
- Cicero Politik Podcast: „Wir haben das strategische Denken verlernt“
Die deutsche Bundesregierung wurde vom Ukrainekrieg kalt erwischt. Denn plötzlich hat sich gezeigt, dass Putin und sein Regime hierzulande über Jahre hinweg völlig falsch eingeschätzt wurden. Und dafür gibt es Ursachen – insbesondere die Unfähigkeit der Politik, strategisch zu denken und zu handeln. Der Nahost-Experte Guido Steinberg zeigt in diesem Gespräch die dramatischen Folgen unserer geopolitischen Blindheit auf. Und erklärt, welche Auswirkungen der Ukrainekrieg auf das aktuelle Ringen um Macht, Einflusssphären und Ressourcen hat.
Für die Ukrainer ist es eine Katastrophe, für Deutschland dagegen ein Realitätsschock. Russlands Einmarsch in die Ukraine hat hierzulande fast alles auf den Kopf gestellt, was bisher als Grundlage unserer Koexistenz mit Putins Riesenreich galt: Wir beziehen von dort einen Großteil unserer Energieträger in Form von Öl und Gas; die Russen wiederum werden diese für sie lukrative Handelsbeziehung nicht aufs Spiel setzen, indem sie einen Angriffskrieg auf europäischem Boden führen. Spätestens seit dem 24. Februar wissen wir es besser, ab jetzt gilt die von Bundeskanzler Olaf Scholz ausgerufene „Zeitenwende“.
Aber die Zeichen standen schon seit langem auf Sturm – nur haben sich die deutschen Regierungen hartnäckig geweigert, diese Zeichen zur Kenntnis zu nehmen und entsprechend zu interpretieren. Guido Steinberg, einer der renommiertesten Nahostexperten und ausgewiesener Analyst geopolitischer Verschiebungen, benennt die Defizite bundesrepublikanischer Politik denn auch sehr deutlich: Die „Fähigkeit zu strategischem Denken“ sei in den vergangenen 20 Jahren praktisch nicht mehr vorhanden gewesen. Und es wäre „äußerst verwunderlich“, wenn sich an diesem Zustand über Nacht etwas ändern würde – „Zeitenwende hin oder her“.
Im Podcast mit Cicero-Chefredakteur Alexander Marguier spricht Steinberg über die Konsequenzen, die uns aus der deutschen Wolkenkuckucksheim-Politik der zurückliegenden Dekaden erwachsen. Beispielsweise dahingehend, dass der Bundesrepublik jetzt gar nichts anderes mehr übrigbleibt, „als der Strategie der Amerikaner zu folgen, die allein durch das Ausmaß ihrer Waffenlieferungen den Takt vorgeben“. Letzten Endes, so Steinberg, denke Putin in weltpolitischen Kategorien: „Es war ihm immer bewusst, dass die Bundesrepublik militärisch nichts zu bieten hat, und dass es vor allem um die USA geht.“
Guido Steinberg, Mitarbeiter bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, geht in diesem Gespräch auch darauf ein, welchen Einfluss der Ukrainekrieg auf das derzeitige Ringen globaler Akteure um Macht, Einflusssphären und Ressourcen hat. Die Golfregion mit ihren riesigen Öl- und Gasvorkommen identifiziert er als große Krisengewinnlerin: „Die Golfstaaten werden in den nächsten Jahren und vielleicht sogar Jahrzehnten für uns noch sehr viel wichtiger werden, als sie das im Moment sind.“ Ob sich vor diesem Hintergrund die von Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock propagierte „wertebasierte Außenpolitik“ durchsetzen lässt, steht allerdings auf einem anderen Blatt. Auch hier zeigt Steinberg sich illusionslos.
Das Gespräch wurde am 07. Juni 2022 aufgezeichnet.
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