Soldaten der ägyptischen Armee stehen am Grenzübergang Rafah zwischen Ägypten und dem Gazastreifen / picture alliance

Ägyptens Rolle im Nahostkonflikt - Weder Feind noch Freund

Ägypten balanciert im Konflikt zwischen Israel und der Hamas auf einem schmalen Grat. Man will die Angriffe der Hamas nicht unterstützen, aber auch nicht eindeutig verurteilen. Das hat unter anderem historische Gründe.

Autoreninfo

Hilal Khashan ist Professor für Politische Wissenschaften an der American University in Beirut und Autor bei Geopolitical Futures.

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Wie viele andere Staaten wurde auch Ägypten vom Krieg zwischen Israel und der Hamas überrascht. Das Ausmaß des Angriffs der Hamas am 7. Oktober ließ Ägypten wenig Spielraum, wie in der Vergangenheit häufiger geschehen, vermitteln zu können. Die Reaktion Kairos verdeutlicht mehr noch ein Muster unentschlossener Entscheidungsfindung: Anstatt zu fordern, dass die Kämpfe eingestellt werden, drängten ägyptische Beamte lediglich darauf, dass der Krieg nicht auf andere Teile des Nahen Ostens ausgeweitet wird. 

Ägypten balancierte damit auf einem schmalen Grat. Es war weder gewillt, den Angriff der Hamas eindeutig zu verurteilen, noch die Terrororganisation in irgendeiner Weise zu unterstützen. Präsident Abdel Fattah el-Sissi sorgt sich nicht um das Schicksal der Hamas, die ein enger Verbündeter seines Erzfeindes, der Muslimbruderschaft, ist. Vielmehr befürchtet er die weitreichenden Auswirkungen der Schaffung einer neuen regionalen Realität – besonders zu einer Zeit, in der sich der Israel-Palästina-Konflikt zu entspannen schien und in der einige arabische Länder, einschließlich Saudi-Arabien, verstärkt Friedensgespräche mit Israel führten. 

Einstellung gegenüber den Bewohnern Gazas

Die Ägypter haben eine Wahrnehmung von den Palästinensern als Unruhestifter entwickelt, die einer kontinuierlichen Überwachung durch die Geheimdienste des Landes bedürfen. Diese Einstellung ist das Ergebnis mehrerer bekannter Vorfälle, in die palästinensische Gruppen verwickelt waren. 1978 ermordeten Mitglieder der ultraradikalen palästinensischen Abu-Nidal-Organisation den Kulturminister Ägyptens. 1985 entführten Mitglieder derselben Organisation ein ägyptisches Flugzeug auf dem Weg nach Malta. In einem Rettungsversuch der Passagiere startete eine ägyptische Kommandoeinheit eine Operation, bei der 56 Geiseln im Kreuzfeuer getötet wurden. 2012 wurden 16 ägyptische Soldaten in der Nähe des Grenzübergangs Kerem Shalom im Gouvernement Nord-Sinai getötet, die Täter blieben unbekannt. Viele Ägypter beschuldigten die Hamas, den Angriff begangen zu haben, was sie vehement bestritt.

Palästinenser, die versuchen, aus dem Gazastreifen nach Ägypten zu fliehen, sind auch Diskriminierung und Misshandlung ausgesetzt. Palästinensische Reisende, die durch den Grenzübergang Rafah nach Ägypten gelangen wollen, müssen lange unter harten humanitären Bedingungen ausharren, darunter Trinkwassermangel, Nahrungsmittelknappheit sowie astronomische Preise für Grundnahrungsmittel und das Fehlen öffentlicher Toiletten. Die Gestrandeten an der Grenze, darunter Kinder, ältere Menschen und Personen, die medizinische Behandlung benötigen, müssen tagelang warten. Reisende beschreiben ihre Reisen als qualvoll und erniedrigend.

Wenn der Grenzübergang geöffnet ist, genehmigen ägyptische Einwanderungsbeamte nur eine geringe Anzahl von Anträgen auf Ausreise aus dem Gazastreifen. Damit ihre Anträge akzeptiert werden, müssen Reisende 3.000 US-Dollar an Agenturen zahlen, die mit einem Mafia-Ring ägyptischer Beamter und Geheimdienstmitarbeiter zusammenarbeiten. In Krisenzeiten sind Bestechungsgelder von bis zu 10.000 US-Dollar pro Person – wovon mehr als 90 Prozent an Ägypter gehen – an der Tagesordnung. Viele Menschen sind Opfer von Betrügereien geworden. Beispielsweise zahlten sie Bestechungsgelder, um dann festzustellen, dass ihre Namen nicht auf den Listen genehmigter Anträge standen.
 

