Deutschland vor dem Krisenjahr 2024 - Republik ohne Führung

Ukrainekrieg, chinesischer Führungsanspruch, destabilisierter Naher Osten, Massenmigration: Die Bundesrepublik steht unvorbereitet vor einem Jahr der Eskalation und Konvergenz gefährlicher Krisen.

Der Kanzler versteckt sich lieber hinter seinen Ministern, statt von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch zu machen / dpa
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Autoreninfo

Hans-Ulrich Seidt war deutscher Botschafter in Afghanistan (2006–2008) und in Südkorea (2009–2012). Er war von 2014 bis 2017 Chefinspekteur des Auswärtigen Amts und leitete von 2012 bis 2014 die Abteilung für Auswärtige Kulturpolitik und Kommunikation des AA in Berlin. Aktuell ist er Fellow des Liechtenstein Institute on Self-Determination der Princeton University und Stiftungsbeirat des Schweizer Afghanistan Instituts/Bibliotheca Afghanica.

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Im 75. Jahr ihres Bestehens steht die Bundesrepublik Deutschland vor ihrer bisher gefährlichsten Krise. Noch ist ihr Haushalt, gelegentlich als das „Schicksalsbuch der Nation“ bezeichnet, nicht endgültig geschrieben; dennoch behält sich die Bundesregierung vor, unter Berufung auf Art. 115 Abs.2 Satz 6 des Grundgesetzes wegen der absehbaren Zuspitzung des russisch-ukrainischen Krieges eine zentrale Bestimmung der deutschen Finanzverfassung, die sogenannte Schuldenbremse, zu suspendieren. Aufgrund der geopolitischen Lage sei eine „außergewöhnliche Notsituation, die sich der Kontrolle des Staates entzieht“, möglich.

Vorausschau 2024: Weltkrieg in Teilen

Bereits am 9. Januar 2023 hatte Papst Franziskus in seiner Neujahrsansprache das beim Vatikanstaat akkreditierte diplomatische Corps vor einem „Weltkrieg in Teilen“ gewarnt. Ein Jahr später zeichnet sich für die Bundesrepublik Deutschland ab, dass eine krisenhafte Entwicklung möglich ist, die über eine fiskalische Notsituation im Sinne des Artikels 115 hinausgeht. Bei einer weiteren Zuspitzung könnte sie als Notstand, ja, sogar als Ausnahmezustand bezeichnet werden.

Diese Feststellung bedarf weder akademischer Theorie noch geheimen Wissens. Es reicht aus, Carl von Clausewitz zu lesen und mit ihm die Schaubühne von Geschichte und Politik zu betrachten. Clausewitz beherzigte den Rat Friedrich Schillers, der in seiner Jenaer Vorlesung zur Universalgeschichte dazu aufgefordert hatte, jene materiellen und immateriellen Kräfte zu studieren, die „auf die heutige Gestalt der Welt und den Zustand der jetzt lebenden Generation einen wesentlichen, unwidersprüchlichen und leicht zu verfolgenden Einfluss“ haben. Mit ihrer Kenntnis könne der Mensch „mit seinen Schlüssen in die Zukunft vorauseilen.“

Es geht der politischen Prognose nicht um die Vorhersage ungewisser Ereignisse, sondern um die nüchterne, zeitgeschichtlich begründete Analyse der Gegenwart und ihrer absehbaren Folgen. Bereits heute ist absehbar, dass im März 2024 Wladimir Putin als Ergebnis einer Wahlsimulation als russischer Präsident wiedergewählt werden wird, während in der Ukraine die verfassungsrechtlich gebotenen Präsidentschaftswahlen wegen des Krieges nicht durchgeführt werden können. Die amerikanischen Präsidentschaftswahlen im November 2024 und ihr unsicheres Ergebnis werden die internationale Politik während des gesamten Jahres belasten. Und im Herbst 2024 werden die Landtagswahlen in drei mittel- und ostdeutschen Bundesländern zwar keine internationale Bedeutung haben, aber ihr Ergebnis dürfte das Parteiensystem der Bundesrepublik auch jenseits der Landesparlamente mit nachhaltiger Wirkung erschüttern.

