
- Fliegeralarm am Tag des Sieges
Während Wladimir Putin in Moskau eine pompöse Militärparade abnimmt, haben die Menschen in Charkiw, unweit der russischen Grenze, ganz andere Probleme. Tausende leben noch immer tief unter der Erde in Metrostationen.
Der „Tag des Sieges“ beginnt in Charkiw wie alle Tage in den letzten zweieinhalb Monaten – mit Luftalarm. Um halb zwei Uhr nachts heulen die Sirenen, um elf Uhr morgens wieder. Über Einschläge in der Stadt wird nichts bekannt: Offenbar sind die russischen Raketen in anderen Teilen der Ukraine niedergegangen, vier Raketen haben allein Odessa getroffen, auch ins Zentrum der Stadt Slowjansk soll eine Rakete eingeschlagen sein.
An diesem Tag, an dem noch im letzten Jahr zehntausende Menschen zum „Memorial des Ruhms“ zogen, um im Gedenken an den Sieg gegen Deutschland Blumen niederzulegen und an ihre Väter und Großväter zu erinnern, an dem es früher Konzerte und Feuerwerke gab, haben die Bewohner der Stadt ganz andere Sorgen.
Eine Architektin, die in der Metrostation wohnt
Irina, 61 Jahre alt, und in ihrem Leben vor dem 24. Februar Architektin, eine zierliche Frau mit schwarzen Haaren in einem hellrosa Pullover, steht 35 Meter unter der Puschkin-Straße im Zentrum der Stadt, gießt sich aus einem Kanister Wasser in den Wasserkocher und wartet. Irina lebt seit über einem Monat in der Metrostation Puschkinskaja, zusammen mit etwa 150 anderen Menschen. Den ersten Monat hat sie noch mit ihren Nachbarn im Keller ihres dreistöckigen Wohnhauses im Norden von Charkiw verbracht, dann schlug das Geschoss einer Haubitze ein großes Loch in ihr Haus, ihre Wohnung hat seitdem keine Fenster mehr – und sie floh ins Zentrum.
Irina zeigt ihr Lager: Eine Matratze, eine Decke, auf einer Pappkiste hat sie ihren Kaffeebecher abgestellt, daneben ein paar Plastikboxen mit Krautsalat. So wie sie leben noch Tausende der einst 1,2 Millionen Menschen von Charkiw – an einer Metrostation im Norden sind es allein über 600. „Wir sind jetzt alle gleich“, sagt die Architektin mit Blick auf die Menschen um sie herum, die genau so leben wie sie: Manche haben sich Zelte aufgestellt, Bücher und Konserven gestapelt, andere haben sogar ihre Katzen und Hunde mitgebracht. So leben sie vor sich hin, im hellen Licht der Kronleuchter, Tag und Nacht. Am Ende der Station gibt es eine Spielecke für die Kinder.
Menschen laufen durch Tunnel zum Bahnhof
Nach draußen gehen die Menschen nur, wenn es sein muss: Irina füttert zweimal am Tag die Katzen in der Wohnung ihrer Schwiegermutter, dort kann sie auch duschen. Irina bedankt sich bei den Helfern, aus Charkiw und aus der ganzen Welt. Sie ist glücklich, dass sie am Leben ist. Allein im Gebiet Charkiw sind seit Kriegsbeginn über 600 Zivilisten gestorben: Bis zuletzt standen die Russen direkt vor den Toren der Stadt und beschossen den Nordosten aus allen Kalibern. Aber Irina ist auch müde. „Hier unten haben alle ständig Husten. Und ich habe auch keine Ersparnisse mehr“, sagt sie. Einige Dutzend haben es schon nicht mehr ausgehalten: Durch die finsteren Metrotunnel sind sie bis zum Bahnhof gelaufen und von dort Richtung Westen gefahren.
