
- Alle Macht den Räten?
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble sieht in Bürgerräten eine Stärkung der parlamentarischen Demokratie. Deren Teilnehmer diskutieren heikle Themen und geben politische Empfehlungen ab. Ein Gewinn für die Demokratie sind diese hinter verschlossenen Türen tagenden Gremien aber nicht.
Bürgerräte und Bürgergutachten werden derzeit als Patentrezepte gegen Politikverdrossenheit gehandelt. Im Wesentlichen geht es darum, mehr Partizipation zu schaffen nach dem Motto „mehr Demokratie wagen“.
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble etwa sieht in Bürgerräten ausdrücklich eine Stärkung der parlamentarischen Demokratie: „Wir müssen unsere parlamentarische Demokratie zukunftsfähig machen“, stellte er fest und fügte hinzu, der Bürgerrat könne dazu ein wichtiger Ansatz sein.
Das Los entscheidet
Ein Bürgerrat setzt sich aus Bürgerinnen und Bürgern zusammen, die im Losverfahren ausgewählt wurden und repräsentativ für die Gesamtheit sein sollen, etwa für eine Stadt, ein Bundesland oder für ganz Deutschland. Die Teilnehmer diskutieren ein Wochenende oder zwei Wochen lang zusammen mit Experten und schreiben dann ein Bürgergutachten, das die Diskussionsergebnisse zusammenfasst. Der Auftraggeber, die Oberbürgermeisterin oder der Bundestagspräsident, erhält hinterher das Gutachten, kann es berücksichtigen – oder in der Schublade verschwinden lassen.
Aus Schäubles Sicht können Bürgerräte ein Mittel gegen die schwächer gewordene Bindung zwischen Wählern und Gewählten sein und deshalb das Modell der parlamentarischen Demokratie stärken.
Würfeln statt wählen
Vor fünf Jahren machte das Buch von David van Reybrouck „Gegen Wahlen“ Schlagzeilen. Reybrouck wollte das Wählen generell durch Losen ersetzen und produzierte Schlagzeilen wie „Schafft das Wählen ab, es ist besser zu würfeln!“ oder: „Das große Los“ (Cicero, Februar 2017). Der Medienhype um die Los-Demokratie blieb allerdings folgenlos. Abgeordnete auszulosen, war dann doch wohl zu revolutionär.
Jetzt sind es Bürgerräte, die ausgelost werden, um mehr Repräsentation herzustellen und um Lösungen zu finden, die alle zufriedenstellen sollen. Zwei Bürgerräte auf Bundesebene zu den Themen Demokratie und Deutschlands Rolle in der Welt haben bereits ihre Gutachten vorgelegt, ein dritter Bürgerrat zum Klima ist eingerichtet. Bürgerräte gibt es in Kommunen und auf Landesebene.
Besser als Parteien und Parlamente?
Selbst die ARD initiiert neuerdings einen ausgelosten Bürgerrat, um zu erfahren, was die Menschen gerne in den Programmen der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten sehen oder hören möchten. Die Idee, Otto Normalverbraucher und Lieschen Müller, ausgewählt per Zufallsgenerator, könnten (wenn man sie zusammen mit Experten eine Zeit lang diskutieren ließe) bessere Lösungen erarbeiten als die die Politik bestimmenden und in der Verfassung vorgesehenen demokratischen Organisationen wie Parteien und Parlamente, scheint eine gewisse Faszination auszuüben.
Mittlerweile gibt es eine Reihe von Beiträgen, die Art, Arbeitsweise und Erfolgsaussichten solcher Bürgerräte untersuchen (z.B. Zukunftsmodell Bürgerrat? Hrsg. Konrad Adenauer Stiftung 2021). Die These Schäubles, dass die Bürgerräte einen wichtigen Ansatz bilden, um die parlamentarische Demokratie zu stärken, wird allerdings nicht auf ihre Substanz abgeklopft.
Von Anhängern der Idee, Bürgerräte verstärkt zu installieren, wird oft so argumentiert: Obwohl wir eine repräsentative Demokratie haben, würden die Mitglieder der Parlamente große Teile der Bevölkerung nicht mehr repräsentieren. Es gäbe dort zu viele Juristen und Beamte, zu wenig Handwerker und Unternehmer, zu wenige Frauen und zu wenige junge Menschen. Diese mangelnde Repräsentativität würde sich auch in den Entscheidungen niederschlagen.
Bürgerräte hingegen, die per Los repräsentativ für die jeweilige Bevölkerung in der Kommune, im Land oder im Bund zusammengesetzt würden, könnten aufgrund dieser repräsentativen Zusammensetzung ausgewogenere und volksnähere Entscheidungen als die Parlamente treffen.
