
- Das Fieberthermometer der Erregokratie
70 Jahre nach ihrer Gründung ist die Bundesrepublik zur Kampfzone geworden. Ausdruck ihrer Krise ist der Aufstieg der AfD. Je stärker die Altparteien sie verdammen, desto mehr werten sie sie auf. Im Parlament kann sich die Partei als „außerparlamentarische Guerilla“ profilieren. Ein Buchauszug
Deutschland wird seit vier Jahren von der Alternative für Deutschland regiert, weil alle anderen auf sie reagieren, als sei sie tatsächlich eine Alternative. Die AfD ist Symbol und Ausdruck einer Verwerfung. An ihr und durch sie lassen sich auf fabelhafte Weise Eigenschaften, Haltungen, Entwicklungen zeigen und erklären, die zu dem geführt haben, was ich Erregokratie nenne.
Vieles dessen, was im diffusen Raum zwischen wert- und strukturkonservativ, rechts, rechtsnational, rechtssozialistisch, rechtspopulistisch und rechtsextrem angesiedelt ist, wird von der AfD abgedeckt. Mal aggressiver, mal staatstragender, mal clever, mal langweilig, mal instinktlos, mal geschichtsklitternd. In der Sache durchaus geschickt, im offiziellen Programmduktus weitgehend unverdächtig, in der Rhetorik bewusst plump, im Geiste getragen von Ressentiments und oft genug im Stil des Aufmucker-Triumphalismus früher einmal gemobbter Halbstarker. Mit direkter Ansprache des Bürgers („Hol dir dein Land zurück!“) entwirft sie eine pathetische Zusammenhangsfiktion gegen die große Unübersichtlichkeit und den existentiellen Verlustzusammenhang – als ob es darum ginge, ein verlorenes (oder das verlorene) Land zurückzuholen. Erstens ist das Land, also Deutschland, keineswegs verloren, und zweitens gehört das Land sowieso niemandem persönlich, weswegen es nicht einmal die AfD zurückfordern könnte (von der Welt?, von den Arabern?, von Erdgöttern?).
Profiteurin eines Paradigmenwechsels
Ohne Zweifel ist die AfD das Resultat eines großen Missverständnisses, besser noch: eines großen Unverständnisses, gesellschaftliche Wandlungen und Veränderungen in ihrer Komplexität und ungewohnt rasanten Beschleunigung wahrzunehmen. Diese Partei ist womöglich Profiteurin eines Protests, sicher aber eines Paradigmenwechsels; dass sie seit Anfang 2019 vom Verfassungsschutz als „Prüffall“ eingestuft wird, macht die Sache noch brisanter. Es hat ja keinen Sinn, eifernd und geifernd auf sie einzudreschen. Klüger wäre gewiss, die Umstände zu dreschen, die die Partei möglich gemacht, und jene Strukturen zu dekonstruieren, die sie hervorgebracht haben, und sozialverträgliche Wege zu finden, mit einer demokratisch legitimierten Ungewollten so umzugehen, dass Wähler, die sich nur noch durch die Alternative für Deutschland repräsentiert fühlen, nicht dämonisiert werden.
Auch wenn ihre Vertreter abwesend sind, ist die AfD stets präsent. Sie ist der weiße Elefant im Raum der Republik. Als sicht- und hörbares Gespenst geistert sie durch alle politischen und gesellschaftlichen Gassen des Landes: geht es um Flüchtlingspolitik, Gerechtigkeit, Europa, Medien, Sozialstaat. Die deutsche Politik des vergangenen Jahrfünfts – in Gestalt ihrer öffentlich wahrnehmbaren Auseinandersetzung – war geprägt von angestrengten und auf alberne Weise durchschaubaren Strategien der Ansteckungsvermeidung: Panik vor dem eigenen Rechtsruckverdacht. Auf keinen Fall wie dieser Aussatz! Gescannt wurde und wird alles und jedes auf Schnittmengenmöglichkeit mit der AfD, um entweder den politischen Gegner zu diskreditieren oder sich selbst durch Distanzierung mit dem heiligen Wässerchen des Aufrechten reinzuwaschen. Jede vermeintliche oder ahnbare oder irgendwie herstellbare Ähnlichkeit mit einer AfD-Position versetzt Politiker und Publizisten in eine Erregung, als hätten wir es mit dem Ausbruch der Beulenpest zu tun. Gesprochen wird aber direkt oder indirekt immer in Bezug auf die AfD. Anstatt eigene und überzeugende Antworten auf jene Fragen anzubieten, die die Alternativen entweder nicht beantworten wollen oder können, lautet die einzig ungefragte Antwort auf alle Fragen: Bloß die AfD nicht stark machen!
