
- Haben wir angemessen auf Covid-19 reagiert?
Über kaum etwas wird so gestritten wie über Corona und die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Im wissenschaftlichen Streitgespräch treffen der „Corona-Skeptiker“ Sucharit Bhakdi und der Münchener Epidemiologe Ulrich Mansmann aufeinander.
Ulrich Mansmann ist seit 2005 Direktor des Instituts für Medizinische Informationsverarbeitung, Biometrie und Epidemiologie an der Medizinischen Fakultät der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität. Der 61-jährige Mathematiker ist einer der führenden deutschen Wissenschaftler auf dem Gebiet Public Health.
Sucharit Bhakdi ist emeritierter Professor der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Er war von 1991 bis 2012 Leiter des dortigen Instituts für medizinische Mikrobiologie und Hygiene. Der 73-Jährige forscht derzeit als Gastprofessor an der Kieler Christian-Albrechts-Universität. Er gilt als einer der bekanntesten Kritiker der deutschen Anti-Corona-Maßnahmen. Unlängst erschien sein Buch „Corona Fehlalarm?“ (mit Karina Reiß) bei Goldegg.
Herr Bhakdi und Herr Mansmann, wir treffen uns hier in Hamburg, und Sie sind beide soeben mit dem Zug angereist. Hatten Sie wegen Corona ein ungutes Gefühl in der Bahn?
Prof. Ulrich Mansmann: Es war für mich seit März die erste Bahnfahrt. Deshalb war ich gespannt, wie es im Zug aussehen wird. Und es war sehr entspannt, es waren nur wenige Passagiere in den Waggons, alle trugen Masken, alle haben sich sehr vorbildlich verhalten. Insofern entstand für mich nicht das Gefühl, einer Gefahr ausgesetzt zu sein.
Prof. Sucharit Bhakdi: Ich wollte eigentlich auch mit der Bahn kommen, habe mich dann aber doch für das eigene Auto entschieden. Denn ich gehöre wie viele Millionen Menschen in diesem Land zu den latenten Hypertonikern. Das heißt, mein Blutdruck ist an der Grenze. Und wenn ich in einen Stresszustand komme, zum Beispiel, wenn ich eine Maske tragen muss, steigt mein Blutdruck über die Grenze der Therapiebedürftigkeit. Deswegen habe ich ein Befreiungsattest. Aber weil die Bahn diese Atteste nicht mehr anerkennt, hätte ich eben doch eine Maske tragen müssen. Deswegen bin ich dem Rat meiner Frau gefolgt und habe auf die Bahnfahrt verzichtet.
Herr Bhakdi, in Ihrem Buch „Corona – Fehlalarm?“ kritisieren Sie, Politik und Medien hätten ein irreführendes Bild über die Gefährlichkeit des neuen Virus verbreitet. Was meinen Sie genau?
Bhakdi: Die Gefährlichkeit eines Virus kann nur daran gemessen werden, wie viele Tote gefordert werden durch die entsprechende Infektionskrankheit. Und die Antwort ist schlicht und einfach, dass dieses Virus nicht mehr Tote fordert als eine mittelschwere Grippewelle.
Mansmann: Ich denke, neben den Toten wird es auch Spätfolgen des Coronavirus geben, die sind noch völlig unklar. Und es hat sich schon gezeigt, dass viele Leute selbst mit nicht so großen Symptomen an Spätfolgen leiden – wie etwa Müdigkeit oder Depressionen. Und letztendlich ist es ja ein Virus, das alle Organe befallen kann. Es ist eben kein Virus, das allein in der Lunge bleibt. Da sind noch viele Fragen offen.
Bhakdi: Aber diese offenen Fragen gelten auch für die anderen Coronaviren, auch für die anderen Grippeviren. Die Grippeviren greifen bekanntermaßen auch Organe an. Und von Spätfolgen können wir noch gar nicht reden, weil wir dazu noch keine Daten haben. Das dauert Jahre. Bislang gibt es jedenfalls keine Hinweise auf irgendwelche ungewöhnlichen Schäden außerhalb der Lunge.
Muss man nicht trotzdem Vorsorge treffen, Herr Mansmann?
Mansmann: Als der Lockdown ausgerufen wurde, war nicht klar, was für eine Krankheit auf uns zukommt. Dann gab es erste Daten aus China – ein Reproduktionswert von 2,2. Jeder normale Epidemiologe hätte bei dieser Zahl sofort Angst bekommen. Man hat ausgerechnet, dass Milliarden Menschen betroffen sein würden, wenn diese Epidemie nicht kontrolliert werden kann. Und ich denke, das waren Signale, die am Anfang doch auch Angst erregt und die auch gewisse Schritte begründbar gemacht haben. Ein Lockdown war damals begründet.
Bhakdi: Ich habe nichts dagegen einzuwenden und meine auch, dass die ergriffenen Maßnahmen am Anfang sinnvoll waren. Aber man hätte regelmäßig überprüfen müssen, ob es gerechtfertigt ist, diese Maßnahmen aufrechtzuerhalten. Und jetzt, Mitte August, bin ich definitiv der Meinung, dass es reicht.
Herr Mansmann, halten Sie die derzeitigen Eindämmungsmaßnahmen noch für verhältnismäßig und angemessen?
Mansmann: Die Corona-Maßnahmen haben sich ja inzwischen geändert. Es gibt eine lokale Kontrollzahl, das sind die 50 Fälle an Neuinfektionen pro Woche pro 100 000 Menschen. Darüber kann man diskutieren, aber ich glaube schon, dass diese Zahl eine vernünftige Grundlage darstellt, um über entsprechende Eindämmungsmaßnahmen zu entscheiden. Im Moment wird ja darüber nachgedacht, wie man mit Schulen und Kindergärten umgeht. Das sind die wichtigen Fragen, die da im Raum stehen. An dem Punkt schließe ich mich übrigens der Kritik von Herrn Bhakdi an, dass während der Pandemie schon ein bisschen versäumt wurde, mit wissenschaftlichen Instrumenten wichtige praktische Fragen des weiteren Verlaufs anzugehen.