Repräsentative Demokratie bedeutet jedoch nicht, dass sich die Bevölkerungsstruktur in den Parlamenten widerspiegeln sollte. Es gibt keine Instrumente, mit denen erreicht werden könnte, die Bevölkerungsstruktur 1:1 abzubilden. Jede Person, die ein bestimmtes Alter hat und im Besitz der bürgerlichen Ehrenrechte ist, kann sich zur Wahl stellen. Weitere Zugangsvoraussetzungen wie Bildung oder berufliche Qualifikationen gibt es in unserer Demokratie nicht. Allein die Wählerinnen und Wähler entscheiden über die Zusammensetzung eines Parlaments, wobei in der Regel die Parteizugehörigkeit den Ausschlag gibt.
Forderungen nach einer repräsentativen Zusammensetzung der Parlamente gehören daher in das Reich der unerfüllbaren Wünsche, und die Kritik an einer mangelnden Repräsentativität der Parlamente verkennt das Wesen einer parlamentarischen Demokratie.
„Deutschland im Kleinen“
Bürgerräte sollen die Struktur der Bevölkerung abbilden. „160 Personen bilden ein Mini-Deutschland. Der Bürgerrat soll Deutschland im Kleinen abbilden.“ So heißt es wörtlich in der Vorstellung des Bürgerrats Klima. Es sind jedoch nicht unterschiedliche Berufe und Tätigkeiten, nach denen die Mitglieder des Bürgerrats ausgelost werden. Die Kriterien für die Auslosung sind vielmehr Alter, Herkunft aus einem Bundesland, Bildungsstand, Geschlecht, Größe des Wohnorts sowie Migrationshintergrund.
Ziel der Bürgerräte soll vor allem sein, unterschiedliche Ansichten, Meinungen, Erfahrungen oder Interessen zu einer gemeinsamen Entscheidung zusammenzuführen. Doch die Ansichten, Meinungen, Erfahrungen und Interessen werden kaum von der Herkunft aus einem Bundesland oder der Größe des Wohnorts bestimmt. Auch die Alterskohorten haben nur weniges gemeinsam, auch wenn teilweise versucht wird, einer Generation als „Generation X“, „Y“ oder „Z“ ein übereinstimmendes Lebensgefühl anzudichten. Sozialisierungen im Elternhaus, in der Schule, im Freundeskreis oder in der beruflichen Ausbildung sind in viel stärkerem Maß für die Meinungen und Interessen der Menschen verantwortlich. Die Kriterien für die Mitgliedschaft im Bürgerrat Klima sind daher kaum geeignet, das in der Bevölkerung vorhandene Meinungs-, Erfahrungs- und Interessenspektrum abzubilden.
Volkes Stimme?
Noch fragwürdiger ist aber die Zielrichtung, die mit der Diskussion in einem Bürgerrat verfolgt wird. Sinn des Bürgerrates soll sein, Ergebnisse zu erzielen, die einen breiten Konsens in der Bevölkerung haben werden. Nicht selten schwingt dabei eine Aversion gegen die gewählten Politiker mit: Während die Politikerinnen und Politiker eine abgeschlossene Elite bilden würden und nur noch geringen Kontakt zur Bevölkerung hätten und deshalb nicht mehr wüssten, was die Menschen wirklich bewegt, könne der Bürgerrat kraft seiner Besetzung mit „einfachen Menschen aus dem Volk“ substantielle Ergebnisse erzielen, die breite Zustimmung finden würden.
Diese Zielrichtung der Bürgerräte ist problematisch für die Demokratie. Denn damit wird unterschwellig unterstellt, dass es für alle Probleme eine für fast alle zufriedenstellende Lösung gäbe, wenn man nur „Deutschland im Kleinen“ abbildet und dann diskutieren lässt. Eine solche beste Lösung für alle ist jedoch in einer pluralistischen Gesellschaft eine Illusion.
Denn in der Gesellschaft gibt es ganz unterschiedliche Vorstellungen und Interessen, die befriedigt werden möchten. Ein Paketbote und ein milliardenschwerer Unternehmer werden sich kaum auf ein gemeinsames Sozial- oder Steuerpaket verständigen können. Das gleiche gilt für einen Bauern, der einen industriell geführten Landwirtschaftsbetrieb leitet, und einer Umweltschützerin, die gegen das Insektensterben kämpft.
