
- In den Klauen der Geopolitik
Die Migrationskrise an der polnisch-belarussischen Grenze ist auch eine geopolitische Herausforderung für die Europäische Union und die NATO. Denn die Migranten an der EU-Außengrenze sind ein Geschenk für die EU-skeptische Regierung in Warschau und somit ein Geschenk für Putin und Lukaschenko.
Der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko rächt sich an Polen und den baltischen Staaten dafür, dass sie in der Vergangenheit die belarussische Opposition und deren Proteste unterstützt haben. Dabei spielt er zwei wichtige Spiele. Das erste Spiel ist der wenig erfolgversprechende Versuch, in die Fußstapfen Erdogans zu treten und die Anerkennung der Legitimität seiner Wahl durch Erpressung der freien Welt zu erreichen. Wenn er nebenbei wie der türkische Präsident finanzielle Unterstützung von EU-Ländern erhält, um die Emigranten zu Hause zu halten, ist das nur ein zusätzlicher Bonus. Das zweite und wohl wichtigere Spiel besteht darin, seine Nützlichkeit für Putin zu beweisen. Experten zufolge ist Lukaschenko für den Kreml schon lange unbequem. Jetzt will er die Chance nutzen, zu beweisen, dass er gebraucht wird. Daher seine Entschlossenheit und Konsequenz bei der Destabilisierung der Ostgrenze der Europäischen Union.
Wer glaubt, dass es sich bei diesen Ereignissen um einen Zufall, einen vorübergehenden Zwischenfall oder eine kleine Provokation handelt, der irrt. Der Prozess, die östlichen Grenzen der EU in Brand zu setzen, wird weitergehen, zumindest bis die beiden Urheber des hybriden Krieges gegen den Westen ihre Ziele erreicht haben. Oder bis sie denken, dass sie gescheitert sind.
Die Ziele Putins
Lukaschenko wird von Rachegelüsten getrieben, mobilisiert seine Anhänger und spielt um die Anerkennung. Was aber treibt Putin an? Der Herrscher im Kreml hat andere Ziele. Sein kurzfristiges Ziel ist es, die Europäische Union als seinen kontinentalen Rivalen zu destabilisieren. Sein langfristiges Ziel ist es, den Einflussbereich Moskaus aus der Zeit des Sowjetimperiums zurückzugewinnen. Dazu gehören zum einen die baltischen Staaten, zum anderen die Ukraine und langfristig auch Polen.
Doch ist dies nach 30 Jahren der Freiheit in Polen überhaupt möglich? Durchaus. Denn die Pfade der politischen Herrschaft müssen nicht unbedingt den alten militärischen Pfaden folgen. Die Situation in Belarus und der Ukraine beweist dies. Nach der Auflösung der Sowjetunion 1991 befand sich Belarus auf demselben Weg in die Freiheit wie die Ukraine. Es gab jedoch zwei Unterschiede zwischen diesen beiden jungen Staaten: Demografie und Ressourcen. Da Belarus weniger bevölkerungsreich und arm an natürlichen Ressourcen war, war es wirtschaftlich stärker von Russland abhängig, und diese Abhängigkeit wuchs ständig. Heute kann das Land nicht mehr auf Russland verzichten (24 Milliarden Dollar Handelsumsatz von Januar bis August dieses Jahres), und dass Minsk sich wirtschaftlich neu ausrichtet, ist unvorstellbar.
Destabilisierung der östlichen EU- und NATO-Mitgliedstaaten
Die Ukraine hat sich um den Preis eines „Bürgerkrieges“ mutiger dem Westen zugewandt. Die Frage ihrer Unabhängigkeit vom Kreml ist jedoch nicht endgültig geklärt. Es gibt keine Garantie dafür, dass eine Gesellschaft, die des Krieges und der Armut müde ist, nicht eine Regierung wählt, die wie einst Janukowitsch sehnsüchtig nach Osten blickt. Dann wäre eine langsame Integration mit Russland sowohl logisch als auch möglich.
