Demonstration von Gegnern des Mullah-Regimes in Teheran / picture alliance

Massenproteste im Iran - Die unheimliche Macht der Revolutionsgarden

Seit Wochen protestieren insbesondere junge Iraner massenhaft gegen das Regime. Vor allem im Westen wird deshalb auf einen baldigen Sturz der klerikalen Herrscher spekuliert. Doch das geht an der Realität vorbei, denn da ist noch ein Machtfaktor, gegen den es praktisch kein Ankommen gibt: die Revolutionsgarden mit ihrer nicht zuletzt wirtschaftlichen Kraft.

Autoreninfo

Hilal Khashan ist Professor für Politische Wissenschaften an der American University in Beirut und Autor bei Geopolitical Futures.

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Nach den wochenlangen Massenprotesten wird vielfach spekuliert, dass das iranische Regime kurz vor dem Zusammenbruch steht. Aber das ist nicht neu. Seit 1979 haben ausländische Beobachter und einheimische Regimegegner bei jedem Ausbruch von Massenprotesten den Sturz des Regimes vorausgesagt. Während der Proteste im Jahr 2018 äußerte sich beispielsweise der Leiter des Nationalen Widerstandsrats des Iran optimistisch über einen baldigen Untergang. Bald stellte sich aber heraus, dass die Regierung nicht nur überlebt hatte, sondern sogar stärker geworden war und im gesamten Nahen Osten Macht ausstrahlt. 

Die aktuellen Unruhen begannen im September, nachdem eine 22-jährige Frau in Gewahrsam der Sittenpolizei gestorben war. Frauen spielten auch bei den Unruhen in den Jahren 2017-18 eine zentrale Rolle, als ähnliche Forderungen erhoben wurden, wie sie die Iraner heute stellen.

Bei den aktuellen Demonstrationen fordern die Demonstranten jedoch nicht nur soziale und politische Reformen, sondern den vollständigen Sturz des Regimes. Einem jungen Aktivisten zufolge handelt es sich bei den Protesten nicht mehr um eine Reformbewegung, sondern um eine revolutionäre Avantgarde, die eine neue Nation hervorbringen will. Nach vielen finanziellen, sozialen und kulturellen Umwälzungen, von denen vor allem Frauen und ethnische Minderheiten betroffen sind, ist ein erheblicher Anteil des iranische Volks der Auffassung, dass es nun genug ist. Junge Menschen aus allen Gesellschaftsschichten haben nichts zu verlieren und scheinen entschlossen, die Proteste fortzusetzen.

Unvermeidlicher Wandel

Ein politischer Wandel im Iran mag unvermeidlich sein, aber er steht nicht unmittelbar bevor. Nach zehn Wochen der Demonstrationen scheint das Regime nicht bereit, Zugeständnisse zu machen. Vielmehr zeigt es sich zuversichtlich, dass die Proteste schließlich abebben werden, so wie es bei früheren Unruhen der Fall war. Die Protestbewegungen der Vergangenheit zogen Millionen von Menschen aus dem ganzen Land an, die unterschiedliche ethnische und religiöse Hintergründe vertraten. Die aktuellen Proteste beschränken sich jedoch auf Tausende meist junger Demonstranten, die in kleinen Gruppen organisiert sind, und es ist ihnen nicht gelungen, die Mittelschicht in den Kampf mit einzubeziehen.
 
Die Unruhen sind keine echte Überraschung. Die derzeitige politische Zusammensetzung des Irans ist unhaltbar, und seine religiöse Ideologie ist veraltet. Das Korps der Islamischen Revolutionsgarden hat die Notwendigkeit erkannt, den Staatsapparat zu straffen, politische Konkurrenten auszuschalten, die Macht zu monopolisieren und ein Gleichgewicht zwischen Säkularismus und schiitischem Islam herzustellen. Die Bewahrung der komplexen nationalen Identität Irans, die sich über alle Ethnien hinweg erstreckt, ist für die Revolutionsgarden von überragender Bedeutung. Da die Kräfte, die früher den politischen Wandel herbeigeführt haben, nicht mehr vorhanden sind, halten sie einen erfolgreichen Aufstand nicht für möglich.

