Lars Eidinger in der Rolle des Frank Walter in einem Gefängnis
Lars Eidinger als Franz Walter in einer Szene des Films „Nahschuss“

Deutsch/deutscher Film - Geschichtsstunde im Kino

Eine geballte Ladung an Filmen, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit deutsch-deutscher Geschichte befassen, kommen bald ins Kino und ins Fernsehen. Zeit, sich mit unserer jüngeren Vergangenheit auseinanderzusetzen.

Autoreninfo

Marga Boehle ist Journalistin und Filmkritikerin. Boehle war Mitglied im Auswahlkomitee der Berlinale. Sie lebt in München.

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Für Franziska Stünkel, die Regisseurin von „Nahschuss“ mit Lars Eidinger (Kinostart am heutigen Donnerstag), muss eine Auseinandersetzung mit historischen Ereignissen nicht unmittelbar stattfinden: „Es braucht Abstand und Zeit, um sich zu trauen, darauf zu schauen und bis bestimmte Emotionen und Haltungen verarbeitet sind, die den Blick verstellen könnten. Wir haben vieles noch nicht verarbeitet von der jüngeren deutsch-deutschen Geschichte,“ meint sie.

„Nahschuss“ – die Lebensgeschichte des DDR-Wissenschaftslers Teske

Ihr Polit-Drama „Nahschuss“ ist angelehnt an die wahre Lebensgeschichte des Dr. Werner Teske, eines Wissenschaftlers in der DDR, der zum Tode verurteilt und dessen Urteil 1981 vollstreckt wurde – er war der letzte von insgesamt 166 Hingerichteten. Aus einem Zeitungsartikel hatte sie von der Todesstrafe in der DDR erfahren: „Davon hatte ich noch nie gehört, und viele andere auch nicht.“ Ihr geht es nicht um Schuldzuweisung, sondern darum, „einen historischen Fakt zu erzählen, ein Puzzleteil mehr zur Aufarbeitung der Geschichte zu liefern.“ Darüber hinaus ist das Thema nicht nur historisch zu betrachten – in immer noch 56 Staaten wird die Todesstrafe angewendet. „Die psychische und physische Zersetzung Andersdenkender und Oppositioneller findet in der Gegenwart statt und wird leider auch in Zukunft bleiben,“ so Stünkel.

Mit einem fantastischen Eidinger in der Hauptrolle erzählt „Nahschuss“ von einem Mann, der aus seinem Umfeld heraus Entscheidungen treffen muss. „Es ist auch ein Psychogramm,“ erklärt die Regisseurin. „Die Frage ist doch, sind wir frei in den Entscheidungen, die wir treffen? Wir sind geprägt durch ein politisches System, Kindheit, Erziehung, Gesellschaft. ‚Nahschuss‘ erzählt ein Stück DDR-Geschichte, aber auch ein universelles Thema, das mir sehr am Herzen liegt.“

Der Regisseurin, die auch eine anerkannte Fotografin ist, war es wichtig für das Feeling des Films, wenn möglich an Originalschauplätzen zu drehen. In Berlin in der Justizhaftanstalt Hohenschönhausen etwa oder der Mielke-Etage im Ministerium für Staatssicherheit in der Normannenstraße. In einer unter die Haut gehenden Eröffnungsszene, gedreht in nur einem einzigen Take, sitzt Eidinger in einem der Original-Barkas, dem berüchtigten Gefangenentransporter, in qualvoller Enge. Die Heizung darunter wurde voll aufgedreht und die Gefangenen so lange im Keller herumgefahren, bis Hitze und Enge klaustrophobische Zustände erzeugten und die Angst des Ausgeliefertseins schürten. Lars Eidinger saß alleine 10 Minuten in dem Transporter, alles um ihn herum totenstill, bis die Kamera lief.

Eine Geschichtsstunde der besonderen Art liefert auch Ed Herzog, bekannt als Regisseur der Eberhofer-Krimis (der letzte, „Kaiserschmarrndrama“, hatte gerade Kinostart). In „3 ½ Stunden“ schildert er die Situation unmittelbar vorm Mauerbau aus der Perspektive einer Gruppe Reisender, mit denen er in den Zug von München nach Berlin steigt. Es ist der 13. August 1961, und während die Bahn Richtung Zonengrenze rollt, wird das Unglaubliche Realität, wird in der Sowjetischen Besatzungszone in Windeseile die Mauer errichtet, die die Westsektoren vom Osten trennt. Im Zug trifft eine dramaturgisch perfekte Mischung jeden Alters und sozialen Backgrounds aufeinander, für die sich die gleiche existenzielle Frage stellt: Vor der Grenze aussteigen oder weiterfahren? Freiheit oder Sozialismus? (Das Historiendrama läuft gerade für drei Monate in der Mediathek).