Ist ein solches Szenario im östlichen Teil der EU denkbar? Es kann zumindest nicht völlig ausgeschlossen werden. Die Wahrscheinlichkeit eines militärischen Konflikts ist jedoch minimal. Es besteht die, wenn auch geringe, Möglichkeit, dass Kreml-Funktionäre erwägen, die sogenannte „Suwałki-Lücke“ zu schließen, den Schwachpunkt der NATO in der Grenzregion zwischen Polen, Litauen und der russischen Enklave Kaliningrad. Dies ist jedoch unwahrscheinlich. Putins „Grüne Männchen“ würden dort ohne viel Sinn und Verstand durch die Wälder streifen, ohne die Unterstützung der lokalen Bevölkerung und ohne die Möglichkeit, städtische Gebiete zu erobern. Solange die Ostgrenze Polens auch die Grenze der EU und der NATO ist, würde kein denkender Mensch im Kreml ein solches Vorgehen diktieren. Es sei denn, die Bindungen an die Strukturen der NATO und der EU würden geschwächt. Dann wäre nicht nur das Szenario der „Grünen Männchen“ möglich. Ein viel größeres und ernsteres Risiko wäre eine langsame wirtschaftliche und politische Vasallisierung der Region, vor allem der baltischen Länder. Litauen und Lettland sind solide Demokratien, aber beide Länder haben ein Problem mit einer russischsprachigen Minderheit. In Lettland (2,38 Millionen Einwohner) ist ein Drittel der Bevölkerung russisch. In Litauen (2,8 Millionen) machen Russen und Belarussen zusammen mit der polnischen Minderheit, die oft auch noch kremlfreundlich ist, mehr als 14 Prozent der Bevölkerung aus. Russland könnte, sollte der Schutzschirm der EU und der NATO wegfallen, seine Minderheiten zur Destabilisierung der lokalen Politik nutzen – und dann derart alternativlose politische und wirtschaftliche Bedingungen durchsetzen, dass diese Länder mit der Zeit wieder in die Umlaufbahn des Kremls zurückkehren würden. Dieses Szenario ist jedoch nur dann vorstellbar, wenn man Warschau für sich gewinnen könnte.
Polen stellt die europäische Integration in Frage
Der Schlüssel für einen solchen Plan liegt an der Weichsel. Solange Polen militärisch und politisch mit dem Westen verbunden ist, scheint es, zumindest in absehbarer Zukunft, sicher zu sein. Die NATO ist zu gefährlich für Russland, und die EU ist eine echte Konkurrenz. Das muss aber nicht ewig der Fall sein. Anders als zum Beispiel im Fall der Türkei besteht der politische Wert Polens in seiner gleichzeitigen Mitgliedschaft in der NATO und der EU. Dies wurde in letzter Zeit in Washington deutlich betont. Polen ist ein willkommener Verbündeter, aber nur, solange es die gemeinsamen Werte des Westens teilt: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Redefreiheit, Schutz von Eigentum und Investitionen.
In den mehr als 30 Jahren polnischer Demokratie war dieser Katalog unbestritten, und unser Land galt als Vorreiter des Wandels. Heute ist das anders. Polen, das von der PiS regiert wird, steht im Widerspruch zu Brüssel, es erkennt die Urteile des Europäischen Gerichtshofs nicht an, es stellt die Richtung der europäischen Integration infrage und schürt eine absurde und schädliche Deutschlandfeindlichkeit. Es ruiniert sogar die hart erkämpften Beziehungen innerhalb der Visegrád-Gruppe.