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Diese Mafias haben keine Gnade mit Verletzten, die außerhalb des Gazastreifens eine Behandlung suchen, denn auch sie müssen 5.000 US-Dollar zahlen, um nach Ägypten einzureisen. Eine palästinensische Frau, die einen verletzten Verwandten in ein Krankenhaus in Kairo begleitete, postete auf X, dass Krankenhauspersonal verletzten Palästinensern untersagte, SIM-Karten zu kaufen oder das Internet zu nutzen. Sie und ihre begleitenden Verwandten durften auch nicht die Cafeteria im Krankenhaus betreten und mussten Essen von Sicherheitspersonal kaufen, das ihnen überhöhte Preise berechnete. Nachdem sie von den Unterstützern el-Sissis angegriffen worden war, löschte sie ihren Post und erklärte, dass sie nicht bestreite, dass Ägypten den Palästinensern helfe.

Ägyptische Grenzwachen verlangen von der Hamas 5.000 US-Dollar für jeden LKW, der in den Gazastreifen einreist. Die Hamas trägt die Kosten für Lebensmittel, die aus Ägypten kommen, von denen die meisten abgelaufen oder kurz davor sind. Viele Bewohner des Gazastreifens berichten, dass sie der Hamas für die von anderen Ländern gespendeten oder aus Ägypten gekauften Lebensmittel bezahlen müssen. Die Preise für alle Lebensmittelprodukte sind explodiert. Der Preis für Salz stieg zum Beispiel von 10 Cent pro Pfund auf 5 US-Dollar.

Der jordanische König Abdullah hat el-Sissi gedrängt, den Grenzübergang Rafah zu öffnen, um humanitäre Hilfe zu leisten. El-Sissi scheint jedoch nicht die Biden-Administration provozieren zu wollen, obwohl Abdullah glaubt, dass Washington grünes Licht für die Maßnahme geben würde. Insbesondere nachdem der Internationale Gerichtshof Israel angewiesen hat, Maßnahmen zu ergreifen, um die Bereitstellung humanitärer Hilfe für die Bewohner des Gazastreifens sicherzustellen.

Zurückhaltung bei der Hilfe

Die Zurückhaltung Ägyptens, die Grenze zu öffnen, ist Teil eines Musters unentschlossener Handlungen. Nach dem Rückzug aus dem Gazastreifen im Jahr 2005 schloss Israel einen Vertrag mit Ägypten, der die Verwaltung des Philadelphi-Korridors regeln sollte; einer schmalen Pufferzone entlang der Grenze zwischen dem Gazastreifen und Ägypten. Gemäß der Vereinbarung übertrug Israel die Verantwortung für die Grenzkontrolle auf der Seite des Gazastreifens an die Palästinensische Autonomiebehörde. Die Sicherheitslage im Gazastreifen änderte sich, als die Hamas die Palästinensische Befreiungsorganisation aus dem Streifen vertrieb und Israel und Ägypten eine verheerende Blockade verhängten. 

Aufgrund der Bewegung großer Menschenmassen aus dem Gazastreifen nach Nord-Sinai auf der Suche nach Nahrungsmitteln und grundlegenden Gütern übernahm Ägypten die Kontrolle über die palästinensische Seite des Korridors. Das Letzte, was Ägypten wollte, war eine stark bewaffnete extremistische Gruppe mit engen Beziehungen zur Muslimbruderschaft vor seiner Haustür. Kairo schickte sogar Truppen in die USA, um sich im Aufspüren und Zerstören von Tunneln, die zum schmuggeln von Waffen und anderen Waren in den Gazastreifen genutzt wurden, ausbilden zu lassen. 

Nachdem Präsident Hosni Mubarak 2011 gestürzt worden war, lockerte Ägypten seine Beschränkungen. Doch nach dem Putsch gegen Präsident Mohamed Mursi im Jahr 2013 verhängte Kairo erneut strenge Beschränkungen für die Bewegung von Bewohnern des Gazastreifens nach Sinai. Ägyptische Arbeiter rissen Häuser auf der ägyptischen Seite der Stadt Rafah ab, um eine Pufferzone zum Gazastreifen zu schaffen. Sie füllten auch die Tunnel, durch die Verbrauchsartikel, Waffen und Militante geschmuggelt wurden, mit Wasser.

