
- Sind die Maßnahmen der Bundesregierung übertrieben?
Kaum kam die Pandemie in Fahrt, meldeten sich allerorten vermeintliche Experten zu Wort. Ein Lungenarzt behauptete, die Maßnahmen gegen das Coronavirus seien übertrieben. Ein renommierter Virologe entlarvte seine Thesen als Fake News. Dieser Artikel hat im März besonders viele Leser interessiert.
Es ist ein Satz, der wie ein Schlag ins Gesicht für alle Menschen wirkt, die gerade einen Angehörigen durch die Infektion mit dem Coronavirus verloren haben. „Die Krankenhäuser werden bedroht durch Panik und viele Fragen, aber nicht durch neue Krankheitsfälle.“ In Italien steht das Gesundheitssystem vor dem Kollaps. Dort hat das Coronavirus bislang 2.100 Menschen das Leben gekostet, hierzulande rüsten sich die Krankenhäuser mit zusätzlichen Beatmungsgeräten auf einen ähnlichen Ansturm.
Und vor diesem Hintergrund verbreitet sich die Warnung vor Panikmache wie ein Lauffeuer. Ausgesprochen hat sie kein Laie, sondern ein Mediziner, obendrein einer, der als Lungenarzt und Facharzt für Hygiene- und Umweltmedizin das Gesundheitsamt in Flensburg geleitet hat und als SPD-Bundestagsabgeordneter Sprecher der Bundestagsenquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ war. Wolfgang Wodarg. In einem YouTube-Interview, das er der ehemaligen RTL-Moderatorin Milena Preradovic gegeben hat, erhebt Wodarg schwere Vorwürfe gegen die Bundesregierung und den Chef-Virologen der Charité in Berlin, der sie bei ihrem Kampf gegen die Ausbreitung des Coronavirus berät: Prof. Christian Drosten.
„Es entsteht ein riesiger Schaden“
Die Aufregung um das Virus sei völlig übertrieben. „Im Moment werden fahrlässig Maßnahmen angeordnet, werden Menschen in ihrer Freiheit beschnitten und von ihrer Erwerbstätigkeit abgeschnitten. Es entsteht so ein riesiger Schaden, dass ich mich freuen würde, wenn pfiffige Rechtsanwälte endlich damit Stopp machen.“
Die Moderatorin starrt ihn entgeistert an. Wie denn die vielen Toten in Italien zu seiner Entwarnung passten, will sie wissen. Und lässt sich von Wodarg mit der Aussage abspeisen, ihre Zahl erscheine nur deswegen höher, weil in Italien das Coronavirus auch dann als einzige Todesursache gewertet werden kann, wenn – was gerade bei älteren Patienten oft der Fall sei – noch andere Vorerkrankungen vorgelegen hätten. Möglicherweise sei das Virus dort auch schon länger auf dem Vormarsch gewesen, ohne dass es aufgefallen wäre. Von den 50.000 Tests, die man dort gemacht hätte, seien 7.375 positiv ausgefallen, was einer Quote von 14,75 Prozent entspricht. Für Wodarg eine Zahl, die bei Coronaviren im Rahmen liege.
Drohen in Deutschland italienische Verhältnisse?
Drohen auch in Deutschland italienische Verhältnisse? Bislang ist die Sterberate hier im Vergleich zu anderen Staaten extrem niedrig. Da die Infektionsraten aber exponentiell steigen, geht das Robert-Koch-Institut davon aus, dass sie sich über einen längeren Zeitraum der italienischen Kurve angleichen werde. Um eben diese rasante Verbreitung des Virus zu stoppen, wurden Schulen und Kindergärten geschlossen und das öffentliche Leben nahezu lahmgelegt.
Ein Skandal, wettert Wodarg, der immer noch Mitglied der SPD ist. Er fordert, ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss solle klären, ob die Vorsichtsmaßnahmen der Bundesregierung angemessen seien. Gegen den Virologen Christian Drosten erhebt er schwere Vorwürfe. Der Test, den er für das neue Coronavirus entwickelt habe, sei von den Gesundheitsbehörden nicht „validiert“ worden, werde aber trotzdem flächendeckend eingesetzt, auch im Ausland. Die Pharma-Industrie nutze die Krise, um auf Kosten der Patienten ein Riesengeschäft zu machen.

SARS-CoV-2 ist zehnmal tödlicher
Christian Drosten will sich zu den Vorwürfen nicht äußern. Vermutlich hat er auch keine Zeit. Für die Bundesregierung ist er gerade der wichtigste Mann. Auch vor Presseanfragen kann er sich gerade nicht retten. Ein Mann, der nicht müde wird, die Bevölkerung aufzuklären. Uneitel, allgemein verständlich, unaufgeregt. In einem NDR-Podcast referiert er regelmäßig den neuesten Stand, auf Twitter warnt er die Medien vor Alarmismus.
Das YouTube-Interiview mit Wolfgang Wodarg ging viral. Über eine Million Mal wurde es inzwischen angeklickt. Der bekannte Virologe Alexander Kekulé hat es sich angesehen. Er sagt, es bedürfe unbedingt einer fachlichen Einordnung, denn es sei „missverständlich“. Einerseits greife Wodarg darin eine wichtige Frage auf, nämlich die, ob man „mit Sicherheitsmaßnahmen Kollateralschäden erzeugt, die schlimmer sein können als das, was das Virus macht.“ Allerdings gehe er dabei von falschen Voraussetzungen aus, wenn er behauptet, SARS-CoV-2 sei wie ein normales Grippevirus. „Bei diesem Virus haben wir relativ früh erkannt, dass es eine Sterblichkeit hat, die zehnmal so hoch ist.“ Wodarg blende die Sekundäreffekte aus, die das Virus mit sich bringe: „Kranke, die eigentlich behandelt werden müssten, können es nicht, weil es an Betten mangelt.“ Um genau das zu verhindern, sei es wichtig, dass man sich jetzt kollektiv gegen das Virus wehre.
Was die SPD-Fraktion zu Wodarg sagt
Ein Denkfehler? Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach, selbst Epidemologe, spricht von „Fake News“. In der SPD-Fraktion ist man nicht gut auf Wodarg zu sprechen. Es fallen Worte wie „Querulant“, „Wichtigtuer“ oder „Verschwörungstheoretiker“. Gemeingefährlich sei das, was er jetzt in dem Video behaupte, heißt es. Denn mit seinen Warnungen vor Panikmache ermutige er die, die sowieso kein Vertrauen mehr in die Politik hätten. Und er torpediere das Krisenmanagement der Bundesregierung.