
- Moral ist keine Politik
Das derzeit konfrontative Auftreten des Westens gegenüber Russland basiert auf falschen Vorstellungen von Außenpolitik. Hier geht es nicht um zeitlose Normen, sondern um die Eigendynamik von Großmachtpolitik. Dies gilt es zu akzeptieren und dabei die eigenen und die russischen Interessen gleichermaßen im Auge zu behalten.
Zu den Lieblingsphrasen nicht nur deutscher Politiker – aber insbesondere dieser – gehört die Aufforderung, aus der Geschichte zu lernen. Wobei leider immer etwas unklar bleibt, was genau man aus der Geschichte lernen soll. Dass Kriege fürchterlich sind und Massenmord verwerflich? Wer meint, das erst noch lernen zu müssen, soll es tun. Alle anderen stehen ratlos da. Analyse und Rationalität werden einmal mehr ersetzt durch erbauliches Sentiment.
Doch das einfältige Gerede vom Lernen aus der Geschichte ist nicht nur von erheblicher Naivität. Es ist vor allem gefährlich, da es falsche Akzente setzt. Eben weil es so betroffenheitsschwanger daherkommt, fokussiert es auf Moral, auf hehre Prinzipien und große Werte. Was politische und historische Prozesse jedoch antreibt, sind institutionelle Strukturen und Machtkonstellationen. Es sind die komplexen Systeme von Herrschaft, Abhängigkeiten und Einfluss, die historische Abläufe gegebenenfalls in eine katastrophale Richtung lenken können – und nicht etwa ein Mangel an zivilgesellschaftlichen Werten. Plastisch formuliert: Der Erste Weltkrieg brach aus, weil ein komplexes Geflecht aus Bündnissystemen, Rückversicherungsgarantien und Interessenlagen eine brisante Eigendynamik entwickelten – und nicht, weil es in Paris, Berlin oder London keine Ethikräte gab.