Eine Bedrohung seiner Souveränität

Israelische Führer sagen jetzt, dass sie die Kontrolle über den Korridor wiedererlangen wollen. Das verärgert Ägypten. Kairo argumentiert, dass ein bilateraler Vertrag verlangt, dass die Parteien die Erlaubnis der anderen Partei einholen müssen, bevor sie militärische Maßnahmen ergreifen. Ägypten sagt auch, dass Israels Beschlagnahme des Philadelphi-Korridors eine Bedrohung seiner Souveränität darstellen und gegen die Camp-David-Abkommen von 1978 verstoßen würde. Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu spielte die Verschlechterung der Beziehungen zu Ägypten herunter und betonte die Tiefe der Beziehungen zu el-Sissi. 

Tatsächlich kooperierte Ägypten mit Israel in all seinen früheren Kriegen gegen die Hamas. Während des Krieges 2014 im Gazastreifen drückten mehrere israelische Beobachter ihr Erstaunen über die subtile Zustimmung Ägyptens zu dem 51 Tage dauernden Konflikt aus. Zu dieser Zeit ging ein politischer Kommentator des israelischen Senders Channel 13 sogar so weit, zu sagen, dass jeder, der el-Sissis Position hören würde, glauben würde, er sei Mitglied einer zionistischen Bewegung, und deutete an, dass seine Haltung daher rühre, dass die Hamas eine Zweigstelle der Muslimbruderschaft sei.

Ägyptische Beamte sagen, Israels Versuch, den Philadelphi-Korridor zu kontrollieren, gefährde die bilateralen Beziehungen, während die Israelis glauben, dass ihre engen Beziehungen, die seit dem Besuch des ägyptischen Präsidenten Anwar Sadat in Jerusalem 1977 gepflegt wurden, die vorübergehende Besetzung des Korridors überstehen werden. Das Höchste, was Ägypten tun kann, wenn Israel die Kontrolle über den Korridor übernimmt, ist, die bilaterale Sicherheitskoordination einzufrieren, ohne die diplomatischen Beziehungen zu unterbrechen. 

Da die bedeutenden israelischen Operationen im Norden des Gazastreifens und der Stadt Khan Younis ihrem Ende zugehen, wird sich die israelische Armee bald nach Rafah wenden. Da sich mehr als die Hälfte der Bevölkerung des Gazastreifens in der Nähe der ägyptischen Grenze in Sicherheit gebracht hat, wird ein israelischer Angriff auf den dritten und letzten Teil des Streifens die Palästinenser nach Nord-Sinai zwingen.

Mangelndes Interesse

Die ägyptischen Einstellungen gegenüber den Palästinensern sind in der arabischen Welt nicht einzigartig. Araber beschuldigen die Palästinenser oft, ihr Land an die Juden zu verkaufen und untereinander zu kämpfen, während sie arabische Länder um Hilfe bitten. Sie sagen den Palästinensern häufig, dass diese versuchen sollen, ihre Probleme selbst zu lösen, bevor sie um Hilfe bitten. Arabische Führer und Bürger, insbesondere in Ägypten, sagen, sie hätten großzügig an die Palästinenser gegeben und Tausende ihrer Jugendlichen für die palästinensische Sache geopfert. 

Um ihr eigenes Versäumnis, Israel zu konfrontieren, zu rationalisieren, beschuldigen sie die Palästinenser und beschreiben sie als undankbare Verräter. Sie betrachten die Anwesenheit von Palästinensern in jedem Land als schlechtes Omen für die Bevölkerung. Die Ägypter haben sich von der Frage Palästinas distanziert und betrachten es als Angelegenheit, die das palästinensische Volk selbst lösen muss. Sie argumentieren, dass Ägypten, gefangen in einem Labyrinth der Armut, sich auf seine wirtschaftliche Entwicklung konzentrieren und sich aus fremden Angelegenheiten herausziehen müsse. 
 

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Christoph Kuhlmann | Mo., 12. Februar 2024 - 15:28

Irgendwann muss man einsehen, dass Gewalt keine Lösung ist und das Leiden des eigenen Volkes nur steigert. Die Hamas wurde in freien Wahlen gewählt. Eine Organisation, die Geschaffen wurde um die Juden in Palästina zu vernichten. Etwas Ähnliches steht im Gründungsdokument. Was erwarten die Leute?

