
- Ein Verzweiflungsschlag
Mit der Offenlegung des Vertrags zwischen der EU-Kommission und AstraZeneca wollte Ursula von der Leyen eigentlich einen Befreiungsschlag wagen. Doch das Papier legt gnadenlos offen, dass die Kommission über ihre eigenen Regeln gestolpert ist. Besser also, von der Leyen lässt die Faust in der Tasche.
Wenn man beim Boxen aufgrund eklatanter Unterlegenheit den Kampf zu verlieren droht und zur letzten Runde geläutet wird, kann man schon einmal verzweifelt um sich schlagen. Man versucht dann alles Mögliche, um die Niederlage noch abzuwenden. Mit einem unverhofften „lucky punch“.
Ursula von der Leyen und die EU-Kommission müssen sich dieser Tage wohl wie solch ein verzweifelter Boxer fühlen. Die Bilanz der Europäischen Kommission in Sachen europaweit koordinierter Impfstoffbeschaffung – ohne für diese Aufgabe überhaupt zuständig zu sein – ist ein Debakel. Ein Debakel, das Wohlstand und Menschenleben gekostet hat. Es fing damit an, dass man sich monatelang Zeit ließ, um mit den Pharmakonzernen Lieferverträge auszuhandeln. Und während die Länder der Europäischen Union noch mit sich und den Konzernen stritten, hamsterten die USA, Israel und Großbritannien den Impfstoffmarkt weitestgehend leer. Nun, wo die Misere unübersehbar ist, können nicht einmal alle Lieferanten die Lieferzusagen einhalten, die sie gegenüber der EU einst abgegeben haben.
Kreuzigt das Großkapital!
Als AstraZeneca daher unlängst ankündigte, aufgrund von Produktionsengpässen von den zunächst zugesagten 80 Millionen Impfdosen vorerst nur rund 30 liefern zu können, stieg die Nervosität in Brüssel und Berlin merklich an. Hatte man am Ende nicht nur viel zu langsam, sondern darüber hinaus auch noch allzu schlecht verhandelt? Das wollte Kommissionspräsidentin von der Leyen nicht auf sich sitzen lassen und erwirkte eine Veröffentlichung des Vertrages mit AstraZeneca. Es sollte der erhoffte „lucky punch“ zur Rückeroberung der öffentlichen Meinung sein. Der böse Großkapitalist sollte ans mediale Kreuz genagelt werden und die gute Politik als Erlöser auferstehen.
Aber daraus wurde nichts. Wie sich nun herausstellte, legt der Vertrag zwar Liefermengen und -zeitpunkte konkret fest, stellt diese allerdings unter die Bedingung der „best reasonable efforts“. Und damit es auch ja niemand überlesen kann, wird hierauf im Vertrag insgesamt 18 mal hingewiesen. Mit anderen Worten: AstraZeneca werde zwar sein Bestes versuchen, die Zusagen einzuhalten, könne aber nichts Konkretes versprechen. Mit ihrer Unterschrift hat die EU diese Bedingung ausdrücklich akzeptiert.
Opfer der eigenen Regeln
Nun kann man sich wahlweise aussuchen, auf wen man einschlagen will: auf die Politik oder auf das Kapital. Entweder sind dann die einen schlicht zu blöde, um sich vom Kapital nicht übers Ohr hauen zu lassen - oder die anderen sind einfach das Abziehbild von Monokel-tragenden und Zigarre rauchenden Ausbeutern. Peter Tiede, Chefreporter der BILD, hat sich entschieden: Der Vertrag sei eine „Frechheit für die europäischen Bürger“ und die Kommission offenbar unfähig , einen anständigen Vertrag auszuhandeln. Die Bedingungen AstraZenecas hätten so nicht akzeptiert werden dürfen.
Nun, das ist putzig, denn dazu hätte man die Regeln der Marktwirtschaft außer Kraft setzen müssen. Mit nichts ist das Projekt der europäischen Integration seit Jahrzehnten unter dem Schlagwort „Wettbewerbsrecht“ indes so sehr beschäftigt, wie mit der neokapitalistischen Zurichtung des Kontinents. Schritt für Schritt sollen alle Gesellschaftsbereiche den Marktmechanismen und damit dem ökonomischen Wettbewerb unterworfen werden. Und nun wurde die EU schlicht das Opfer ihrer eigenen Regeln – und fängt an zu heulen.
Man muss sich dazu nur die Situation vor ein paar Monaten vergegenwärtigen: Weltweit befanden sich die Regierungen im Panikmodus und standen wenigen Konzernen gegenüber, die allein durch die Herstellung eines Impfstoffes den Ausweg aus der Pandemie bereiten konnten. Da das ersehnte Gut zudem knapp und zu diesem Zeitpunkt bloß eine Hoffnung war, schwächte dies die Verhandlungsposition der Staaten gegenüber den Konzernen maximal. Israel machte sich diese Situation zunutze, zahlte überhöhte Preise, entließ die Hersteller aus der Haftung und wurde von ihnen mit hohen Lieferzusagen und Vorzugsbehandlung belohnt.
Markt ohne Güter
Man lernt das in den ersten Monaten eines jeden wirtschaftswissenschaftlichen Studiums: Ist das Angebot knapp, aber die Nachfrage hoch, entsteht ein Anbietermarkt. Die Produzenten können unter diesen Bedingungen die Regeln diktieren. Zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses gab es weder eine Impfstoffzulassung noch klare Daten über die Wirksamkeit des Vakzins. Zugleich lehnte die EU eine Übernahme der Haftung kategorisch ab. AstraZeneca konnte unter diesen Bedingungen wirtschaftlich gar nicht anders handeln, als alle Zusagen unter die „best reasonable efforts“ zu stellen. Das belegt auch die Tatsache, dass der Vertrag zwischen der EU und CureVac ganz ähnliche Regelungen enthält.
Der Anbietermarkt wies in diesem Fall jedoch eine gravierende Besonderheit auf: Das Gut, das den Konzernen die große Marktmacht verlieh, gab es noch gar nicht. Ihre Macht resultierte einzig aus der bestehenden politischen Verzweiflung und der daraus gespeisten Hoffnung, die die Staaten in die Produzenten setzten. Die symbolische Marktmacht der Konzerne hätte sich in kürzester Zeit auch in ein existenzgefährdendes Desaster verwandeln können, falls die Produktion des Impfstoffes nicht geglückt wäre.
Die Faust in der Tasche lassen
Gemessen daran rückt der Vertrag mit AstraZeneca nahezu in die Nähe einer sozialistischen Idylle: Während derartige Situationen der Unsicherheit auf dem Markt für gewöhnlich mit erheblichen Risikozuschlägen ausgeglichen werden, verzichtete AstraZeneca contra-intuitiv auf jeglichen Profit. Im August 2020 sicherte es den Ländern der EU offiziell zu, „zum Selbstkostenpreis auf den Impfstoff“ zugreifen zu können. Angesichts dieser Rahmenbedingungen AstraZeneca Vorwürfe hinsichtlich der Vertragsgestaltung machen zu wollen, ist abwegig. Es hat mehr Zugeständnisse gemacht, als angesichts der Marktunsicherheiten wirtschaftlich eigentlich vernünftig gewesen wäre. Manchmal sollte man sich den „lucky punch" besser verkneifen.