Die russisch-ukrainische Front 

Unabhängig von diesen Fixdaten des politischen Kalenders wird der weltweite Machtkampf um Ressourcen und Märkte, um Kommunikations- und Verkehrswege weitergehen. Es handelt sich dabei um klassische Geopolitik, deren konkrete Erscheinungsformen im Sinne staatlicher Daseinsvorsorge vorausschauend in Rechnung gestellt werden müssen.

Die russisch-ukrainische Front ist gegenwärtig der verlustreichste Kriegsschauplatz des „Weltkriegs in Teilen“, dessen strategisches Hinterland auf der ukrainischen Seite das Nato-Vertragsgebiet bildet. Die Mitglieder der Atlantischen Allianz nehmen an den eigentlichen Kampfhandlungen zwar nicht mit eigenen Streitkräften teil, aber ohne ihre Berater und Ausbilder, ohne ihre Waffenlieferungen, nachrichtendienstlichen Informationen und finanziellen Zuwendungen wäre eine fortdauernde Verteidigung des ukrainischen Staatsgebiets gegen die Russische Föderation nicht möglich. Am 29. Januar 2023 erklärte die deutsche Außenministerin vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarats: „We are fighting a war with Russia”.

Kann die westliche Hilfe 2024 in notwendigem Umfang fortgesetzt werden? Carl von Clausewitz warnt vor einer eindeutigen Antwort: „Der Krieg ist das Gebiet der Ungewißheit; drei Vierteile derjenigen Dinge, worauf das Handeln im Kriege gebaut wird, liegen im Nebel einer mehr oder weniger großen Ungewißheit”. Nach dem Fehlschlag des Handstreichs gegen Kiew im Februar 2022 konnte Moskaus Führung 2023, wenn auch mit Mühe, ihre Position sowohl militärisch als auch politisch konsolidieren. Der Übergang zu einer defensiven Operationsführung der russischen Streitkräfte weckte in großen Teilen der westlichen Öffentlichkeit die Hoffnung, eine ukrainische Gegenoffensive könne die entscheidende Wende des Krieges bringen. Aber diese optimistische Einschätzung hat sich ebenso wenig bewahrheitet wie die Erwartung einer internationalen Isolierung der Russischen Föderation.

Ein nicht unerheblicher Teil der internationalen Staatenwelt betrachtet den russisch-ukrainischen Krieg inzwischen als machtpolitisch motiviertes Kräftemessen zwischen Washington und Moskau. Viele Regierungen rechnen mit einem offenen Ausgang und warten daher mit einer eindeutigen Positionierung ab. Einige schlugen sich sogar offen auf die Seite Putins, der am 19. Dezember 2023 in Moskau erklärte, der Plan des Westens, Russland in der Ukraine eine strategische Niederlage beizubringen, sei gescheitert.

Werden Trump und die Republikaner 2024 den russisch-ukrainischen Krieg zu Biden’s War erklären und die Lasten des Krieges auf die Schultern der Europäer legen? Nicht ohne Grund wächst zur Jahreswende in Kiew und anderen europäischen Hauptstädten die Sorge, die USA könnten sich wie einst aus Vietnam, dem Irak oder Afghanistan ohne Rücksicht auf Verbündete aus dem Ukraine-Krieg zurückziehen.

Ostasiatische Konfliktlinien

Denn Washingtons Hauptgegner sitzt nicht in Moskau, sondern in Peking, wo die chinesische Führung die Leitidee einer von den USA geführten, multilateral organisierten Welt grundsätzlich ablehnt. Unter Xi Jinping möchte sie eine neue Weltordnung schaffen, in der das „Reich der Mitte“ zum Zentrum einer multipolaren Mächtekonstellation wird. Die aktuelle Bedrohungsanalyse der USA beschreibt diesen fundamentalen Gegensatz genau. Er wird 2024 alle anderen internationalen Entwicklungen beeinflussen.

