
- Macht Schluss mit „Carpe diem“!
Robin Williams hauchte dem Lebensmotto „Carpe diem“ in dem Film „Club der toten Dichter“ neue Beliebtheit ein. Doch der morbide Zeitgeist unserer Tage deutet dieses lebensbejahende Credo als Aufruf zur jetzt- und ich-bezogenen Flucht aus der Welt. Von Matthias Heitmann
Die moderne Gesellschaft hat ein seltsames Verhältnis zur Zeit und damit auch zu sich selbst: Sie sehnt sich einerseits nach der Vergangenheit, die sie rückblickend für die bessere Zeit hält. Und dabei verdrängt sie, dass man auch früher schon der „guten alten Zeit“ nachtrauerte. Andererseits hat sie nicht besonders hohe Erwartungen an die vor uns liegende Zeit. Denn sehr viel mehr als die Bewahrung der jetzigen Situation scheint in Zukunft nicht drin zu sein. Die Zeiten verschwimmen in einem Strom aus Missmut, Unzufriedenheit und Unsicherheit. Auf der Nussschale des eigenen Lebens versucht man, sich irgendwie durchzuschlagen, stößt aber doch immer wieder hart an die Ränder des Zeitenstroms oder aber verliert in der Strömung den Halt.
Es ist daher kein Wunder, dass die Menschen sich stärker auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Da sich die Wirklichkeit der allgemeinen Einschätzung nach ohnehin kaum ändern, geschweige denn durch eigenes Zutun grundlegend zum Positiven verändern lässt, haben historische Vergleiche auch nur noch den Sinn, das eigene Denken mitsamt der eigenen Vorurteile zu untermauern. Ohne das Korrektiv der Erinnerung fällt es uns schwer, Ereignisse rational einzuordnen. Die Aufgeregtheit so vieler öffentlicher Debatten hat mit dieser „sozialen Amnesie“ zu tun. Wir spüren diese Problematik zwar, machen sie aber zumeist an der Fülle von Informationen fest, die auf uns einstürzt. Der Gedanke sei gestattet: Vielleicht ist es gar nicht die Menge an Informationen, die uns überfordert, sondern die zunehmende Schwierigkeit, diese sinnvoll zu filtern und zu verarbeiten.