
- Hans Carossa: Entsorgung eines Namenspatrons
Das Hans-Carossa-Gymnasium in Berlin-Spandau will sich seines Namenspatrons entledigen - weil er, obwohl selbst kein Nazi, in der Zeit des Nationalsozialismus publiziert hat. Widersprüchliche Persönlichkeiten sind als Namensgeber nicht mehr gerne gesehen, weil sie dem Reinheitsgebot heutiger Moral widersprechen.
In einem Interview mit dem Berliner Tagesspiegel kündigte der Schulleiter des Hans-Carossa-Gymnasiums in Berlin-Spandau, Henning Rußbült, an, dass sich seine Schule bis Herbst 2022 einen neuen Namen geben wolle. Die schulischen Gremien seien sich darin einig, dass Hans Carossa als Namenspatron nicht mehr zeitgemäß sei. Den Anstoß habe die Ausstellung über die „gottbegnadeten Künstler“ der NS-Zeit im Deutschen Historischen Museum gegeben, an der die „engagierte Mutter“ eines Schülers mitgewirkt habe.
Als Deutschlehrer habe ich über 30 Jahre lang die Gedichte von Hans Carossa im Literaturunterricht besprochen. Sie zählen zu den wertvollsten Zeugnissen der inneren Emigration deutscher Dichter während der NS-Herrschaft. Sie sind sprachlich und formal makellos und verkünden eine Botschaft, die über jeden moralischen Zweifel erhaben ist.
Hans Carossas „Verfehlungen“
Wenn man sich das Verhalten von Hans Carossa während der Zeit des Nationalsozialismus vergegenwärtigt, stößt man bei ihm auf dieselben Ambivalenzen, die alle Künstler aufweisen, die während der Schreckensherrschaft Hitlers in Deutschland geblieben sind. Sie unterlagen staatlichen Zwängen, denen sie (teilweise) nachgeben mussten, um überhaupt noch beruflich wirken zu können. Sie mussten mit den Wölfen heulen, sich mitunter auch instrumentalisieren lassen, weil die NS-Führung im Volk beliebte Schriftsteller, Maler, Musiker, Schauspieler zur Selbstdarstellung und Legitimation benötigte. Wer sich heldisch gebärdete, landete schnell im KZ, wo er wie so viele zu Tode gequält wurde.
Was könnte man Hans Carossa als verwerflich ankreiden? 1938 nahm er den Goethepreis der Stadt Frankfurt/M. an. 1941 ließ er sich zum Präsidenten der nationalsozialistischen „Europäischen Schriftstellervereinigung“ ernennen. Das Amt übte er allerdings in der Praxis nicht aus, den jährlichen Treffen blieb er fern. Für Hans Carossa spricht, dass er die Berufung in die Deutsche Akademie der Dichtung ablehnte. Er wurde bei Joseph Goebbels vorstellig, um die Entlassung des kranken jüdischen Schriftstellers Alfred Mombert aus der KZ-Haft zu erwirken. Mit Erfolg: Mombert konnte unbeschadet ins Schweizer Exil ausreisen. Beim Chef des Reichssicherheitshauptamts Ernst Kaltenbrunner bemühte er sich 1944 zusammen mit Gerhart Hauptmann um den im KZ Sachsenhausen einsitzenden Peter Suhrkamp, der dann tatsächlich wegen seiner schweren Lungenkrankheit in ein Krankenhaus verlegt wurde und die NS-Diktatur überlebte. Im April 1945 forderte Carossa den Oberbürgermeister von Passau in einem Brief auf, die Stadt kampflos an die anrückenden US-Truppen zu übergeben, um Blutvergießen zu vermeiden und die historische Altstadt vor der Zerstörung zu bewahren. Ein SS-Offizier verurteilte ihn wegen Defätismus in Abwesenheit zum Tode. Nur die schnelle unblutige Eroberung der Stadt durch die Amerikaner am 2. Mai 1945 rettete Carossa das Leben.
Goebbels’ Künstlerliste
Im August 1944 stellte Propagandaminister Joseph Goebbels eine Liste deutscher Künstler zusammen, die vom nationalsozialistischen Regime wegen ihrer Wichtigkeit unter besonderen Schutz gestellt wurden. Diese Künstler waren zwar seit Ausrufung des „totalen Krieges“ 1943 wie alle Deutschen im wehrfähigen Alter dienstverpflichtet, vom Kriegsdienst waren sie aber freigestellt. Ihr „Künstlerkriegseinsatz“ (Goebbels) galt der mentalen Stärkung des Widerstandswillens der Deutschen angesichts der immer verheerenderen Bombardierungen deutscher Städte. Unter den Schriftstellern auf der Liste finden sich neben dem Nobelpreisträger Gerhart Hauptmann noch Hans Carossa, Ina Seidel und Agnes Miegel, unter den Komponisten Richard Strauss und Hans Pfitzner, unter den Dirigenten Karl Böhm, Herbert von Karajan und Wilhelm Furtwängler, unter den Musikern Walter Gieseking, Wilhelm Kempff und Ellen Ney. Heutigen Kritikern gilt die Zugehörigkeit zur „Gottbegnadeten-Liste“ als Beleg für weltanschauliche Komplizenschaft und moralische Unterwerfung. Dabei waren die Beweggründe, weshalb die Künstler ihren Namen auf der Liste akzeptierten, banaler Natur: Ein Platz auf der Liste war ihre Lebensversicherung, weil er sie vor dem Fronteinsatz in Russland bewahrte. Als Hitler in den letzten Kriegsmonaten Kinder und Greise für den „Volkssturm“ mobilisierte, geriet, wie Quellen belegen, selbst der berühmte Wilhelm Furtwängler in Gefahr, im Häuserkampf gegen die Rote Armee eingesetzt zu werden. Hat die Nachkriegsgesellschaft mit den oben genannten Künstlern gebrochen? Keineswegs. Historiker wussten genau zu unterscheiden, wer nur als populäres Aushängeschild auf die Liste geriet und wer ein notorischer NS-Anhänger war. Von Hans Carossa kann man letzteres bestimmt nicht behaupten.