Zukunft der Union - „Diese Herausforderung kann zur Überlebensfrage für die CDU werden“

Als Leiter der CDU-Grundwertekommission plädiert der Historiker Andreas Rödder für ein neues intellektuelles Selbstverständnis seiner Partei. Pragmatismus, sagt er im Interview, dürfe nicht zu einem Synonym für politische Orientierungslosigkeit verkommen.

Galt in seiner Partei lange Zeit als konservativer Hoffnungsträger: CDU-Vorsitzender Friedrich Merz / picture alliance
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Autoreninfo

Clemens Traub ist Buchautor und Cicero-Volontär. Zuletzt erschien sein Buch „Future for Fridays?“ im Quadriga-Verlag.

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Andreas Rödder gilt als einer der renommiertesten Historiker Deutschlands. Seit 2005 hat er die Professur für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz inne und lehrt zurzeit als Gastprofessor an der Johns Hopkins University in Washington. Zudem ist Rödder Leiter der CDU-Grundwertekommission und der Denkfabrik R21, die sich für eine neue bürgerliche Politik und eine offenere Debattenkultur einsetzt.

Herr Rödder, seit etwas länger als einem Jahr ist die CDU nun die größte Oppositionspartei im Deutschen Bundestag. Wie bewerten Sie ihr bisheriges Auftreten?

Die CDU befindet sich zurzeit in einer doppelt schwierigen Lage. Erstens fällt der ewigen Regierungspartei Opposition klassischerweise schwer. Das war bereits 1969 und auch 1998 der Fall. Und zweitens haben wir es mit ganz besonderen Zeiten multipler Krisen zu tun. Das macht die Situation für eine Opposition immer anspruchsvoll. Vor diesem Hintergrund finde ich, dass es die CDU zuletzt geschafft hat, eine kluge Balance zwischen oppositioneller Kritik und konstruktiver Mitarbeit zu finden. Denn das ist in Krisensituationen immer die Erwartung an die Opposition.

Die strategielose Energiewende und der überstürzte Atomausstieg unter Angela Merkel sind mitverantwortlich für die Energiekrise in Deutschland. Wie kann es der CDU in der aktuellen Krise gelingen, glaubwürdig aus den Fußstapfen der Ex-Kanzlerin herauszutreten?

Ich gebe Ihnen recht, der Atomausstieg und die strategielose Energiewende waren große Fehler, die uns gegenwärtig teuer zu stehen kommen. Die Union muss sich konstruktiv-kritisch mit der Amtszeit Angela Merkels auseinandersetzen, wenn sie die notwendigen Lehren für die Gegenwart ziehen und Perspektiven für die Zukunft gewinnen will. Allerdings hat die CDU zugleich das Recht, darauf hinzuweisen, dass die SPD in 20 der 24 Jahre seit dem Ende der Kanzlerschaft von Helmut Kohl Regierungsverantwortung getragen hat. Die Fehler der Ära Merkel sind mithin nicht nur ein Problem der CDU.

In den großen Wortgefechten mit Bundeskanzler Olaf Scholz im Bundestag wirkte Friedrich Merz oft überzeugend und rhetorisch überlegen. Dennoch scheitert die CDU in vielen Politikbereichen daran, mit eigenen Konzepten Alternativen aufzuzeigen und damit zu punkten. Woran liegt das?

Das verwundert nicht, denn die CDU ist nach der 16-jährigen Regierungszeit unter Angela Merkel inhaltlich ausgelaugt. Aber es ist auch nicht nur ein Problem der langen Regierungszeit. Vielmehr gibt es in der CDU traditionell eine ausgeprägte Reserviertheit gegenüber intellektuellem und strategischem Denken. Die Bezeichnung „Kanzlerwahlverein“ kommt nicht von ungefähr und nicht wenige in der Partei verstehen das als Kompliment. Die Union hält sich viel auf ihren Pragmatismus zugute. Pragmatismus braucht aber Leitplanken, sonst dümpelt er richtungslos vor sich hin oder fährt vor die Wand. Oft ist „Pragmatismus“ ein Synonym für Orientierungslosigkeit. Andersherum wird ein Schuh draus: Um sich der eigenen Identität zu vergewissern und neue Standpunkte entwickeln zu können, kann eine zukunftsorientierte, christdemokratische Politik überhaupt nicht intellektuell genug sein.

