Corona schafft, was den Parteien unmöglich erscheint: Weniger Sitze für Bundestagsabgeordnete / dpa

Wahlrechtsreform im Koalitionsausschuss - Man hätte es gleich den Experten überlassen sollen

Die „Übergangslösung“, die der Koalitionsausschuss gefunden hat, um die Anzahl der Mandate im aufgeblähten Bundestag zu verringern, dürfte minimale Auswirkungen haben. Dabei könnte ein vernünftiger Reformvorschlag längst auf dem Tisch liegen.

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Stefan Dietrich leitete bis 2011 das Ressort Innenpolitik bei der FAZ und lebt heute als Publizist in Celle

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Fünf nach zwölf soll auf einmal alles ganz schnell gehen. Eine Wahlrechtsreform, die der frühere Bundestagspräsident Norbert Lammert Ende 2013 auf die Tagesordnung des Bundestags gesetzt hat, um den Wildwuchs des Parlaments einzudämmen, wird im August 2020 mit höchster Dringlichkeit im Koalitionsausschuss verhandelt, wo sie überhaupt nicht hingehört. Drei der vier Parteiführer, die da zusammensaßen, gehören dem Bundestag nicht einmal an. 

Was für ein Kompromiss sollte dabei herauskommen? All die Jahre hat sich die Unionsfraktion mit Händen und Füßen gesträubt, die Wahlkreise zu verringern. Nun auf einmal bestand sie darauf, ihre Zahl von 299 auf 280 zu senken, also eine Reduktion in homöopathischer Dosis zuzulassen.

Das Publikum schwindelig geredet

Die SPD verwies kühl darauf, dass der Zug für den Neuzuschnitt der Wahlkreise längst abgefahren sei, weil die Nominierung der Kandidaten für Oktober 2021 schon in vollem Gang sei. Auf ihre Ablehnung sattelte sie noch einen Vorschlag drauf, von dem sie ebenfalls wusste, dass er für die Union unannehmbar ist: die geschlechterparitätische Besetzung der Listen.

Die Parteivorsitzenden, die am Dienstag beieinander saßen, um erst lang die Corona-Hilfen und dann kurz die Wahlrechtsreform zu besprechen, konnten den Knoten nicht durchschlagen, den sie selbst gestrickt haben. Schon im Vorfeld ging es nur noch darum, das Publikum schwindelig zu reden. Niemand sollte erkennen können, wer was wollte und warum es wieder nicht geklappt hat. 

Ein Bonus für die Union

Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) munkelte: „Ich habe aber das Gefühl, dass einige SPD-Strategen denken, ein größeres Parlament könnte für ein rot-rot-grünes Bündnis erfolgversprechender sein.“ Die „Verzögerung“ des Koalitionspartners wirke daher „taktisch motiviert“. SPD-Chef Norbert Walter-Borjans konterte, die Union komme immer nur mit Vorschlägen, die nur ihr einen Vorteil verschafften.

Da hatte er leider recht. Denn der eigentliche Haken an dem Vorschlag von CDU und CSU war, dass sie einen Bonus für sich selbst eingebaut hatten. Quasi als Entschädigung dafür, dass sie der Verringerung der Direktmandate zustimmt, verlangte die Union, dass sieben Überhangmandate künftig nicht mehr zu Ausgleichsmandaten bei den anderen Fraktionen führen.

Rechtlich hochriskant

Rechtlich wäre das hochriskant. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar 2012 entschieden, dass bis zu 15 ausgleichslose Überhangmandate toleriert werden könnten, jedoch nur, wenn sie sich „als Nebenfolge einer wahlrechtlichen Systementscheidung“ ergäben, wie der Konstanzer Staatsrechtler Schönberger schreibt. Nicht zulässig wäre hingegen, „ausgleichslose Überhangmandate als gezieltes, potentiell mehrheitsverzerrendes Gestaltungsinstrument“ einzusetzen. 

Ein kleines Stückchen rückten die CDU-Vorsitzende Kramp-Karrenbauer und Söder davon ab. Statt eines Kompromisses kam trotzdem nur eine „Übergangslösung“ heraus: Die Wahlkreise bleiben erst einmal unangetastet, die wundersame Mandatsvermehrung wird mit „Dämpfungsmaßnahmen“ eingehegt, und als Krönung wird eine Kommission berufen, die das Wahlrecht in der nächsten Legislaturperiode wetterfest machen soll. Ein Punkt für die SPD, dem die Union leichten Herzens zustimmen konnte, ist die Beibehaltung der Wahlkreisgrößen. 