Thomas Brasch in Schwarzweiß

„Lieber Thomas“ ist eine Hommage auf den Autor, Filmemacher und Rebellen, ein cineastischer Coup, gedreht in Schwarzweiß. Warum heute ein Film über Thomas Brasch? “Weil er”, so Regisseur Andreas Kleinert, „immer hundertprozentig seine Positionen vertreten hat und Argumente dafür lieferte. Er hat eine unbestechliche Haltung und davon zu erfahren, tut unserer heutigen Gesellschaft sehr gut.“ Brasch sei gleichzeitig „ein Bonvivant, ein Segler zwischen den Welten. Er ist niemals ein Opfer, immer ein Täter, in der Ausführung der Liebe ebenso wie der Kunst, er fordert unglaublich viel von den Partnern und von uns,“ meint der Grimme-Preisträger. Modellhaft sollte auch ein Künstler präsentiert werden, der scheinbar einer anderen Gesellschaft, einer anderen Zeit angehört, aber heute auch Vorbild in unserer hyperkorrekten Socia-Media-Welt sein könnte. Die Sicht auf einen, der nie die Grenzen akzeptierte, die ihm gesetzt wurden, ist so vielfältig wie sein Werk.

„Jeder hat seine Wahrheit, die spannend ist, aber wir mussten uns zum Kern vorarbeiten,“ erläutert der renommierte Drehbuchautor Thomas Wendrich („Mitten in Deutschland: NSU“) den Ansatz der Filmemacher. Braschs Texte erwiesen sich als idealer Ausgangspunkt, er wird zitiert mit Sätzen wie: „Mein Leben sind meine Worte“, sein Gedicht „Papiertiger“ gliedert den Film. Die Herausforderung war, aus der unglaublichen Fülle an Material auszuwählen. Mutig pendelt der Film zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Rausch- und Traumzuständen, lehnt sich an Braschs Leben an, nimmt sich aber die Freiheit, Figuren und private Ereignisse hinzu zu fabulieren. Das ganz große Plus des Films ist aber sein Hauptdarsteller Albrecht Schuch in seiner bislang besten Rolle, an seiner Seite Jella Haase als Katarina.

Einiges wurde an Originalschauplätzen gedreht, u.a. in Friedrichshain, wo Kleinert aufwuchs und immer noch lebt, anderes in Polen. Wie wichtig ist die Ost-Sozialisation von Regisseur und Autor? „Es war sehr hilfreich, dass wir in der Annäherung an Thomas Brasch und auch was die Deutungshoheit von emotionalen und sozialen Befindlichkeiten im Osten angeht, aus einem breiten, eigenen Erfahrungsfundus schöpfen konnten. Ich finde mich in vielen Filmen, die sehr korrekt und chronologisch ‚genau‘ die DDR wiedergeben, emotional oft nicht wieder,“ meint Wendrich. Nirgendwo sonst werde auf eine Gesellschaft nur politisch geschaut und nicht auch sozial: „Das ist etwas, womit wir aufräumen wollen.“ Kleinert ergänzt, dass „wir Ostler auch verschieden gucken. (...) Braschs Satz ‘Die Mauer war richtig und gut’ ist wichtig, damit die Leute begreifen: Das hat kein Idiot gesagt, er hatte einen Grund dafür.

Es ist höchste Zeit, dass wir darüber reden und es lohnt, darüber nachzudenken.“ – „Thomas wollte mehr Sozialismus als seine Väter, nicht weniger,“ so Wendrich. Ihr Film, dessen Entwicklung mehr als zehn Jahre dauerte, hat in dieser Zeit jedenfalls an Brisanz gewonnen. („Lieber Thomas“ startet am 4. November).

Den vielleicht persönlichsten Blick auf ein Stück DDR-Vergangenheit wirft Katharina Marie Schubert in „Das Mädchen mit den goldenen Händen“. Die Schauspielerin gibt damit ihr Regiedebüt. (Kinostart: 2.12.). Sie inszeniert Corinna Harfouch und Birte Schnöink als Mutter Gudrun und Tochter Lara, die sich entfremdet haben und zum 60. Geburtstag der Mutter wiedertreffen, 1999, zehn Jahre nach dem Fall der Mauer, in einem deutschen Provinzstädtchen. Gefeiert wird in einem verwitterten alten Herrenhaus, zu DDR-Zeiten ein Kinderheim, in dem Gudrun elternlos aufwuchs. Sie kann nicht fassen, dass das Anwesen an einen finanzkräftigen Investor verkauft wurde und zu einem Hotel ausgebaut werden soll, und setzt alles daran, es als Begegnungsstätte für die Gemeinschaft zu erhalten. Persönliche Emotionen, familiäre Konflikte und lokalpolitische Auseinandersetzungen offenbaren Brüche in den Biografien von Land und Menschen und legen die Gräben zwischen Ost und West frei.