Andreas Rödder / picture alliance

Kritiker werfen der CDU vor, sie passe sich zu sehr den Grünen an. So wurde auf dem letzten Parteitag unter den Delegierten eine Frauenquote für den Vorstand bestimmt, was an der Parteibasis für Unmut sorgte. Sehen Sie darin einen erfolgsversprechenden Kurs der Mitte oder einen politischen Akt der Selbstverzwergung?

Die Hoffnung auf Friedrich Merz war und ist, dass die Union den Kurs der Selbstanpassung an die linke Mitte überwindet und selbstbewusst begründete eigene Positionen vertritt. Von denjenigen geliebt werden zu wollen, die die Union nur dann gut finden, wenn sie nicht sie selbst ist, führt zu Identitätsverlust. Das ist für eine Partei brandgefährlich.

Es scheint auch, als meide die CDU auch unter Friedrich Merz den unter Linksliberalen verbrannten Begriff des „Konservativen“, zu ausgeprägt ist die Sorge vor dem medialen Gegenwind. Ist die CDU nach 16 Jahren programmatischer Selbstentkernung unter Merkel zu einem konfliktscheuen Angsthasen geworden?

Fast zwei Drittel der Partei haben Friedrich Merz gewählt, weil sie sich nach einem Neuaufbruch sehnten. Viele Christdemokraten sahen in Merz einen liberalen Konservativen, der die CDU mit seiner Erfahrung und Eloquenz umsteuern kann. Wenn er diese Erwartung tatsächlich erfüllen will, hat er noch Luft nach oben. Ein Parteivorsitzender muss nach innen integrativ wirken, das ist eine seiner Aufgaben. Nur: zwei Drittel der Mitglieder erwarten, dass der Kurs nicht von der Rücksicht auf weniger als ein Drittel bestimmt wird. 

Ist Friedrich Merz bei der nächsten Bundestagswahl 2025 der geeignete Kanzlerkandidat, um die CDU wieder zu alter Stärke zu führen?

Wenn Friedrich Merz er selbst ist: ja.

Linksliberal zu sein, gilt in diesen Tagen als en vogue. Ein grüner Zeitgeist dominiert die großen politischen Debatten. Wie können Konservative wieder die gesellschaftliche Deutungshoheit zurückerlangen?

Das ist eine Frage des intellektuellen Selbstverständnisses und des Selbstbewusstseins. Die CDU muss selbstbewusst für unterscheidbare christdemokratische Positionen einstehen und sich auch unterscheiden wollen. Das heißt, kontroverse und grundlegende Themen in ihrer ganzen Bandbreite aufzunehmen. Auch hier führt der viel beschworene Pragmatismus dazu, sich auf vermeintlich konkrete Themen wie Finanz- oder Sozialpolitik zu konzentrieren und gesellschafts- und kulturpolitische Themen zum Beispiel über Identitätspolitik als irrelevant zu meiden. Das aber ist ein schwerer Fehler, denn Kultur- und Gesellschaftspolitik von heute ist Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik von morgen. Die Union muss bereit sein, diese Auseinandersetzungen mit guten Argumenten und intellektueller Satisfaktionsfähigkeit zu führen. Und nicht aus Angst vor einem Kommentar im Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk oder dem Tweet eines Grünen-Politikers die weiße Fahne zu hissen und intellektuell zu kapitulieren. 

 

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Sie plädieren als Leiter der CDU-Grundwertekommission für einen „modernen Konservativismus“. Was verstehen Sie darunter?

Ein „moderner Konservativismus“ steht in der Tradition von Edmund Burke und dem britischen Konservatismus des 19. Jahrhunderts. Liberal-konservatives Denken setzt auf Vernunft, auf Rechtsstaatlichkeit, auf das christliche Menschenbild mit all seinen Facetten, inklusive der Unvollkommenheit, auf den Vorrang des Individuums vor dem Kollektiv und der Gesellschaft vor dem Staat. Eine solche Konservative Politik kann nie eine Politik des Stillstands oder der Rolle rückwärts, sondern ist immer eine Politik des ständigen Abwägens und Überlegens sein, was es in unserer Gesellschaft zu bewahren, was zu verändern gilt. Der Unterschied zu linken Ideologien liegt darin, dass Konservative keine neue Welt und erst recht keinen neuen Menschen erschaffen möchten. 