Blickt da noch jemand durch?

Wie sehen nun die Dämpfungsmaßnahmen aus? Eine davon ist die teilweise Einschränkung des Sitzkontingentverfahrens. Das Sitzkontingentverfahren ist jener Teil unseres Wahlrechts, das nach glaubwürdigen Aussagen aus dem Bundestag höchstens fünf Abgeordnete aus dem Stegreif erklären können. Es handelt sich darum, dass schon vor dem Wahlgang die Bevölkerungszahlen der einzelnen Bundesländer auf deren Anteile an den zu verteilenden Mandaten ausgerechnet werden. Weil auch diese Prozedur ein Wachstumstreiber ist, soll sie nun etwas nach unten manipuliert werden. Blickt da noch jemand durch?

Die zweite Stellschraube sind die „ausgleichslosen Überhangmandate“. Statt der von der Union geforderten sieben soll es davon 2021 nur noch drei geben. Die Auswirkungen dürften minimal sein. Es bleibt aber der Makel der verfassungsrechtlichen Angreifbarkeit, weil hier gezielt eine Verzerrung des Wählerwillens in die Verhältniswahl eingebaut wird. Schon aus diesem Grund werden die Regierungsparteien keine Zustimmung der Oppositionsparteien erhalten. Sie werden die 23. Änderung des Wahlgesetzes gegen alle Gepflogenheiten nur mit eigener Mehrheit durchs Parlament bringen. 

Nur den eigenen Vorteil gesucht

Die Kommission schließlich, die nach den Worten Kramp-Karrenbauers bis 2025 „eine richtige Wahlreform“ zustande bringen soll, steht ebenfalls unter keinem guten Stern. Die Regierungsfraktionen, die bisher mit beinharter Selbstbedienungsmentalität nur ihren eigenen Vorteil gesucht haben, wollen nun neben Oppositionsabgeordneten „auch Experten“ hinzuziehen.

Ein vernünftiger Reformvorschlag könnte längst auf dem Tisch liegen, wenn man die Aufgabe gleich den 100 Staatsrechtlern übertragen hätte, die den Bundestag vor einem Jahr öffentlich aufgefordert haben, die Mandatsexplosion zu verhindern. Experten sind sich zwar auch nie einig, doch von ihnen dürfte man bei diesem Thema erwarten, dass sie um die fairste und transparenteste Lösung streiten und nicht ihre Pfründe verteidigen. 

Letztlich liegt es natürlich in der Verantwortung des Bundestags, seine eigene Funktionsfähigkeit zu erhalten. Deutschland ist im globalen Maßstab ein mittelgroßes Land. Es braucht nicht das größte Parlament der demokratischen Welt. Ob die großkoalitionäre Übergangslösung wenigstens das Gespenst eines Bläh-Bundestags von 800 oder mehr Abgeordneten vertreiben kann, wird sich in einem Jahr herausstellen. Die Hängepartie um die Wahlrechtsreform geht in die nächste Runde.

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Ernst-Günther Konrad | Mi., 26. August 2020 - 19:22

In Zeiten der Wirtschaftskrise und dem noch ausstehenden Wirtschaftscrash soll das die unzufriedene Bevölkerung beruhigen. Eine typische politische Beruhigungspille. Die AFD und von mir aus auch Lammert, haben das seit 2013 gefordert. Sieben Jahre jetzt her und "keine" Zeit, Experten an diese Sache heran zu lassen. Stattdessen wieder das gleiche Spiel. Die Politik wird niemals ohne Druck das Thema wirklich ernsthaft und bürgernah umsetzen. Da ist keiner besser als der andere. Jeder will Pöstchen sichern oder am liebsten versteckt noch weitere Pöstchen schaffen. Da gehören Fachleute und neutrale Bürger in einen kleinen Arbeitskreis, der verschiedene Modell erarbeitet und dann dem Volk, darf ich das noch schreiben, mit Erklärung aller Vor- und Nachteile zur Abstimmung vorgelegt. Nein, ich habe nicht in einer Shisha Bar am THC genascht und mein Hirn einnebeln lassen. Ich habe das getan, was viele Menschen tun. Nachdenken, abwägen, mit anderen diskutieren, hier im Forum Ideen gelesen.

Der Herr Ex-Bundestagspräsident ist auch nur für eine meiner Meinung nach eingeschränkte Demokratie. Ich habe ihn nach seinen Vorschlägen in unserer Tageszeitung angeschrieben und für die Einführung einer direkten Demokratie geworben. Er hat mir seinerzeit - sinngemäß und nicht so deutlich - geantwortet, dass wir "normale Bürger" nicht alle Konsequenzen überblicken könnten und das lieber den Fachleuten in den Parlamenten überlassen sollten. Die Politik hätte schließlich auch eine Fürsorgepflicht gegenüber den Schwachen, die sich nicht so an unserer Demokratie beteiligen.