Eine dieser Kräfte ist der iranische Basar, ein großer Marktplatz, der sich im Laufe der Jahrhunderte zu einer wirtschaftlichen Institution entwickelt hat und für die kapitalistische Tradition des Iran steht. Der Basar war eine der drei Säulen des iranischen politischen Systems, die anderen beiden waren der Klerus und die politische Elite. Im Laufe der Jahre hat er seine Rolle als Träger des politischen Wandels eingebüßt; vor Jahrzehnten brachten die kapitalistischen Verhältnisse, die aus den europäischen Importen resultierten, Veränderungen mit sich, die die Säulen der traditionellen Gesellschaft erschütterten und zu Bündnissen zwischen dem Basar und dem Klerus führten, die gegen die Monarchie arbeiteten. Diese Bündnisse hatten weit verbreitete Protestbewegungen gegen die autokratische Herrschaft der Qajar-Könige und später des letzten Schahs von Iran, Mohammad Reza Pahlavi, zur Folge.

Die revolutionäre Kraft des Basars

Zu diesen Aufständen gehörten die Tabakkonzessionsproteste von 1891, die konstitutionelle Revolution von 1906, die Bewegung zur Verstaatlichung der Ölindustrie von 1950, der Aufstand vom Juni 1963 und die islamische Revolution von 1979. Die Tabakproteste, die von Ladenbesitzern und Kaufleuten getragen wurden, gingen hauptsächlich vom Teheraner Basar aus. Sie bildeten das Rückgrat der Verfassungsbewegung, an der sich Kleriker und andere gesellschaftliche Gruppen gegen den Schah der Qajaren, Nasser al-Din Schah, beteiligten. An der Bewegung zur Verstaatlichung der Ölindustrie waren ebenfalls Basarhändler beteiligt, die Ayatollah Kashani und den Nationalistenführer Mohammad Mossadegh unterstützten. Die Unterstützung durch die Händler war auch entscheidend für den Erfolg des Aufstandes von 1963 und der islamischen Revolution 16 Jahre später.

Der vorrevolutionäre Basar war eine aktive Institution innerhalb der iranischen Zivilgesellschaft und spielte durch sein Bündnis mit dem Klerus eine wichtige Rolle bei der Einschränkung und schließlich dem Sturz der Monarchie. Im Vorfeld der Revolution organisierten die Händler und Geistlichen etwa zwei Drittel der Demonstrationen und Aufmärsche in den iranischen Städten und bildeten Dutzende von finanziellen Unterstützungsgemeinschaften.

Nach der Revolution änderte sich jedoch das Verhältnis zwischen dem Basar und der Regierung. Die traditionellen Basarhändler wurden Teil des politischen Establishments, übernahmen politische und wirtschaftliche Positionen im Staat und verloren so ihren Einfluss in der Zivilgesellschaft. Der Basar spaltete sich in zwei Lager – ein mit dem Regime verbündetes und ein regierungsfeindliches –, aber die Spaltung wurde erst nach dem Ende des iranisch-irakischen Krieges 1988 deutlich, genauer gesagt während der Amtszeit von Präsident Haschemi Rafsandschani von 1989 bis 1997.

Revolutionsgarden als Wirtschaftsfaktor

Rafsandschani ermögliche es den Iranischen Revolutionsgarden, sich zu einem wirtschaftlichen Machtfaktor zu entwickeln. Im Mai 2004 verhinderten die Revolutionsgarden die Eröffnung des Imam-Khomeini-Flughafens in Teheran durch den reformorientierten Präsidenten Mohammad Chatami, weil er den Löwenanteil an dessen Betrieb kontrollieren wollte. Der konservative Mahmud Ahmadinedschad, damals Bürgermeister von Teheran, ermöglichte es den mit den Revolutionsgarden verbundenen Unternehmen, die Aktivitäten des Privatsektors zu dominieren. Die Gruppe behielt auch erheblichen Einfluss auf das politische System, einschließlich der Justiz, des Parlaments und der Präsidentschaft, um die Ausweitung ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten zu gewährleisten, obwohl der Oberste Führer Ayatollah Ruhollah Khomeini die Einmischung des Militärs in politische Angelegenheiten verboten hatte.

