
- „Die Medien haben eine Mitschuld“
Der Medienforscher Stephan Ruß-Mohl wirft den deutschen Medien vor, in der Corona-Krise überzogene Angst geschürt und Druck auf die Politik ausgeübt zu haben. Ein Gespräch über die Zwänge der Aufmerksamkeitsökonomie und was dagegen getan werden muss.
Prof. Dr. Stephan Ruß-Mohl, geboren 1950, ist emeritierter Professor für Journalismus und Medienmanagement an der Universität Lugano. Zuletzt erschien der von ihm herausgegebene Band „Streitlust und Streitkunst: Diskurs als Essenz der Demokratie“ im Halem Verlag.
Professor Ruß-Mohl, voriges Jahr haben Sie geschrieben: „Nicht die Regierenden haben die Medien vor sich hergetrieben, wie das Verschwörungstheoretiker so gerne behaupten. Vielmehr haben die Medien mit ihrem grotesken Übersoll an Berichterstattung Handlungsdruck in Richtung Lockdown erzeugt, dem sich die Regierungen in Demokratien kaum entziehen konnten.“ Sind die Medien schuld an Lockdowns?
Sie haben eine Mitschuld. Und das ist etwas, was sie partout nicht bereit sind zu konzedieren, worüber ich mich wundere. Der Tenor hat sich natürlich im Laufe der Zeit verändert, die Berichterstattung ist von regierungslammfromm zu vielfältigeren Perspektiven gelangt. Aber gerade in der Anfangszeit schürte allein schon die exzessive Menge an Berichten Panik.
Was genau ist das Problem?
Die bloße Menge ist das primäre Problem. Die Medien sind im Grunde genommen nicht in der Lage, uns vorzuschreiben, was wir denken. Aber sie sind in der Lage, uns sehr stark dahingehend zu beeinflussen, worüber wir nachdenken und womit wir uns beschäftigen. Und wenn 60 bis 70 Prozent der Nachrichten und dazu noch Sondersendungen im Anschluss an die Nachrichtensendungen sich einem einzigen Thema widmen, dann ist das eben das Thema, das die Menschheit beschäftigt. So viel wurde nicht einmal über 9/11 berichtet – und das war nun wirklich ein historischer Einschnitt.
Ist das nicht verständlich? Die Corona-Krise ist eine globale Krise, die sich unmittelbar auf etliche soziale Bereiche auswirkt.
Ja, 9/11 war natürlich ein einzelnes Ereignis, während die Pandemie, wie Sie selbst gerade gesagt haben, weltweit aufgetreten ist. Aber es ist schon auffällig, wenn man sich die Phasen der Berichterstattung anschaut: Am Anfang wurden diejenigen, die die Pandemie für gefährlich gehalten haben, als Aluhutträger klassifiziert. Dann kam der große Schwenk von einem Tag zum anderen einhergehend mit der Situation in Bergamo und den Toten, die sich in den Kühlhäusern von New York gestapelt haben. Und dann kam monatelang die Dauerberieselung mit Zahlen, die völlig irrelevant waren, die aber täglich kommuniziert wurden und die in ihrer Häufung Angst gemacht haben. Daraufhin wurden die Berichte etwas differenzierter, aber es war immer noch viel zu viel.

Zwei Journalisten kritisierten Sie dafür, nicht darauf einzugehen, worum sich die Berichte drehten – etwa um soziale Konsequenzen der Pandemie.
Ich bleibe nach wie vor dabei, dass die exzessive Menge ein Problem ist. Die Kritik, die von wenigen Journalisten zu diesem Artikel gekommen ist, steht übrigens im totalen Gegensatz zu den Reaktionen der Leser. Ich habe in meiner 50-jährigen Karriere als Beobachter noch nie so viel positives Echo gekriegt wie auf diesen Artikel in der Süddeutschen Zeitung. Und das waren gebildete Leser, die man nicht in die Aluhut-Ecke drängen kann.