Kompromisse sind erforderlich
Die Demokratie garantiert durch ihre in der Verfassung niedergelegten Regeln und Werte, dass über den öffentlichen Diskurs, mit Parteien und in Wahlen für eine Mehrheit der jeweiligen Interessen geworben und gekämpft werden kann. Dass die eigenen Vorstellungen und Interessen sich einmal durchsetzen können, weil eine Mehrheit dafür gewonnen werden konnte, das ist das Lebenselixier der Demokratie und Ansporn für demokratisches Engagement. Dabei gehört es zum Wesen der Demokratie, dass zwischen den Parteien, die unterschiedliche Interessen vertreten und bündeln, oft Kompromisse erforderlich sind, um überhaupt Mehrheiten zu erreichen, die Entscheidungen treffen können.
Wenn nun nahe gelegt wird, dass durch Otto Normalverbraucher und Lieschen Müller eine für alle beste Lösung gefunden werden kann, wird dieser demokratische Willensbildungs- und Entscheidungsprozess in Frage gestellt. Wozu brauchen wir dann noch Parteien und Wähler, politisches Engagement und Wahlkämpfe, wenn es doch immer eine angeblich beste Lösung gibt, wenn man nur 160 Leute per Los in einem Gremium versammelt und sie diskutieren lässt?
Denkt man dies zu Ende, ist man bald bei den Weisen, die im Platonischen Staat allein regieren, während alle anderen Untertanen sind. Dass dieser Staat einer Diktatur gleichzusetzen ist, hat Karl Popper eindrucksvoll nachgewiesen.
Demokratiegefährdende Substanz
Demokratie kann nur funktionieren, wenn viele Menschen sich engagieren und bereit sind, am politischen Willensbildungsprozess teilzunehmen und auch Mandate zu übernehmen. Wenn aber Mustermann und Musterfrau bereits nach ein paar Diskussionsrunden für alle konsensfähige Lösungen finden können, werden demokratisches Engagement, Parteien und Wahlkämpfe mit unterschiedlichen Programmen überflüssig. Der Grundgedanke der Bürgerräte, einfache Bürger würden gute Lösungen finden, zu denen die immer abgehobeneren Politiker nicht mehr in der Lage sind, hat daher eine durchaus demokratiegefährdende Substanz. Er stärkt nicht die Demokratie, sondern schwächt sie.
Ein wesentliches Element von Demokratie ist, dass die Gewählten für ihre Entscheidungen zur Verantwortung gezogen werden können. Da sie nur auf Zeit gewählt werden, besteht immer wieder die Möglichkeit, sie abzuwählen, weil ihre Entscheidungen in den Augen der Wähler schlecht waren. Die in der Regel anonymen Mitglieder der Bürgerräte übernehmen aber keine Verantwortung für ihr Bürgergutachten, das heißt für die Lösungen und Ergebnisse, die sie gefunden haben. Wenn sie ihr Gutachten abgeliefert haben, verschwinden sie wieder im „gemeinen Volk“. Sie müssen keine Rechenschaft ablegen und sich keiner Diskussion stellen.
Öffentlicher Diskurs gehört zur Demokratie
Demokratie ist Diskussion, brachte einst der Philosoph und Staatsmann Masaryk das Wesen von Demokratie auf den Punkt. Der öffentliche Diskurs über zu treffende Entscheidungen sowie über ihre Folgen gehört zu den Kernelementen der Demokratie. Durch die Meinungs- Presse- und Rundfunkfreiheit des Grundgesetzes wird er deshalb grundlegend geschützt. Die Diskussionen in den Bürgerräten finden dagegen nicht im öffentlichen Raum statt.
Wenn dann noch gefordert wird, dass die Parlamente die Ergebnisse der Bürgerräte übernehmen sollten, muss auch die Politik die Verantwortung nicht mehr übernehmen, da sie auf die von repräsentativ ausgelosten Mitgliedern eines Bürgerrats erarbeitete Volksmeinung verweisen kann. Das wäre dann die Herrschaft anonymer Zirkel ohne Verantwortung, aber nicht mehr Demokratie.
Es hat durchaus Bürgerräte gegeben, die erfolgreich waren, weil sie Blockaden in Diskussionen auflösen konnten. Auf kommunaler Ebene hat es erfolgreiche Planungszellen gegeben. Als Instrumente des Brainstormings für Problemlösungen, die auch in anderen Bereichen bekannt sind und praktiziert werden, können Bürgerräte gewiss dienen.
Aber die Erwartung, dass solche Gremien grundsätzlich bessere und von breiterem Konsens getragene Lösungen finden, ist nicht nur eine Illusion, sondern diskreditiert den demokratischen Entscheidungsfindungsprozess und gefährdet demokratisches Engagement. Zum Mittel für die Stärkung der Demokratie sollten Bürgerräte jedenfalls nicht verklärt werden.