
- Den Boden bereiten für den IS
Die Türkei und Recep Tayyip Erdogan bringen den Krieg zurück in die einzige stabile Region in Syrien. Doch die kurdischen Milizen aufzureiben nützt vor allem Diktator Baschar al-Assad. Und dem IS
Wenn das erste Opfer des Krieges die Wahrheit ist, ist das zweite vielleicht das Gedächtnis. Anders lässt sich die unglaubliche Kehrtwende nur schwer erklären, welche die Türkei in Syrien vollzogen hat. Noch vor weniger als zwei Jahren war Diktator Baschar al-Assad der Hauptfeind von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. Das ist inzwischen vergessen, nun sind die Kurden das Ziel türkischer Angriffe und mit ihnen die letzte stabile Region in ganz Syrien. Ankara fürchtet, dass die kurdische Miliz YPG einen Korridor unter ihre Kontrolle bringen könnte, der von Afrin im Westen an der türkischen Grenze entlang bis zum Irak führt. Nur ein kleines Stück zwischen Afrin und dem Euphrat fehlt noch.
Erdogan hat damit eine entscheidende Wende im Syrienkrieg eingeleitet und bereits angekündigt, die Aktion auf weitere kurdisch verwaltete Provinzen ausweiten zu wollen. Für Assad ist der türkische Sinneswandel ein Geschenk: In der Nachbarprovinz Idlib läuft seit Dezember eine Großoffensive seiner Truppen. Mit russischer und iranischer Unterstützung ist es nur eine Frage der Zeit, bis der Diktator die letzte Hochburg der Aufständischen ganz im Nordwesten und dann das ganze Land wieder in seiner Gewalt hat.
Die USA in der Zwickmühle
Während Ankara in Nordsyrien Fakten schafft, bevor andere es tun, sitzen die USA dort in der Bredouille. Sie haben die Wahl zwischen ihrem Nato-Verbündeten Türkei auf der einen Seite und den kurdischen Milizen auf der anderen Seite, ihrem zuverlässigsten Bündnispartner im Kampf gegen den IS. Entscheiden sie sich für die Kurden, könnte es östlich des Euphrat zu direkten Zusammenstößen zwischen türkischen und amerikanischen Streitkräften kommen. So würde die Lage vollends eskalieren, die Nato in eine tiefe Krise stürzen.
Entscheiden sich die USA gegen die Kurden, hieße das für US-Streitkräfte, sich aus Syrien zurückzuziehen und das Feld der Türkei, Russland, Iran, Assads Regime und dschihadistischen Gruppierungen zu überlassen. Das wäre das Ende des Kampfes gegen den IS. Und das wäre fatal, denn die ehemals mächtigste Terrororganisation der Welt ist noch lange nicht geschlagen, nur weil sie über kein eigenes Territorium mehr verfügt. Sie muss nachhaltig weiterbekämpft werden, sonst kommt sie wieder, wie die langjährigen Erfahrungen aus dem Irak zeigen – der Wiege des IS. Hier galt die Terrorgruppe in den vergangenen zehn Jahren schon öfter als besiegt. Jedes Mal konnte sie sich das Bürgerkriegschaos zunutze machen und jedes Mal kam sie noch größer zurück.
Assad, der Nährboden für den IS
Die Bedingungen in Syrien würden in vielen Punkten denen im Irak ähneln und wären ideal für ein großes Comeback der Dschihadisten. Im Irak unterdrückte eine schiitische Regierung nach dem Sturz Saddam Husseins die sunnitische Bevölkerung und machte die konfessionelle Spaltung von Beginn an zu ihrem Programm. Das war der Nährboden für den IS, der nur mithilfe der frustrierten Bevölkerung überhaupt zum „Staat“ werden konnte. Die spektakuläre Eroberung der Stadt Mossul im Jahr 2014 war möglich, nachdem die USA zweieinhalb Jahre zuvor ihre Truppen zu früh aus dem Irak abgezogen und die Bevölkerung so ihrem Schicksal überlassen hatten.
In Syrien wird vieles ähnlich sein, wenn das mehrheitlich alawitische Regime von Assad wieder ganz die Kontrolle übernommen hat und sich an den sunnitischen Oppositionellen rächt. Sunniten gegen andere konfessionelle und religiöse Minderheiten aufzuhetzen gehörte von Beginn an zur Strategie, mit der das syrische Regime die Aufstände niederschlagen wollte. Irgendwann nimmt die unterdrückte Bevölkerung vielleicht jeden Widerstand dankend an, auch wenn er aus Terroranschlägen gegen das Regime besteht.
Die nächste Generation wächst schon heran
Darauf hat sich die Taktik des IS längst verlagert, seit die Gruppe ihr Territorium verloren hat. Um überhaupt noch militärisch relevant zu sein, hat sie sich auf vereinzelte Selbstmordattentate und Überfallkommandos verlegt. Nach eigenen Angaben beging der IS im Jahr 2017 knapp 800 solcher Attentate, fast 500 auf das irakische Militär, mehr als 130 auf kurdische Milizen in Syrien und den Rest auf das Regime von Assad und seine Verbündeten.
In Syrien hat der IS wie im Irak leichtes Spiel, wenn jeder gegen jeden steht und große Teile der Bevölkerung unter der verhassten Staatsmacht leiden. Um Nachwuchs brauchen sich die Dschihadisten auch nicht zu sorgen. Gewiss sind die ganz großen Zeiten vorbei, in denen Rekruten von überall auf der Welt in Scharen ins „Kalifat“ reisten, um sich dort dem Dschihad anzuschließen. Aber in Syrien selbst wächst gerade eine verlorene Generation heran von Kindern, die einen großen Teil ihrer Kindheit in Flüchtlingslagern verbringen, nicht zur Schule gehen und später wenig Aussicht auf Arbeit haben. Sie könnten die nächste Generation von Dschihadisten werden.