposition Brüssels dar, die darauf hinauszulaufen schien, Staaten wie Polen und Ungarn Gelder vorzuenthalten. (Unabhängig davon hält Brüssel bereits Mittel aus dem Pandemieprogramm der EU für Warschau und Budapest aufgrund ähnlicher Bedenken zurück.)
Die Einigkeit hat Vorrang
Schon vor dem Krieg gehörte Berlin zu den lauteren Stimmen, die zu Kompromissen aufriefen, und jetzt weist es auf die Notwendigkeit hin, angesichts noch nie dagewesener Herausforderungen der Einigkeit Vorrang zu geben. Deutschland ist besonders um die Beziehungen zu Polen besorgt, da dieser Staat eine wichtige Rolle als Puffer zwischen Deutschland und Russland spielt. Letztendlich wird der deutsche Druck die EU wahrscheinlich dazu bringen, Drohungen hinsichtlich der Aussetzung der Mittel fallen zu lassen und gegenüber Polen und Ungarn mehr Flexibilität zu zeigen.
Die Europäische Union ist das ehrgeizigste Experiment einer Wirtschaftsunion in der modernen Geschichte – zumal mit ihr auch eine Form der politischen Union angestrebt wird. Im Laufe der Zeit haben sich die Staats- und Regierungschefs das Ziel gesetzt, eine „immer engere Union“ zu bilden, die auf liberaler Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und freier Marktwirtschaft beruht – die sogenannten Kopenhagener Kriterien. Vor allem angesichts der entsprechenden Herausforderungen während der zurückliegenden Jahre sieht sich Brüssel als Verfechter von Demokratie und Menschenrechten.
Das Problem ist jedoch, dass die 27 Mitgliedstaaten unterschiedliche Vorstellungen von liberaler Demokratie und Rechtsstaatlichkeit haben und dass es wegen dieser Meinungsverschiedenheiten, die Kernfragen der nationalen Souveränität berühren, häufig zu Spannungen zwischen den EU-Behörden und den nationalen Regierungen kommt. Die nationalen Staats- und Regierungschefs zögern, Kompromisse einzugehen oder Befugnisse an ein regionales Gremium abzutreten, das sie nicht kontrollieren können, zumal die Regierungen ihr Mandat von ihren Wählern erhalten. Außerdem haben die nationalen Regierungen im Falle der Rechtsstaatlichkeit wenig Anreiz, sich dem Willen der EU zu beugen. Abgesehen von potenziellen Geldstrafen – für deren Umsetzung der Union oft der politische Wille oder der rechtliche Rahmen fehlen – hat Brüssel keine nennenswerten, glaubwürdigen Instrumente, um Staaten zu sanktionieren, die seiner Meinung nach gegen rechtsstaatliche Standards verstoßen.
Streit wegen Rechtsstaatlichkeit
Im Januar 2021 führte die EU jedoch die Verordnung über die Konditionalität der Rechtsstaatlichkeit ein, die es der Union ermöglicht, Maßnahmen zu ergreifen (einschließlich der Aussetzung von EU-Zahlungen an Mitgliedstaaten), wenn Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit den Nutzen und den Anwendungsbereich der Mittel gefährden. Polen und Ungarn lehnten den Mechanismus, der sich implizit gegen ihre Regierungen richtete, entschieden ab; beide liegen mit Brüssel im Streit – im Falle Warschaus über die Unabhängigkeit der Justiz und die Medienfreiheit; im Falle Budapests über Minderheitenrechte und Korruption. Tatsächlich enthält die EU-Exekutive den beiden Staaten bereits Gelder aus dem Pandemie-Rettungsfonds der EU vor.
Nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine plant die Europäische Kommission jedoch Berichten zufolge die Freigabe von Wiederaufbaumitteln für Polen und möglicherweise auch für Ungarn, was eine Abkehr von der bisherigen Rhetorik zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit in der Union bedeutet. Wesentliche Ursachen für diesen Wandel sind offensichtlich der Ukraine-Konflikt und die daraus resultierende Notwendigkeit, Spaltungen zwischen den Mitgliedstaaten zu vermeiden. Trotz des Widerstands einiger Abgeordneter des Europäischen Parlaments, die der Meinung sind, dass die EU die moralische Pflicht hat, die Achtung der Rechtsstaatlichkeit durchzusetzen, wird sich wohl die Nachsicht durchsetzen. Einfach ausgedrückt: Pragmatismus geht vor Idealen.