Aufwertung durch Verdammung
Wodurch genau sie stark geworden ist. Die ungeheure Aufwertung der Alternative für Deutschland durch ihre demonstrative Verdammung ist auf absurde Weise ironisch, die Salonfähigkeitsbeförderung dieser Partei durch den ständigen Bezug der anderen auf sie dagegen ein dramatischer Widerspruch in sich. Es tritt ein, was unbedingt vermieden werden wollte: Die AfD ist zu einer Marke geworden, mit unverwechselbarem Image und eindeutiger Positionierung, wie es sie sonst kaum gibt. Eine Klartext- und Erlöser-Partei, die den infantilen Satz „Man wird ja wohl noch sagen dürfen“ zum politischen Programm erhoben hat und mit der Ansage „Wir erzählen von nun an, was wirklich Sache ist“ paraphrasiert.
Im Endeffekt ist die AfD im babylonischen Gezwitscher von Soundbites, Meinungsfetzen und Tweet-Kaskaden unerhört hörbar geworden, so dass alle Versuche, sie als lästiges Exkrement aus der politischen Peristaltik auszuscheiden, nahezu scheitern und in Darmkrämpfen enden müssen, weil die Dynamik der Aufmerksamkeits-Ökonomie nicht mitbedacht wurde: Jede Bestätigung ihrer scheinbaren Minderwertigkeit stärkt die AfD in ihrem Selbstverständnis als außerparlamentarische Guerilla im sonst so gesitteten Parlament. Sie ist, um Alternative sein zu können, geradezu angewiesen auf ihre Verachtung durch alle anderen, wofür sie tut, was nötig ist: hier eine rhetorische Grenzüberschreitung, dort ein berechneter Bruch mit dem Comment, hier ein erfundener Zusammenhang, dort ein bewusst zweideutiger Satz, gelegentlich zutreffende Analysen, sogar sinnvolle Vorschläge, fast immer mit der Strategie kalkulierter direkter wie indirekter Angriffe auf das Juste-Milieu der von ihr so genannten »Altparteien«.
Dr. Gauland, der Jäger der Etablierten
Und alle reagieren. Sie wüten und zetern, hyperventilieren und schäumen, wie man es in der bisher eher biederen, auf Formelkompromisse ausgelegten deutschen Parteien-Parlaments-Demokratie gar nicht für möglich gehalten hätte. Sollte ein PR-Berater oder Spindoctor eine Marketing-Kampagne für die AfD entwerfen, er bräuchte – neben gelegentlich gut getimten Provokationen – nur zur Gelassenheit raten: zurücklehnen, nichts tun, Tee trinken. Für AfD-PR sorgen alle anderen Parteien und Teile der ersten Öffentlichkeit von Zeitungen, Magazinen und des Rundfunks wie der zweiten in den sozialen Netzwerken. Leser und Hörerkommentare bezüglich der AfD überschreiten bei Weitem das übliche Maß an Kritik und Engagement. Dr. Gauland, der Jäger der Etablierten, muss nur mit dem präfaschistischen Schwänzchen wedeln und das rechtsextreme Stöckchen hinhalten, dann springt und ficht die Meute.
Natürlich fällt, geht es um existentielle Politik, in einem von historischer Analogiewut befallenen Land handelsüblich der Name Weimar, als stünden wir wieder kurz vor Hitlers Machtergreifung. Wissen die, die so leichthin die Weimarer Republik als Menetekel bemühen, was in den 1920er- und 30er-Jahren geschah, als die erste deutsche Demokratie an den Fronten des sich selbst bekämpfenden Volkswillens zerschellte und Revisionisten gegen den Versailler Vertrag aufbegehrten?
Dieser Text stammt aus dem Buch „In der Kampfzone, Deutschland zwischen Panik, Größenwahn und Selbstverzwergung“, Penguin Verlag, 304 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, 22 Euro.