„Wem gehört mein Dorf?“

Einem ganz ähnlichen Thema geht der Dokumentarfilm „Wem gehört mein Dorf?“ (ab heute im Kino) nach, der in diesem Jahr auf dem DOK.fest München lief. Regisseur Christoph Eder zeigt am Beispiel seines Heimatortes Göhren auf Rügen, dass politische Mitbestimmung nirgendwo so unmittelbar ist wie in der Lokalpolitik.

 

 

Im Mikrokosmos des Ostseebads und seiner Bewohner werden brisante Themen wie die Durchsetzung kapitalistischer Interessen gegen das Gemeinwohl verhandelt und Fragen aufgeworfen nach dem Ausverkauf der Kommunen, Gentrifizierung, Strukturwandel, Tourismus und Naturschutz. Gab es nach der Wende einen Ausverkauf, waren die im Sozialismus sozialisierten Ostler dem Profitstreben des Westens ausgeliefert? Gegen einen Bauinvestor aus Nordrhein-Westfalen, der nach 1989 im großen Stil Grund aufkaufte und bebaute, unterstützt von willfährigen Gemeindevertretern, wehren sich die Bewohner mit einer Bürgerinitiative – erfolgreich. Das ist filmisch vielleicht nicht der ganz große Wurf, aber emotional und aufrüttelnd und Hoffnung machend – und wie all diese Filme ein Appell an die Rebellen in uns.

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Klaus Funke | Do., 12. August 2021 - 17:49

Als Zeitzeuge, der die DDR als 5jähriges Kind vom Anfang der Fünfziger und als Erwachsener bis zu ihrem Ende erlebt, begleitet, erlitten und erlebt hat, bin ich skeptisch, was Bücher oder Filme angeht, die behaupten, sie träfen den historischen Nerv. Quatsch! Alles wird immer nur durch die Brille der Gegenwart erzählt. Es sind im Grunde moderne Märchen. Natürlich, die tragische Story des Herrn Teske eignet sich besonders gut. Der letzte Hingerichtete! Toll. Freilich, es ist barbarisch. Aber wie Leni Riefenstahl einmal sagte: "Hätten wir gewusst, was wir jetzt wissen, hätten wir damals anders gehandelt!" Das ist das Problem aller Geschichte. Es wird immer aus dem Jetzt erzählt. Und das ist immer die Unwahrheit. Es gibt ein Buch über den Kaiser Nero "2000 Jahre Verleumdung". Bei historischen Stoffen bin ich gegen jede Interpretation. Fakten müssen genügen. Wir sind erwachsen genug, uns unseren Vers draus zu machen. Mir braucht keiner meine Biografie zu erklären. Sie ist gelebtes Leben!

Rob Schuberth | Do., 12. August 2021 - 18:33

Ich kann es nicht mehr sehen u. hören.

Jedes Jahr die gleiche Litanei.
So wird es bestimmt immer bei Ost- u. Westdeutschland bleiben, anstatt dass endlich EIN Land entsteht.

Und es wird auch Zeit sich endlich von unserem Mühlstein zu distanzieren (nicht leugnen), anstatt jeden Jahrestag etc. zu "feiern" oder zu gedenken.
Andere Nationen sind nicht so schwach wie wir, die suhlen sich nicht in ihrer Schwäche.

Beinahe jede Nation hat ihre dunkle Vergangenheit.
Warum müssen wir das immer so herauskehren?
Das nutzen die anderen doch nur gegen uns aus.

Peter L. | Do., 12. August 2021 - 20:52

Erstaunlicherweise sind es oft dieselben Protagonisten, die uns Horrorszenarien über das selbst nie erlebte Leben in der DDR meinen erzählen zu müssen, dann aber die Wiedergeburt der Unfreiheit in der DDR 2.0 unserer Tage völlig negieren.
Vulgo: Ein Film von Wessis für Wessis.
Guten Appetit!

Enka Hein | Fr., 13. August 2021 - 07:57

Antwort auf von Peter L.