Ellen Wolff | Mi., 26. August 2020 - 19:34

Warum sollte ich diesen Politikern noch vertrauen?
Warum sollte ich nicht davon ausgehen, dass es ihnen nicht um das Gemeinwohl, sondern nur um ihre eigenen Pfründe geht? Warum sollte ich mich als Steuerzahlerin nicht völlig abgezockt von denen fühlen? Das ständige Aussitzen von unangenehmen Entscheidungen, das diese Politiker Immer wieder in unterschiedlichen Feldern an den Tag legen ist nicht mehr zu ertragen. Das ist erbärmlich, dreist und unverantwortlich. Die werden von uns allen, von jedem einzelnen, der in diesem Land Steuern zahlen muss, recht fürstlich bezahlt, die sollen verdammt noch mal ihren Job anständig machen. Möglicherweise denken die einfach nur, „ich nehm mit, was ich kriegen kann und nach mir die Sintflut“. Ich fürchte, die extremen politischen Ränder werden so immer weiter gestärkt. Wenn die „Anführer“ sich derart gehen lassen, wie kann mann da noch hoffen, dass die Bürger überwiegend redlich bleiben?

Ferdinand Schulze | Do., 27. August 2020 - 08:46

Antwort auf von Ellen Wolff

Volle Zustimmung, Frau Wolff, ich denke jedoch, dass es diese Sorte Politiker schon immer gab, ich fürchte nur, dass es immer mehr werden, wenn man berücksichtigt, dass viele kaum noch etwas anderes können außer Berufspolitik angesichts ihrer Ausbildungsgänge, wenn sie denn überhaupt abgeschlossen wurden.

Bernd Muhlack | Mi., 26. August 2020 - 20:14

Meine Damen und Herren, Politik bedeutet, und davon sollte man ausgehen,
Das ist doch - ohne darum herumzureden - in Anbetracht der Situation, in der wir uns befinden.
Ich kann meinen politischen Standpunkt in wenige Worte zusammenfassen:
1. das Selbstverständnis unter der Voraussetzung, 2. und das ist es, was wir unseren Wählern schuldig sind,
3. die konzentrierte Beinhaltung als Kernstück eines zukunftsweisenden Parteiprogramms.
Wer hat denn, und das muss vor diesem hohen Hause einmal unmissverständlich ausgesprochen werden.
Auch die wirtschaftliche Entwicklung hat sich in keiner Weise ...
Das kann auch von meinen Gegnern nicht bestritten werden, ohne zu verkennen,
Dass in Brüssel, in London die Absicht herrscht, die Regierung der Bundesrepublik habe da -
Und, meine Damen und Herren ...warum auch nicht?
Aber wo haben wir denn letzten Endes,
Ohne die Lage unnötig zuzuspitzen?
Da, meine Damen und Herren, liegt doch das Hauptproblem.

Liebe CICERONEN
Humor tut aktuell ALLEN gut!

Selten habe ich über eine gelungene Persiflage über die nichtssagenden Politiker so gelacht. Das hätte der echte Loriot nicht besser machen können. Chapeau!

Bernd Muhlack | Mi., 26. August 2020 - 22:52

Antwort auf von Achim Koester

Hallo Herr Koester,

natürlich ist das LORIOT!
Ich würde mir niemals seine Kompetenz anmaßen.

Die Rede des Abgeordneten Karl Heinz Stiegler im Bundestag; das war noch das olle Plenum in Bonn am Rhein.

https://www.youtube.com/watch?v=y3ibMpND67o

Die Rede überschreitet die 1.000 Zeichen/characters des Cicero.
Einfach mal reinschauen.
S/W und sehr lustig!
Das Klöckchen des BT-Präsidenten ist auch dabei - PERFEKT!

Solche Kapazitäten wie Loriot sind leider abhanden gekommen.
Ein genialer Darsteller des "schlichten Lebens, des Alltäglichen - unserer Gesellschaft".

... und die kongeniale Evelyn Haarmann mit dem "ACH!"