Die beiden weltpolitischen Rivalen bemühen sich um Verbündete. So scharen die USA die Nato, die G7 und ihre Partner im indo-pazifischen Raum um sich. China wiederum setzt auf die Shanghai Cooperation Organisation (SCO), den BRICS-Verbund des globalen Südens sowie andere von Peking initiierte, im Aufbau befindliche internationale Foren. Auf allen Kontinenten, insbesondere auf der eurasisch-afrikanischen Landmasse, verfolgt Peking konsequent die Strategie einer pénétration pacifique, also einer langfristig angelegten ökonomischen Durchdringung von Wirtschaftsräumen und Gesellschaften.

Diesem Ansatz stellt Washington seine militärisch ausgerichtete Eindämmungsstrategie gegenüber. Sie konzentriert sich schwerpunktmäßig auf die maritime Konfliktzone entlang der ostasiatischen Küste. Zu ihr gehört die seit 1953 durch eine Waffenstillstandslinie geteilte, jedoch weiter im Kriegszustand befindliche koreanische Halbinsel. Der Waffenstillstand erfasst nicht die von den USA einseitig erklärte, maritime Demarkationslinie im Gelben Meer. Nordkorea verfügt über Nuklearwaffen und Trägersysteme mit interkontinentaler Reichweite, Südkorea bleibt auf dem asiatischen Festland das einzige Gebiet mit dauerhafter Präsenz größerer amerikanischer Heeresverbände. Seit November 2023 nehmen die Spannungen in der demilitarisierten Zone zu. Nordkoreanische Raketentests und eine aggressiver werdende Rhetorik Pjöngjangs verweisen auf das Eskalationspotential dieser nordostasiatischen Konfliktzone.
 

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Weiter südlich liegt Taiwan, das für die Weltwirtschaft entscheidende Zentrum der internationalen Halbleiterproduktion. Ebenso wie Hongkong ist die Insel völkerrechtlich Teil Chinas, obwohl ihre Regierung de facto wie die eines unabhängigen Staates agiert. Die USA und ihre Verbündeten halten zwar seit 1979 deklaratorisch am Grundsatz der „Ein China-Politik“ fest und betrachten Taiwan als Teil der Volksrepublik China. Aber Washington testet im Rahmen seiner Eindämmungsstrategie immer wieder, ob und in welcher Weise die Insel gegen Peking in Stellung gebracht werden kann. 

Ähnlich spannungsvoll ist die Lage im Südchinesischen Meer, das von Peking als mare nostrum beansprucht wird. Regelmäßig durchqueren amerikanische Kriegsschiffe dieses umstrittene Seegebiet, um die Freiheit der hohen See zu demonstrieren. Aber wie würden die USA auf chinesische Fregatten im Golf von Mexiko, der „Badewanne der USA“, reagieren? Nicht ohne Grund warnte Admiral James Stavridis, der ehemalige Oberkommandierende der Nato in Europa, in seinem Bestseller „2034“ vor einem chinesisch-amerikanischen Nuklearkrieg, der mit einem Zwischenfall im Südchinesischen Meer beginnt.

Westasiatische Brandherde

Aber solange es nicht zur offiziellen Anerkennung der taiwanesischen Staatlichkeit durch Washington kommt, wird Peking die direkte Auseinandersetzung mit den USA im indo-pazifischen Raum vermeiden und stattdessen der Empfehlung von Meister Sun-tse folgen: „Werde dort aktiv, wo der Gegner schwach ist; weiche einer Konfrontation aus, wo er seine Kräfte konzentriert!“

Entsprechend dieser Maxime baut China seine Positionen in Westasien aus, also in jener Region, die einst aus europäischer Perspektive als Vorderasien oder als Naher und Mittlerer Osten bezeichnet wurde. Als Ergebnis chinesischer Vermittlung einigten sich im März 2023 Iran und Saudi-Arabien, ihre Streitigkeiten diplomatisch beizulegen. Der iranisch-saudische Ausgleich ermöglichte die Rückkehr Syriens in die Arabische Liga und den Besuch des syrischen Präsidenten Assad in Peking. Er endete mit der Unterzeichnung einer strategischen Partnerschaft zwischen Syrien und China, das künftig auch an der Nordostküste des Mittelmeeres präsent sein wird.