....diese "Kulturschaffenden" Wessis sind nicht das Spiegelbild der Wessis.
Diese Typen hätten auch um 3. Reich und der DDR ihren Platz gefunden.
Sollen lieber mal Filme darüber machen, wie es möglich ist das ehemalige DDR Kader hier in der BRD wieder Karriere machen können.

Muss man das noch kommentieren?

Aber das darf hier erscheinen.

Umso mehr wundert es mich, dass man hier nicht sagen darf, eine Aussage wie "DDR 2.0" und das ständige Gemecker über unsere Demokratie würden sich gegenseitig ausschliessen...

Herr Lenz, ich meckere nicht, ich vermisse die Demokratie der Alt-Bundesrepublik!
Auch wenn sie sicherlich nicht perfekt war.

Und wie Sie diesen Strickmuster hier nennen, ist mir wurscht egal. Sie können meinetwegen an jeder Masche das Wort Demokratie anbringen.

Erinnert mich an einen Witz aus der DDR (für sie leicht umgewandelt):
Besucht Frau Merkel Herrn Söder in den Bergen von Bayern & beide sind so vom Echo ganz begeistert.
Er ruft aus: "Unser Bayern ist reich - reich - reich - reich - reich - reich.
Ruft Frau Merkel: "Unser Land hat Welt - nie - wo - wo - wo - wo - wo - wo

Jürgen Klemz | Fr., 13. August 2021 - 05:38

Habe mir doch jüngst das Filmchen "dreieinhalb Stunden"angeschaut und bin nicht enttäuscht worden!Eine Lokführerin die dem Reporter erklärt der Zug endet in Ostberlin, im Zugabteil zeitgenössische Aufkleberpiktogramme mit den üblichen Verboten und ne Sportfunktionärin die Dopingmittel schmuggelt,da Doping natürlich nur in der DDR stattfand, schon klar! Also wieder ein schwaches Filmchen! Nach dem grandiosen "das Leben der anderen " wären keine weiteren Filme zu dieser Thematik nötig gewesen! Statt dessen könnten sich die Kulturschaffenden mal mit den jüngsten politischen Verwerfungen im besten Deutschland daß wir je hatten beschäftigen!

Walter Bühler | Fr., 13. August 2021 - 09:16

Geschichtsschreibung kann nie völlig getrennt werden von der Lust am Erzählen von Geschichten. In der Geschichtswissenschaft ist - wie in anderen Wissenschaften - Objektivität ein unverzichtbares Ziel, aber weil auch hier erzählt wird, schimmert auch beim besten Historiker der subjektive Standpunkt immer durch.
Während man beim Wissenschaftler aber mit Recht auf einer grundsätzlichen Orientierung an der historischen Wahrheit bestehen muss, muss Künstlern eine größere Eigenwilligkeit eingeräumt werden. Für einen modernen Autor ist die Geschichte einfach ein riesiger Steinbruch für tolle Stories.
Die Stories über eine Epoche, die sich auf dem medialen "Markt" durchsetzen, prägen das aktuelle Bild der Epoche in der Gesellschaft. Bei uns wird dieser Markt stark von den ÖRR-Anstalten beherrscht, und insofern setzt sich in den sogenannten "Dokus" das dort herrschende Bild durch.
Künstler müssen sich dem Markt anpassen, und daher zeigen solche "Dokus" immer die herrschende Ideologie.

Robert Friedrich | Fr., 13. August 2021 - 13:28

Sie war kein Ruhmesblatt. Es überschlagen sich die Filme und Filmchen, besonders im MDR mit schlimmen Geschichten zwischen Wahrheit und filmischer Phantasie. Man muß schon die Berichte in den Medien selektieren, um heraus zu hören, dass die westlichen Geheimdienste Milliarden Dollar ausgegeben haben um den Ostblock zu destabilisieren. Beim Öffnen der Stasiakten müßte man doch einige Aktivitäten erfahren, warum nicht? Wenn der kleine poblige Nachbar mein Spitzel war, dann weiß ich es nun auch, er ist auch seine Stelle im Staatsdienst los. Die Eltern die ihre Tochter oder Sohn an der Mauer verloren haben weinen wie die Eltern der Toten Kameraden am Hindukusch. Heucheln wir weiter.

Karl-Heinz Weiß | Fr., 13. August 2021 - 21:55

Das sind durchaus interessante Themen, die aber den Kern der weiterhin bestehenden deutsch-deutschen Teilung nicht treffen: warum konnte sich eine Kanzlerin mit DDR-Sozialisation in 16 Jahren so wenig für deren Überwindung engagieren?