 

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Die Revolutionsgarden verhalfen Ahmadinedschad zum Sieg bei den Präsidentschaftswahlen 2005 und 2009. Während seiner Amtszeit wurden die militärischen Elemente im Parlament, in der Regierung, in den Gouvernements und in den Gemeinderäten ausgebaut. Die Revolutionsgarden schlossen den Privatsektor von den meisten Projekten in der Ölindustrie und im Straßenbau aus. Sie investierten in das Verlagswesen, die Medien und den Journalismus und nutzten die Wirtschaftssanktionen, um die Einfuhr von Schmuggelwaren und Rohstoffen auszuweiten, was Ahmadinedschad dazu veranlasste, die Befehlshaber der Revolutionsgarden als „Schmuggelbrüder“ zu bezeichnen. Die Revolutionsgarden bauten sogar geheime Häfen, um Waren ins Land zu bringen. Ihre jährlichen nicht steuerpflichtigen Einnahmen aus illegalen Geschäften belaufen sich auf mehr als 140 Milliarden Dollar. Insofern besteht längst eine große Kluft zwischen den traditionellen Basarhändlern und den neuen Händlern in der iranischen Militärbürokratie. Der Hafen von Dubai und die Freihandelszonen auf den Inseln Kish und Qeshm haben den Basar weiter geschwächt und seine Fähigkeit, die Politik zu beeinflussen, vereitelt.

Der Basar als Institution verlor nach der Revolution seine Homogenität. Die großen Kaufleute, die seinen Erfolg mitfinanziert hatten, schlossen sich der politischen Elite an und wurden zu einem der Bestandteile des neuen politischen Systems. Sie gaben die Produktion auf und konzentrierten sich auf den Import und den Vertrieb von Waren, bis eine neue Klasse von revolutionsgarden-nahen Kaufleuten aufkam. Diese wirtschaftlichen Veränderungen führten zu einer Zersplitterung der Konservativen in rivalisierende politische Gruppierungen.

Geschwächte Konservative

Die Konservativen im Iran sind heute geschwächt und uneins über die Wahl eines Nachfolgers des derzeitigen Obersten Führers Ayatollah Ali Khamenei, der den Titel an seinen Sohn weitergeben möchte und ihm bereits den Titel eines Ayatollah verliehen hat. Khamenei hat vor kurzem den Chef des Geheimdienstes der Revolutionsgarden entlassen, weil der die Vererbung des Amtes ablehnte. Gegenwärtig gibt es innerhalb des iranischen Regimes keine Person, die mit Unterstützung der politischen Akteure der verschiedenen Fraktionen die Führung übernehmen könnte. Alle politischen Führer, die als Kandidaten in Frage kämen, haben eine kontroverse Vergangenheit, die sie für einige inakzeptabel macht. Außerdem gibt es keine unabhängige und charismatische religiöse Persönlichkeit, die das sich abzeichnende politische Vakuum füllen könnte.

Derweil ist das religiöse Establishment auf die Vergangenheit fixiert. Es kann nicht von unpopulären Thesen ablassen, wonach der Westen, insbesondere die Vereinigten Staaten, als Hauptfeind zu betrachten sind. Unter diesem Gesichtspunkt gibt es für den Iran nur einen Weg nach vorn: mit Stärke voranzugehen und sich nicht einschüchtern zu lassen. Nur sehr wenige Iraner akzeptieren die antiquierte Argumentation des Establishments, und die meisten stören sich an Khameneis abfälligen Äußerungen über die Demonstranten, die er entweder als getäuscht oder als Agenten des ausländischen Feindes bezeichnet (letzteres steigert nur ihre Wut und ihre Entschlossenheit, weiter zu protestieren).

Die politische Instabilität wird wahrscheinlich anhalten, da der Widerstand gegen jeden Nachfolger des Obersten Führers unvermeidlich ist. Die prominentesten Kandidaten sind allesamt über 80 Jahre alt; zwei jüngere potenzielle Anwärter sind immerhin der derzeitige Präsident Ebrahim Raisi und der Leiter des Justizwesens, Amoli Laridschani. Sie stammen jedoch aus einer ähnlichen Denkschule wie Chamenei und sind für Reformen, geschweige denn für politische Veränderungen, nicht zugänglich.

Massiver Wandel der iranischen Gesellschaft

Seit der Revolution von 1979 hat die iranische Gesellschaft einen massiven, unerwarteten und tief greifenden kulturellen Wandel erlebt, der sie gespalten hat in säkular eingestellte Menschen und religiöse Enthusiasten, die sich der Mission der Revolution verschrieben haben. Um zu erahnen, was vor uns liegt, muss man sich die gesellschaftlichen Gegebenheiten während des Wechsels der obersten Führer vor Augen führen.