Nach dem desaströsen Ende der westlichen Afghanistan-Intervention im August 2021 füllt nicht nur die chinesische Diplomatie das durch den Rückzug der USA in Westasien entstandene politische Vakuum. Die vier Regionalmächte Iran, Israel, Saudi-Arabien und Türkei verfolgen ebenso wie die von ihnen unterstützten nicht-staatlichen Akteure ihre Machtinteressen mit zunehmender Rücksichtslosigkeit. 

In der destabilisierten Region mit den vom Westen geächteten Staaten Syrien, Iran und Afghanistan muss jederzeit mit unerwarteten Krisen gerechnet werden. Die Geschehnisse um und in Gaza zeigen seit dem 7. Oktober 2023 in erschreckender Weise, welches Eskalationspotential aus dem internationalen Bewusstsein verdrängte Konflikte entfalten können. Als eine Folge des Kriegs im Jemen wird im Süden des Roten Meeres der Seeweg zwischen Europa und Asien bedroht. Schon die kurzfristige Blockade des Suezkanals durch ein gestrandetes Containerschiff führte im Sommer 2021 in Europa zu spürbaren Versorgungsengpässen.

Die Schwäche Europas

Im unmittelbaren Anschluss an eine Peking-Reise forderte Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron im April 2023, die Europäische Union müsse in der Lage sein, strategisch autonom zu handeln. Sie dürfe nicht zur Eskalation von Konflikten beitragen, sondern müsse zwischen den rivalisierenden Weltmächten USA und China ihre eigenen Interessen verfolgen. Das ist ein naheliegender Gedanke, der aber angesichts der innen- und außenpolitischen Schwächen der europäischen Schlüsselstaaten Frankreich und Deutschland solange eine Wunschvorstellung bleiben wird, bis die Europäer durch eine Existenzkrise zum Handeln gezwungen werden.

Für ihre innere Sicherheit ergeben sich jedenfalls die größten Risiken aus der unkontrollierten Massenmigration Richtung Europa. Frankreich hat darauf zum Jahresende 2023 mit einer deutlichen Verschärfung seiner Ausländergesetzgebung reagiert. In Brüssel wurde gleichzeitig der EU-Asylkompromiss verhandelt, dessen Wirkung abzuwarten bleibt. 

Jedenfalls werden auch 2024 Millionen von Menschen versuchen, der Hoffnungslosigkeit ihrer Heimat Richtung Europa zu entkommen. Zu den von Gewalt verheerten Ländern ohne Zukunftsperspektiven gehören vor allem Syrien und Afghanistan. Und spätestens nach dem Winter 2023/24 werden auch die Menschen im Erdbebengebiet entlang der türkisch-syrischen Grenze ihre verzweifelten Blicke auf das immer noch stabile und wohlhabende Europa richten – und sich auf den Weg machen.

Ähnliches gilt für Westafrika mit seinem enormen, nur schwer zu beziffernden Migrationspotential. Hier signalisierten 2023 der Zerfall der französischen Hegemonie und das militärische Scheitern der internationalen Gemeinschaft in Mali, wie schwierig es in Zukunft sein wird, in der von Gewalt, Überbevölkerung und Dürre heimgesuchten Sahel-Zone Entwicklungspolitik zu betreiben. Dasselbe gilt für den Gazastreifen, in dem es auf absehbare Zeit nur um akute Nothilfe für Hunderttausende gehen kann. Wohin werden sich die vielen Menschen, die in diesem großflächig, geradezu systematisch zerstörten Gebiet leben, in Zukunft wenden?

Republik ohne Führung

Die akute Verschärfung der internationalen Lage ist der politischen Führung in Berlin seit Februar 2022 bekannt. Damals sprach Bundeskanzler Scholz vor dem Deutschen Bundestag von der „Zeitenwende“. Gleichwohl ließ er es zu, dass das Verteidigungsressort noch fast ein Jahr lang von einer persönlich und fachlich ungeeigneten Ministerin geleitet wurde, die nach dem russischen Angriff auf Kiew allen Ernstes die Lieferung von 5000 ausgemusterten Stahlhelmen zum überzeugenden Zeichen politischer Solidarität erklärte.