Wie groß ist denn noch das Potenzial in der Wahlbevölkerung für eine konservative Politik in Deutschland?

Eine konservative Politik in der beschriebenen Tradition ist immer geprägt von Alltagsvernunft und „gesundem Menschenverstand“. Ich bin fest davon überzeugt, dass eine breite Mehrheit der Bevölkerung genau dafür zu gewinnen ist, für ein vernunftorientiertes, bürgerliches Denken und Handeln in den Kategorien von Maß und Mitte. Das zeigt doch schon der starke Wunsch vieler Menschen in unserer Gesellschaft, sich ihre Lebensführung nicht von einer aktivistischen Elite aufzwingen zu lassen. 

Welche „Elite“ meinen Sie?

Unsere öffentliche Debattenkultur wird maßgeblich geprägt von lautstarken Aktivisten, die sich der Identitätspolitik, der Gender-Politik und dem vermeintlichen Anti-Rassismus verschrieben haben. Eine überwiegende Mehrheit, das ist demoskopisch belegt, will das nicht: Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung wollen zum Beispiel keine gegenderte Sprache. Medial wird aber vielfach eine „neue woke Normalität“ konstruiert, dem sich leider zu viele gesellschaftliche Gruppen und auch Wirtschaftsunternehmen unterwürfig anpassen. Die Deutsche Bahn schafft es nicht, ihre Züge pünktlich ans Ziel zu bringen, malt diese aber mit einem Regenbogenstreifen an, Unternehmen verpflichten ihre Mitarbeiter zu Trainings, um sich ihrer „weißen Privilegien“ bewusst zu werden. Immer mehr Menschen stören sich an diesen Auswüchsen.

Außer in launigen Parteitagsreden und polternden Tweets auf Twitter hat es den Eindruck, dass sich die CDU diesem Thema noch nicht strategisch zugewendet hat. 

Schlimmer noch: Teile der Partei leugnen, dass es so etwas wie eine linke Identitätspolitik und einen darauf basierenden Kulturkampf überhaupt gibt. Das halte ich für hochgradig naiv und für unverantwortlich. Wir erleben doch, welche toxische Wirkung die linke Identitätspolitik auf unsere Debattenkultur und damit auch auf unsere Politik hat. Eine lebendige Union muss daher die individuelle Meinungsfreiheit und das Individuum immer gegenüber einem kollektivistischen Denken verteidigen, wie es von Seiten der linken Identitätspolitik betrieben wird. Das gilt genauso für den identitären Populismus von rechts im Stil Donald Trumps oder der AfD. Identitätspolitik setzt individuelle Leistung und freie Entscheidungen zugunsten kollektiver Herkunftsmerkmale außer Kraft und bricht mit dem Erbe der Aufklärung und der bürgerlichen Gesellschaft.

Der Erfolg der linken und rechten Identitätspolitik zeugt in unserer individualisierten Gesellschaft auch von einer großen Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Sinnvermittlung. Wie kann die Antwort der CDU auf dieses Bedürfnis aussehen?

Das ist ein besonderes Problem von christdemokratischer Politik, weil diese Zugehörigkeit klassischerweise über die christlichen Milieus gewährleistet wurde, und die sind in den letzten Jahrzehnten erodiert. Das muss die Union kompensieren und sich umso dringlicher die Frage stellen, welches Wertefundament unsere Gesellschaft auch noch in Zukunft zusammenhalten kann. Deswegen ist es für die CDU so entscheidend, ein Narrativ zu entwickeln, das den Menschen eine sichere und lebenswerte Zukunft auf der Grundlage christlich-sozialer Subsidiarität und der bürgerlichen Gesellschaft verspricht, eine Zukunft, in der die Entfaltungsmöglichkeiten der Einzelnen geschützt und die gemeinschaftsstiftenden Kräfte der Gesellschaft gefördert werden. Diese Herausforderung kann zur Überlebensfrage für die Partei werden. 

Das Gespräch führte Clemens Traub.

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