Die Verteidiger des islamischen Regimes haben das Konzept des kollektiven Charismas eingeführt, wenn es um die revolutionäre Generation geht, die den Schah gestürzt hat. Nach diesem Konzept, bei dem das Charisma nicht vom Einzelnen, sondern von der Gruppe ausgeht, leitet der zeremonielle oberste Führer seinen Status vom Charisma der Position ab und nicht umgekehrt. Die Geschichte des religiösen Establishments ist voll von Konflikten mit dem politischen Establishment, doch hat es eine beachtliche Fähigkeit zum Durchhalten bewiesen. 

Das Regime wird nicht stürzen, sondern sich neu erfinden. Seine Strategie, um die derzeitigen Unruhen zu überleben, besteht darin, den Demonstranten so viel Angst einzujagen, dass sie zu Hause bleiben. Mit der Unterstützung irakischer und libanesischer schiitischer Milizen haben die Behörden exzessive Gewalt und Strafen eingesetzt, einschließlich der Todesstrafe, um diejenigen einzuschüchtern, die einen Wandel fordern. Teheran hat auch versucht, den Fokus zu verlagern, indem es Ziele im Nordirak angriff und behauptete, damit auf extremistische kurdische Gruppen zu reagieren, die Waffen ins Land schmuggelten.

Die meisten Iraner werden keine grundlegenden Veränderungen anstreben, die ihre nationale Identität berühren, da sie glauben, dass dies zu einem Zerfall des Landes führen könnte. Die Revolutionsgarden hingegen werden sich an die Macht klammern und sich als Erste unter Ungleichen darstellen – genau wie die Militärs in anderen Ländern der Region, etwa in Ägypten und Algerien. Höchstwahrscheinlich wird die Bevölkerung den Übergangsprozess akzeptieren, solange er die Konservativen aus dem Entscheidungsprozess ausschließt, ohne die Rolle des Schiismus bei der Sicherung der territorialen Integrität Irans und der Wahrung seiner nationalen Identität zu untergraben.

 

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Tomas Poth | Di., 29. November 2022 - 11:31

Die religiöse Inbrunst ist eine Geisel der Menschen, der Gesellschaft. Dabei ist es egal ob es um Religion oder Ersatz-Religionen, wie z.B. Ideologien oder wissenschaftlich verbrämte und politisch geförderte Apokalypsen geht, den Betreibern dieser "Visionen" geht es am Ende immer um ihre eigene Macht und den eigenen wirtschaftlichen Nutzen.
Ich wünsche den widerständigen Iranern Mut, Kraft, Ausdauer und gutes Gelingen.

Gabriele Bondzio | Di., 29. November 2022 - 13:16

"Die Verteidiger des islamischen Regimes haben das Konzept des kollektiven Charismas eingeführt, wenn es um die revolutionäre Generation geht, die den Schah gestürzt hat."

Ein wichtiger Satz, Herr Khashan.
Denn unter dem Schah waren ja westliche Verhältnisse da und wurden weiter ausgebaut.

Das "Konzept des kollektiven Charismas" ist ja vorallem für die Männer aufgegangen und da glaube ich auch nicht, dass hier grundlegende Änderungen gewünscht werden.
Zumindest nicht bei denen, die sich in seiner Ummantelung wohl fühlen.

"Das Regime wird nicht stürzen, sondern sich neu erfinden."

oder:

"Revolution=Das Feuer, an dem die einen verbrennen und die anderen ihre Suppe kochen."
-John Carrick (*1918), austral. Politiker

Ernst-Günther Konrad | Di., 29. November 2022 - 16:52

Die Freiheit fordernden Iraner kämpfen eben nicht nur gegen das Mullah Regime. Sie haben als weitere Gegner, das sehe ich auch so Herr Khasan, die Revolotuionsgarden gegen sich, die jederzeit, sollten die Mullahs stürzen bzw. von den Garden selbst gestürzt werden, mit Sicherheit die Macht ergreifen und da weiter machen werden, wo die Mullahs aufhören ggfls. mussten. Der für mich jedoch größte Feind ist ihr eigenes Verhältnis zu ihrer Religion und die daraus resultierenden Machtkämpfe der Clans innerhalb des Glaubens. Ich fürchte deshalb, dass trotz berechtigtem Aufstand, derselbe blutig und verlustreich mit aller Härte niedergeschlagen werden wird.
NUr gewandelte Revolutionsgarden, die bereit wären den säkulariesierenden Staat einzuführen höätten vielleicht eine Chance. Aber auch bei denen gibt es eben fanatische Gläubige und deshalb bewegt sich der gesamte Protest im Hamsterrad, so sehr man den Menschen dort Freiheit wünscht. Sie sind in das System geboren und ich sehe keinen Ausweg.