Streit zwischen Warschau und Washington
Um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, haben wir neben dem realen Mangel an Kommunikation mit dem Osten in letzter Zeit auch die Bündnisbeziehungen zu den Vereinigten Staaten unterminiert. Was einst ein unumstrittener Pfeiler der polnischen Außenpolitik war, nämlich das Bündnis Warschaus mit Washington, hängt nun am seidenen Faden. Durch ihre absurden Angriffe auf den im Besitz des US-Konzerns Discovery befindlichen Fernsehsender TVN hat die PiS-Regierung selbst dafür gesorgt, dass das Weiße Haus den polnischen Präsidenten bestraft und aus dem Senat und dem Außenministerium gegenüber Polen kritische Akzente zu vernehmen sind. Das Ergebnis ist eine Diskussion innerhalb der amerikanischen politischen Elite über Polen als Partner, bei dem nicht sicher ist, ob er die Rechtsstaatlichkeit, die Unabhängigkeit der Justiz und die Meinungsfreiheit respektiert.
Die These ist schwer zu widerlegen, dass wir dank der Politik der PiS-Regierung vom Primus der Demokratisierung und Integration zum schlechtesten Schüler der Klasse geworden sind, zusammen mit Orbáns Ungarn. Ganz Europa und der Kreml kennen die Klagen aus der PiS-Parteizentrale über die Brüsseler Politik und die Realitäten in der Europäischen Union. Putin reibt sich genüsslich die Hände, während er im polnischen Staatsfernsehen den Berichten lauscht, in denen Hass auf Deutschland und die Deutschen geschürt wird. Er dürfte sich über die jüngste „Ankündigung“ des ehemaligen Regierungsmitglieds Janusz Kowalski gefreut haben, laut dem 2027, dem Ende des jetzigen EU-Haushaltsplans – zur Überraschung Brüssels –, ein Polexit-Referendum abgehalten werden könnte.
PiS-Politik im Interesse Moskaus
Putin und die Kreml-Strategen, die sich dies anhören, verstehen sehr gut, dass das EU-skeptische Warschau selbst in einer realen Gefahrensituation Brüssel nicht um institutionelle Unterstützung bitten, Frontex nicht in den Kampf gegen die Migrationskrise einbeziehen und das Angebot des deutschen Grenzschutzes zur Unterstützung ablehnen wird. Vize-Ministerpräsident und PiS-Vorsitzender Kaczyński ist der Ansicht, dass er die Krise allein bewältigen muss, denn nur so würden seine derzeitige Linie und seine politischen Pläne für die Zukunft glaubwürdig. In diesem Sinne sieht Putin Polen als das schwächste Glied in der EU und wird gemeinsam mit Lukaschenko den Konflikt anheizen.
Kaczyński soll politischen Zündstoff liefern, um seine Position auf der polnischen politischen Bühne zu stärken, seine Chancen auf einen Sieg bei den nächsten Wahlen zu erhöhen, die Opposition zu zerschlagen und an der Macht zu bleiben. Denn gerade diese Macht in Warschau bietet die größte Gewähr für eine Schwächung der Union, eine Verlangsamung des Integrationstempos und einen Zerfall des gemeinsamen Projekts, an dessen Anfang der beabsichtigte (oder unbeabsichtigte) Kurs der Nationalkonservativen in Richtung Polexit stehen wird. Und danach vielleicht eine Schwächung der militärischen Präsenz der NATO in der Region.
Die PiS und die Migrationskrise
Die Geopolitik, das heißt, das reale Auftreten des weltweiten Problems der illegalen Migration in Polen, war für Kaczyńskis politische Agenda praktisch ein Geschenk des Himmels. Dank der Probleme an der Grenze hat er endlich den gewünschten echten „Krieg“, eine Bedrohung, um die herum er die Nation vereinen kann. Jeder Autokrat träumt von einer solchen Situation. Er ruft zur Einheit auf, lässt seine Muskeln spielen, kleidet seine Minister in Uniform. „Dies ist nicht die Zeit für Spaltungen, die Heimat muss verteidigt werden“, hört man jetzt. Die Opposition muss nun verwirrt sein und ist mit Fragen konfrontiert: den Schulterschluss mit der Regierung suchen oder diese kritisieren? Kritik könnte bedeuten, dass sie ihren Rückhalt in der Bevölkerung verliert. Die Unterstützung der Regierungslinie würde Polarisierung vermeiden, könnte aber auch wiederum Unterstützer kosten. Und wie kann man überhaupt gegen die Verteidigung des Vaterlandes sein? Wie kann man die reale Bedrohung in Frage stellen?