Diese bedrückende Erfahrung und das aktuelle Personaltableau der Bundesregierung vermitteln den Eindruck, die Leitungsebene der sicherheitspolitisch relevanten Ressorts und Institutionen der Republik sei, von einer Neubesetzung abgesehen, nach Proporz und Quote, nicht nach fachlicher Kompetenz und persönlicher Eignung besetzt. Zudem scheint Entscheidungsträgern in Spitzenpositionen das Verständnis für jene Aufgaben zu fehlen, die ihnen die Verfassung in dieser kritischen Lage vorschreibt. Politische Führung darf nicht auf Bestellung oder den Impuls eines Parteitags warten, die Richtlinienkompetenz des Kanzlers ist nach dem Grundgesetz unmittelbar mit seinen Amtspflichten verbunden.

Kanzler und Kabinett können sich in der aktuellen Lage auch nicht darauf berufen, ihre analytischen und konzeptionellen Defizite würden durch die Kompetenz nachgeordneter Institutionen ausgeglichen. So gibt es keine Einrichtung, die im Bundeskanzleramt für die ressortübergreifende strategische Ausrichtung der deutschen Politik zuständig ist, seitdem der Bundessicherheitsrat unter Bundeskanzler Helmut Kohl zu einem bürokratischen Organ der Rüstungsexportkontrolle reduziert wurde. Bundeskanzler Gerhard Schröder unternahm 1998 nach den Erfahrungen der Balkankriege immerhin den Versuch, in der Tradition von Bundeskanzler Helmut Schmidt den Bundessicherheitsrat wiederzubeleben. Aber er scheiterte am hartnäckigen Widerstand seines damaligen Außenministers und Koalitionspartners.

So arbeitet heute im Auswärtigen Amt ein kleiner Krisenstab in den ehemaligen Tresorräumen des früheren Reichsbankgebäudes. Die Angehörigen dieser Arbeitseinheit bereiten kompetent und motiviert Evakuierungspläne vor oder koordinieren Hilfsaktionen. Aber die ressortübergreifende strategische Vorausschau und die Erarbeitung von handlungsleitenden Optionen für Kanzler und Sicherheitskabinett gehören nicht zu ihren Aufgaben. Wenn 2024 politische Entscheidungsträger die Räume des Krisenstabs betreten und seine Leitung übernehmen, dann tun sie das unter dem Eindruck der aktuellen Presseberichterstattung und der jüngsten Medienbilder. Sie verfügen, anders als etwa noch der amtierende Bundespräsident und frühere Außenminister, über keine vertiefte Sachkunde und keine Erfahrungen im internationalen Krisenmanagement.

Ein Jahr der Eskalation

Damit steht 75 Jahre nach Verabschiedung des Grundgesetzes die Republik unvorbereitet vor einem Jahr der Eskalation und Konvergenz gefährlicher Krisen. Sie scheint vergessen zu haben, dass ihre Verfassung nicht nur als Antwort auf die Verbrechen des NS-Regimes konzipiert wurde, sondern auch als Gegenentwurf zur krisengeschüttelten Verfassungswirklichkeit der Weimarer Republik. 

Deren Parteien waren nach dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 1929/30 nicht mehr in der Lage, auf parlamentarischer Grundlage handlungsfähige Regierungen zu bilden. Daher bemerkte 1963 der Historiker Fritz J. Epstein im Rückblick auf die erste deutsche Republik: „Es wird immer ein Vorwurf gegen die parlamentarischen Parteien bleiben, dass sie mit ganz wenigen Ausnahmen weder Helden noch Märtyrer, sondern eine zahllose Schar von Mittelmäßigen hervorgebracht haben.“ Es bleibt zu hoffen, dass diese bittere Feststellung nicht das künftige Urteil über die Krise der Berliner Republik und ihrer Parteien vorwegnimmt.


Jahresrückblick mit Mathias Brodkorb und Alexander Marguier
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