Daumen hoch Herr Muhlack. Ich schrieb Ihnen schon einmal, genau mein Humor. Sie sind auch deshalb eine Bereicherung für das Forum, nicht nur weil Ihnen ein großer Sachverstand inne wohnt, sondern eben auch wegen Ihres immer wieder durchscheinenden Humors. Bei aller Ernsthaftigkeit in der Sache und dem befürchteten Demokratieabbau, haben die Menschen immer versucht, allem noch etwas humoristisches abzugewinnen. Ich hoffe nur, dass es am Ende kein Galgenhumor sein wird.
Alles Gute für Sie und die Hüfte und überhaupt. Bleiben Sie uns noch ganz lange erhalten.

Gut, der Loriot, wenn es nicht zum Heulen wäre. Sind wir ehrlich, da geht es doch nur um Macht und deren Erhalt. Die sinnvollste Lösung läge etwa in der Größenordnung von 200 Wahlkreisen. Diese zu stricken, benötigt etwa 2 Jahre und dann ist gut.
Gibt es eigentlich ( um auf Loriot zurückzukommen) eine Studie des wissenschaftlichen Dienstes, die mal untersucht hat, welche Worte und insbesondere Worthülsen am meisten bei den Reden und noch schlimmer bei den Interviews gebraucht werden? Wenn ja bitte um Quellenangabe. Dort tauchen dann bestimmt die Worte "alternativlos", Reform, Wählerwille, historisch, etc am meisten auf. Macht und Einfluss sind dort sicherlich nicht zu finden, aber genau darum geht es. Vielleicht landen wir eines Tages, wenn weiterhin so gemauert wird, beim "Volkskongress", nur ohne auf die Stimme des Wahlvolkes zu hören. Hauptsache, die Tantiemen stimmen.
Verfassungsrechtler bitte aktiv einmischen!

Thomas Hechinger | Do., 27. August 2020 - 09:11

Das Zweistimmenwahlrecht ist die Ursache allen Übels. Aber da will niemand ran. Eine heilige Kuh. Solange es zwei große Parteien CDU/CSU und SPD irgendwo zwischen 35 % und 50 % gab, die die Direktmandate holten, kam es nur selten zu Überhangmandaten. So wirkte sich unser Wahlrecht wie ein reines Verhältniswahlrecht aus. Das hat sich geändert mit dem Absturz der Volksparteien. Immer noch holen diese fast alle Direktmandate, obwohl ihnen inzwischen nach dem Verhältniswahlrecht viel weniger Sitze zustehen. Und der Ausgleich, damit doch wieder ein Verhältniswahlrecht herauskommt, der führt zur Aufblähung des Bundestages.
Man sollte sich endlich entscheiden: Verhältnis- oder Mehrheitswahlrecht. Oder wie wäre es mit dem baden-württembergischen Einstimmenwahlrecht? Jeder Wähler hat nur eine Stimme, mit der er sich für einen Kandidaten im Wahlkreis entscheidet. Alle Wahlkreise zusammen wirken aber, als bildeten sie zusammen eine Landesliste, so daß man letztlich ein Verhältniswahlrecht hat.

Joachim Kopic | Do., 27. August 2020 - 10:25

Erstmal so tun als ob ... dann "5 vor 12" ein Reförmchen zustande zu bringen, dass nicht einmal die Verniedlichungsform verdient ... und all das m.E. nur, weil es PolitikerInnen (aller Couleur!) in erster Linie um nichts anderes zu gehen scheint, als die eigenen gut sprudelnden Geldquellen abzusichern!

Hans Schäfer | Do., 27. August 2020 - 19:15

Art 38Abs 1 GG: Die Abgeordneten des Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt
„DIE“, heißt nach Art 38 (1) GG:
„ ALLE ABGEORDNTEN!“

Gegenwärtig werden aber nur 299 Wahlkreisabgeordnete vom Souverän gewählt.

Unmittelbar bedeutet, es darf zwischen Souverän und den gewählten Kandidaten keine Stellen geben, die ihrerseits „bestimmen“, wer als Abgeordneter in den BT einzieht.
410 Abgeordnete des BT aber sind über Parteienlisten zu Ehren gekommen. Darauf, wer auf dieser Liste gesetzt wird, hat das Wahlvolk keinen Einfluss.
Das drückt nicht den Wählerwillen aus.

Gem. Art 20 GG, geht alle Macht vom Volke aus. Die Ausübung beschränkt sich aber nur auf Wahlen. Abstimmungen haben Seltenheitswert. Wir sollten uns diese Macht nicht noch weiter beschneiden lassen.
Bei Reduzierung der Wahlkreise auf 280 ist dies bei diesem Wahlsystem aber de facto der Fall.
Es wäre Dummheit. Das wollen sie natürlich zur Unterbr