
- „Lügenäther? - Ja, unbedingt!“
Knapp drei Jahre nach seinem aufsehenerregenden Interview im Cicero in der Hochphase der Flüchtlingskrise nimmt Peter Sloterdijk ausführlich dazu Stellung. Ein Fundstück
Mitte Januar 2016 sind mein Kollege Alexander Kissler und ich zu einem ausführlichen Interview mit Peter Sloterdijk nach Karlsruhe gereist. Es war die aufgewühlte Zeit der akuten Flüchtlingskrise, Köln war unmittelbar vorher passiert, und der wortgewaltigste und streitfreudigste Philosoph Deutschlands nahm sich zwei Stunden Zeit für ein Gespräch, an dessen Ende, wie er formulierte, „tausende Flüchtlinge mehr die Grenze überschritten haben“.
Münkler vs. Sloterdijk
Das Interview erschien in der Februar-Ausgabe des Cicero und sollte die kommenden Monate für eine heftige Debatte sorgen, in der vor allem der Politologe Herfried Münkler Sloterdijk scharf anging und eine an persönliche Fehde grenzende Schmähschrift in der Zeit veröffentlichte, gegen die Sloterdijk wiederum Stellung bezog.
Auch die Rolle und das Selbstverständnis von Journalisten beurteilte Sloterdijk in diesem Zusammenhang kritisch. Die „Verwahrlosung im Journalismus, die zügellose Parteinahme“ trete „allzu deutlich hervor.“
Schließlich der Satz, in dem alles Gesagte gipfelte: „Der Lügenäther ist so dicht wie seit den Tagen des Kalten Krieges nicht mehr.“
„Die schwarze Pest“
Nun hat Peter Sloterdijk zu diesem Begriff, der seither mit ihm verbunden bleiben sollte, erneut Stellung genommen. Im Interview mit dem Bayrischen Rundfunk verteidigt er ihn ausführlich:
„Wissen Sie, das ist eine medienkritische Konstante, seit der Buchdruck aufgekommen ist, seit in der Reformation die Ein-Blatt-Drucke so etwas wie eine moderne Öffentlichkeit vorweggenommen haben, seit es im 18. Jahrhundert die Zeitungen gab und die im 19. Jahrhundert entstehende Massenpresse. Seitdem war von vornherein immer klar, dass mit dem Publizieren auch eine Zunahme des desinformierenden Faktors einhergegangen ist. Eigentlich ist die Presse aus der Professionalisierung der Propaganda entstanden. Vor allem die Presse des 20. Jahrhunderts, die ja ihre Feuertaufe in der nationalen Berichterstattung während des Ersten Weltkrieges erlebt hatte. Da wurden eigentlich Leser-Öffentlichkeiten geformt, die die tägliche Sensation verlangt haben, und während der Kriegszeiten waren die nationalen Pressen in ganz Europa Waffengattungen der Kriegsführung. Die Rekonversion dieser Systeme in den zivilen Gebrauch war immer ein schwieriger und mühsamer Vorgang, weil außer der Schweizer Presse, die strukturelle Neutralität durch ihre Position erlangt hat, alle anderen National-Pressen zu tendenziöser Berichterstattung verurteilt waren. Es ist kein Zufall, dass der große Medienkritiker Karl Kraus über das gesamte Presse-System der Neuzeit eine dunkle Metapher geprägt hat, die lautet: ‚die schwarze Pest'.“
„Parodie eines Einparteiensystems“
Darüber hinaus urteilt er über Bundeskanzlerin Angela Merkel, die unter dem Druck der schlechten Wahlergebnisse der vergangenen Jahre nun den CDU-Parteivorsitz aufgibt:
„Frau Merkel hat es in einer jetzt knapp dreizehnjährigen Regierungszeit fertig gebracht, eine Stimmung der Alternativlosigkeit über das Land zu verhängen. Ich deute das als ein Mitbringsel aus ihrer DDR-Jugend, diese real existierende Parodie eines Einparteiensystems. Ich glaube, dass sie diese Aura der Ein-Partei-Wirtschaft um sich herum verbreitet und das Land mit einem Grundgefühl der Unmöglichkeit eines Wechsels infiziert hat.“