Und nicht jedes freie Land steht wie Deutschland BEDINGUNGSLOS an der Seite Israels.
Deutschland ist nicht der Nabel der Welt und die geforderte Zwei Staaten Lösung von Baerbock und Co. müssen tatsächlich auch beide Volksgruppen wollen. Was jedoch eher unwahrscheinlich ist.
Schauen wir auf so manche Universität in Deutschland und auf die Meinung mancher Studierenden, da bin ich mir oft gar nicht mehr so sicher wer und wieviele dieses Klientel das BEDINGUNGSLOS überhaupt noch akzeptieren.Ein Blick zurück,Juni 1967: Der Sechstagekrieg führte zu massiven territorialen Veränderungen des Nahen Ostens, da Israel zahlreiche Gebiete besetzte.Nach dem Krieg waren 250.000 Palästinenser auf der Flucht, da sie aus ihren Häusern und ihrer Heimat vertrieben wurden.
Der Krieg begann am 5. Juni mit einem Präventivschlag der israelischen Luftstreitkräfte gegen ägyptische Luftwaffenbasen,der einem befürchteten Angriff der arabischen Staaten zuvorkommen sollte.
Hat Ägypten das vergessen? Was meinen sie?

Karl-Heinz Weiß | Mo., 12. Februar 2024 - 16:55

Nach Einschätzung des Autors ist eine massive Fluchtbewegung in Richtung Nord-Sinai zu erwarten. Wie man in Anbetracht dieser sich seit Wochen abzeichnenden Entwicklung unter westlichen Außenpolitikern (vor allem -innen) noch von einer Zwei-Staaten-Lösung spricht, erscheint rätselhaft. Besagte Außenministerin hat gegenüber Iran und Saudi-Arabien schon lange auf eine realistische Linie umgeschwenkt.

Reinhold Schramm | Mo., 12. Februar 2024 - 17:22

Eine palästinensische Bewegung gegen die Hamas und Hisbollah ist nicht zu erwarten. Eine sozialrevolutionäre Befreiungsbewegung, unter Einbeziehung der werktätigen arabischen Völker, existiert nicht.

Ansiedlung, bzw. Zwangsumsiedlung, in das ägyptische Sinai, ohne Zustimmung der ägyptischen Regierung und Bevölkerung, wäre ausgeschlossen. Zudem führt eine gemeinsame Grenze mit Israel zu anhaltenden und gewaltsamen Auseinandersetzungen.

Die Ansiedlung auf dem Territorium der materiell reichen Golfmonarchien würden die Stämme und Clans der Fürsten und Prinzen nicht dulden wollen. Zudem bedürfte es hierfür auch eine soziale Loslösung und Ablösungszahlung für die Millionen Billigarbeitskräfte aus Asien.

Weitere Möglichkeit wäre, für fünf Millionen Palästinenser, die freiwillige Migration nach Westeuropa und/oder nach Nordamerika (USA und Kanada).
{...}

Nachtrag, Teil II.

Reinhold Schramm | Mo., 12. Februar 2024 - 17:24

{...}
Ein gewaltiges soziales Problem, wie auch immer die anstehende Entscheidung, in den zurückliegenden Jahren befand sich ein großer Anteil der Palästinenser (40 % plus) in keiner geregelten und dauerhaften Erwerbsarbeit.

PS: Die destruktiven und feudal-religiösen Kampforganisationen waren für die Jugend keine Alternative zur geregelten Erwerbsarbeit.

Auch in Deutschland scheitert anhaltend ihre soziale Integration.

Gerhard Lenz | Mo., 12. Februar 2024 - 17:58

aussprechen, sollte es die Hamas verurteilen. Denn natürlich verstehen sich Ägypter und Palästinenser irgendwo auch als Brudervölker. Da kann der Terror von Hamas und/oder Hisbollah noch so grausam, noch so menschenverachtend und brutal sein - in jedem arabischen Land werden Teile der Bevölkerung Verständnis zeigen. Wobei man andererseits die Palästinenser auch nicht im eigenen Land haben will. Denn eine Terrororganisation, die von Ägypten aus operiert, könnte zur Bedrohung werden:. Israel würde sich das nicht lange passiv anschauen und von der ägyptischen Regierung ein Einschreiten verlangen. Was wiederum die radikalen Bevölkerungsteile auf den Plan rufen würde.
Es gab nach dem sogenannten arabischen Frieden freie Wahlen, aus denen in Ägypten die Muslimbrüder als Sieger hervorgingen. Das Land gilt prinzipiell als vergleichsweise konservativ, mit ausgeprägt religiös-fundamentalistischen Tendenzen, auch wenn das unter den Militärs nicht so sichtbar ist.

Karla Vetter | Mo., 12. Februar 2024 - 18:53

hat reichlich Erfahrung mit der Muslimbruderschaft und das sind keine guten. Ganz klar, dass man sich auch ihre Proxys wie die Hamas vom Hals halten will. Sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern scheint mir ein guter Ansatz zu sein. Da liegt El-Sissi nicht ganz falsch.