Im Mittelpunkt steht dabei Deutschland, die faktische Führungsmacht in Europa. Vor dem Krieg lastete der wirtschaftliche und soziale Druck im Zusammenhang mit Corona auf der Struktur der EU. Dies war besonders problematisch für Deutschland, das unbedingt verhindern musste, dass Europa, sein wichtigster Handelsmarkt, zersplittert. Hinzu kommt, dass es schon vor dem Krieg Zweifel an der Führungsfähigkeit Berlins gab, insbesondere in der Wirtschaftspolitik. Der Krieg in der Ukraine ist daher eine Gelegenheit für Deutschland, den Zusammenhalt der Union zu stärken und einen Teil seiner Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen. Ein zusätzlicher Vorteil ist, dass die Schuld für Europas wirtschaftliche Probleme auf Russland geschoben werden kann und nicht auf das Brüsseler oder Berliner Management der Pandemiebekämpfung.
Der Sinneswandel des Bundeskanzlers
Unabhängig davon hat die jüngste Bedrohung durch den russischen Revanchismus Deutschland vor Augen geführt, dass es ein starkes und kooperatives Polen braucht, um sich gegen Russland abzusichern. Da Teile der Bundesrepublik in der nordeuropäischen Tiefebene liegen und keine geografischen Barrieren zwischen Berlin und Moskau bestehen, war die geografische Verwundbarkeit des Landes schon immer ein Grund zur Besorgnis für die politische Führung. Vor dem Krieg war Deutschland der europäische Staat, der am wenigsten bereit war, Russland zu sanktionieren oder Waffen an die Ukraine zu liefern. Dies war vor allem auf die Abhängigkeit Deutschlands von russischer Energie zurückzuführen. Knapp eine Woche vor Kriegsbeginn erklärte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz, dass es keinen europäischen Sicherheitsrahmen ohne oder gegen Russland geben dürfe.
Jetzt hat sich die deutsche Haltung gegenüber Russland völlig umgekehrt. Berlin hat die meisten Sanktionen gegen Russland unterstützt und Pläne zur drastischen Erhöhung seines Verteidigungshaushalts angekündigt. Genauso wie Deutschlands freundliche Haltung gegenüber Moskau zu einer Belastung wurde, als die Bomben zu fallen begannen, wurde auch seine harte Haltung gegenüber Warschau zu einer Belastung. Eine harte Haltung gegenüber Polen birgt die Gefahr, dass die EU-feindlichen Kräfte in Polen gestärkt werden, die bisher noch eine Minderheit in der Bevölkerung darstellen.
Schließlich steht Polen an vorderster Front bei der Flüchtlingsfrage. Deutschland ist sich der Auswirkungen einer weiteren Flüchtlingskrise auf den Zusammenhalt der EU sehr wohl bewusst. Selbst wenn andere Staaten jetzt offen für die Aufnahme von Flüchtlingen sind, gilt: Je mehr von ihnen Polen aufnehmen kann, desto besser. Warschau erklärte kürzlich, die Kosten für die Aufnahme der Flüchtlinge würden sich wahrscheinlich auf etwa 24 Milliarden Euro belaufen, was fast genau dem Betrag entspricht, den das Land in Form von Zuschüssen aus dem Pandemiefonds der EU erhalten sollte. Die Freigabe der Mittel könnte Polen helfen, die Situation besser zu bewältigen und den Anreiz für die Ukrainer verringern, weiter nach Westen zu ziehen.
Deutsche Wirtschaftsinteressen
Es mag in Westeuropa auch Regierungen geben, die das alles anders sehen, aber Deutschland wird hart daran arbeiten, die Europäische Kommission davon zu überzeugen, die Mittel für Polen freizugeben. Die Aufrechterhaltung eines starken und verbündeten Polens – und in geringerem Maße auch Ungarns – ist für Deutschland ein sicherheitspolitischer Imperativ. Die Einheit der EU zu bewahren, ist ein wirtschaftliches Gebot. Deutschland wird handeln, um diese beiden Interessen zu wahren.
Fast alles, was Berlin seit Beginn des Krieges getan hat, zielt darauf ab, die Integrität der Europäischen Union zu bewahren: Sanktionen gegen Russland, Waffenlieferungen an die Ukraine und sogar der Stopp des Zertifizierungsverfahrens für Nord Stream 2. Damit zeigt Deutschland erneut seinen Willen, eine Führungsrolle innerhalb der EU einzunehmen – auch wenn es dafür Kosten in Kauf nehmen muss, die es zuvor nicht bereit war zu zahlen.