Die Regierung hat auch einen Vorteil bei der Kommunikation. Der staatliche Fernsehsender TVP bedient die Hardliner unter den PiS-Wählern. Hier werden Oppositionelle weiterhin als Verräter verleumdet. Andere Medien wiederum sollen, für die gemäßigten Wähler der Mitte, die Großzügigkeit und Versöhnlichkeit des Premierministers zeigen, der in der jetzigen Gefahrensituation zur nationalen Einheit und Solidarität aufruft. Nicht jeder Wähler wird auf diesen cleveren Trick hereinfallen, aber vielleicht einer von fünf oder zehn. Das mag nicht viel sein, aber um diese Wähler geht es. Zusammen mit der harten Stammwählerschaft werden sie den Nationalkonservativen Wahlerfolge bescheren.
Im Namen der Angst
Putin braucht die PiS, um die EU zu zerschlagen. Die PiS braucht Putin und Lukaschenko, um eine große Zahl von Polen für die Wahlen zu mobilisieren. Im Vergleich zu dem, was vor einigen Jahren auf den Ägäischen Inseln oder an der ungarischen Grenze geschah, sind die paar Tausend Menschen, mit denen die polnischen Grenzbeamten zu tun haben, wirklich nicht viel. Aber es reicht aus, um mit patriotischen Gefühlen zu spielen oder mit der Angst, dass das heutige Ausmaß der Migration der Stein ist, der eine Lawine ins Rollen bringt.
Im Namen dieser Angst werden die Polen etwa dem Ausbau der Sicherheitsdienste und der Armee zustimmen. Der Entwurf für eine auf 300.000 Mann ausgelegte Armee liegt bereits auf dem Tisch. Es gibt aber auch Zweifel an dieser Strategie. Erstens stellt sich die Frage, ob die PiS es nicht mit der Angstmacherei übertreibt. Denn Angst hat auch eine lähmende Dimension, die dazu führen kann, dass weniger Bürger als üblich an den Wahlen teilnehmen oder aber gegen die PiS stimmen. Zweitens kann die ständige Betonung der Gefahr dazu führen, dass die Menschen das Vertrauen in die Regierung verlieren, da diese die Krisensituation nicht bewältigen kann.
Armut ist wichtiger als Patriotismus
Und dann ist da noch der dritte und wichtigste Faktor: die Wirtschaft. Die polnische Regierung könnte durch ihr geplantes Wirtschaftsprogramm „Polski Ład“, was sowohl „Polnisches Land“ als auch „Polnische Hoffnung“ bedeutet, und die damit verbundenen Sozialtransfers an ausgewählte Gruppen die Inflationsrate so stark ansteigen lassen, dass die Menschen sich von den Machthabern abwenden. Die Bedrohung durch reale Armut würde zu einem wichtigeren Faktor werden als die patriotische Stimmung. Dann würden sich mögliche vorgezogene Parlamentswahlen zu einem Vertrauensreferendum über die Regierung entwickeln und für die PiS sehr riskant werden.
Es war einfacher, mit der Europäischen Union und den eigenen Bürgern Machtspiele zu treiben, als man von der Geopolitik isoliert war. Die Migranten an der östlichen Grenze Polens erhöhen den Einsatz in diesem Spiel auf eine andere Stufe. Dies sind nun andere Realitäten. Die Geopolitik ist angekommen. Die Spielregeln haben sich verändert.
Der Text erschien zuerst in der polnischen Tageszeitung Rzeczpospolita.