
- „Es wäre falsch, alles auf die Impfkarte zu setzen“
Die Zahl der Infektionen mit dem Coronavirus steigt in einzelnen Regionen sprunghaft an. Und ein Impfstoff ist immer noch nicht in Sicht. Nach neuesten Studien wäre der aber möglicherweise auch kein Ausweg aus der Coronakrise. Das Prinzip der Herdenimmunität gilt als gescheitert.
Prof. Dr. Ulrich Mansmann ist Direktor des Instituts für medizinische Informationsverarbeitung, Biometrie und Epidemiologie (IBM) an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU).
Herr Mansmann, in Deutschlands Urlaubsorten herrscht Hochbetrieb. An der Ostseeküste liegen die Urlauber Handtuch an Handtuch. Was denken Sie als Epidemiologe, wenn Sie solche Bilder sehen?
Der Strand ist für mich nicht das Problem - dort weht der Wind, es gibt UV-Strahlung, das ist alles für die Ansteckung nicht gerade förderlich. Das Problem ergibt sich wie in Ischgl, was passiert nach dem Strandbesuch – zum Beispiel in Diskos und Restaurants?
Stellen wir uns vor, unter den Urlaubern an der Ostsee sind auch Menschen aus dem Corona-Hotspot rund um die Fleischfabrik Tönnies in NRW. Die müssen einen negativen Corona-Test vorweisen, um in Mecklenburg-Vorpommern oder in Schleswig-Holstein Urlaub machen zu können. Sie fliehen also vor der einen Gefahr, um sich an einem anderen Ort einem Risiko auszusetzen, das möglicherweise noch höher ist. Sind die Appelle der Politik an die Vernunft ungehört verhallt?
Ich hoffe, dass die Touristenorte Ihre Konzepte zur Vermeidung von „Superspreading“ kompromisslos umsetzen. Dazu gehört, dass das Personal im Gastgewerbe regelmäßig getestet und konsequent in Quarantäne genommen wird, wenn das Virus bei ihnen nachgewiesen wurde. Auch die Gäste müssen auf die möglichen Gefahren hingewiesen werden, wenn sie mit infiziertem Personal in Kontakt gekommen sind.
Erst waren es Skifahrer, die das Virus aus Ischgl eingeschleppt haben. Jetzt taucht es dort auf, wo Menschen am Rande der Gesellschaft leben – zum Beispiel in Sammelunterkünften für Mitarbeiter der Fleischfabrik Tönnies. Hat Sie diese Entwicklung überrascht?
Nein, die Epidemie trifft vor allem die sozial Schwachen, nicht nur bei Tönnies. Zu Ausbrüchen kam es auch schon bei landwirtschaftlichen Tagelöhnern oder bei Menschen, die auf engem Raum in Sozialwohnungen leben. Man darf auch die Bewohner von Alten- und Pflegeheimen nicht vergessen. Der Kontakt zu schlechtbezahlten Pflegekräften ist eine echte Gefahr.
Das Virus ist dabei, die Gesellschaft zu spalten. Menschen aus dem Landkreis Gütersloh zum Beispiel müssen damit rechnen, dass sie woanders angefeindet werden – auch wenn sie gar nicht infiziert sind. Können Sie solche Reaktionen nachvollziehen?
Ich habe früher im Landkreis Oberhavel gelebt und hatte mit dem Nummernschild OHV („Ohne Hirn und Verstand“) ähnliche Erfahrungen mit Berlinern gemacht. Diese Reaktionen sind diskriminierend. Sie sind die Folge eines im Menschen tief verwurzelten Abgrenzungsverhaltens. Vernünftige Argumente kommen dagegen nur schwer an.
Müssen wir uns darauf einrichten, dass solche sozialen Verwerfungen alltäglich werden?
Ich fürchte, ja. Die Epidemie hat viele Menschen hart getroffen: Viele haben ihre Lebensgrundlage verloren, viele haben Existenzängste und psychische Probleme. Unsere Gesellschaft muss Mechanismen entwickeln, damit umgehen zu können. Sie muss der sozialen Stigmatisierung durch Corona etwas entgegensetzen. Wenn sie das unterlässt, werden die Verwerfungen chronisch. Die Regierung muss klare Signale setzen, dass sie über die finanzielle Unterstützung hinaus bereit ist, die Folgen der Epidemie aufzufangen.
Nach vier Monaten sind viele Menschen Corona-müde. Ist daran auch die Politik Schuld?
Nein, zumindest nicht auf den ersten Blick. Die Gründe für die Corona-Müdigkeit sehe ich in der durch die Maßnahmen erzwungenen Lebensbedingungen: Langweile, Einsamkeit, Spannungen in der Familie. Eine wichtige Rolle spielt dabei auch eine gewisse Perspektivlosigkeit: Wie steht es nun mit der Epidemie? Ist sie vorbei, wird alles wieder wie normal?