Der Morgen in der Puschkin-Metrostation in #Charkiw Liebe Wagenknechts und Welzers, denkt doch heute morgen mal an die Tausenden Menschen, die in dieser Stadt seit über zwei Monaten 35 Meter unter der Erde hausen. Vielleicht kommt ihr dann runter von eurem hohen Ross. #Ukraine pic.twitter.com/45VcdkWnjD
— Moritz Gathmann (@moritz_gathmann) May 9, 2022
Auf dem mühsamen Weg die Rolltreppen hoch – sie sind seit Kriegsbeginn abgestellt – läuft man an Werbebannern vorbei, die an die Zeit vor dem Krieg erinnern: KFC wirbt für Chicken Wings mit Cola und Pommes für 99 Griwna, der Charkiwer Zirkus kündigt ein neues Programm an, ein Schönheitsstudio bietet Haarentfernung mit Lasertechnik an. Doch die lebendige Universitätsstadt Charkiw ist so gut wie tot: Nur wenige Autos fahren durch die Stadt, Busse, Metro und Trams stehen still. Immer mehr Geschäfte und Apotheken öffnen zwar, seit letzter Woche auch die ersten Cafés, wo es Zimtschnecken und Croissants und jede Art von Kaffee gibt.
Langsam, nur sehr langsam kehrt das Leben zurück, seit die Ukrainer die Russen aus den Vororten immer weiter in Richtung russischer Grenze abdrängen. Aber was heißt das schon? 35 Kilometer sind es von der Stadtgrenze bis nach Russland – wer kann sagen, ob die russischen Truppen, wenn sie im Donbass Erfolg haben, nicht wieder in Richtung Charkiw vorrücken werden?
Moritz Gathmanns Abendpost aus der Ukraine:
- 72 Tage im Keller
- Ein Tag in Butscha
- „Eure Angst macht Putin stark“
- „Eine Volksrepublik Cherson wird es nicht geben“
In einer Metrostation direkt im Stadtzentrum hatte der Charkiwer Bürgermeister Igor Terechow gestern die verbliebenen Weltkriegsveteranen beglückwünscht, mit ganz anderen Worten als üblich: „Heute sind wir zum ersten Mal nicht gemeinsam zum Denkmal gegangen, weil der russische Aggressor, unser Feind, das Denkmal beschossen hat“, sagte Terechow da. Und erinnerte daran, wie die Generation seines Vaters zusammen mit Russen und anderen gegen die „deutsch-faschistischen Eroberer“ gekämpft hatte – und wie unvorstellbar es bis zuletzt war, dass die Enkel dieser Generation nun „in die Ukraine kommen würden, um uns zu töten.“
Igor Terechow,Bürgermeister von #Charkiw,wo man die Kämpfe draußen vor der Stadt hört und die Sirenen heulen,wendet sich in einer Metrostation an die Weltkriegsveteranen.Auf Russisch - dies zur ewigen Frage:Aber in der Ukraine werden Russischsprachige diskriminiert.Übersetzung 👇 https://t.co/vOY44QxIAj
— Moritz Gathmann (@moritz_gathmann) May 8, 2022
Das Weltkriegsdenkmal in Charkiw, erbaut am Ort eines Massenmords der Nazis an der Zivilbevölkerung, ähnelt jenem im Berliner Treptower Park. Es soll an die 186.000 Soldaten der Roten Armee erinnern, die im Zweiten Weltkrieg allein im Kampf um Charkiw fielen. Über eine Allee gelangt man ins Zentrum des Gedenkortes: Hier steht eine etwa 10 Meter hohe trauernde „Mutter Heimat“ aus grauem Granit, durch Lautsprecher hört man dumpfes Herzpochen. Doch an diesem 9. Mai mischt sich das dumpfe Grollen des Artilleriefeuers aus nördlicher und östlicher Richtung in das stete Pochen des Herzens. Der Erinnerungsort trägt ebenfalls Kriegsspuren: Ein meterhohes Granitrelief am Eingang des Parks wurde getroffen, auf der Rückseite sind mehrere Buchstaben der Inschrift „Die Erinnerung an euch bleibt für immer in unseren Herzen“ heruntergefallen. Auf den Granitplatten der Allee finden sich immer wieder kleine Krater von Granateneinschlägen.
Weltkriegsdenkmal von russischen Granaten getroffen
Vor der Statue der „Mutter Heimat“ liegen Fliederzweige, aber in diesem Jahr kaum Blumen: Die Blumengeschäfte sind geschlossen seit Kriegsbeginn. Alexej und Maxim, zwei junge Männer, sind mit ihren Frauen wie jedes Jahr gekommen, um ihrer Großeltern zu gedenken – dabei hatte die Stadtverwaltung die Bürger aufgerufen, in diesem Jahr zuhause zu bleiben. Sie arbeiten beide als freiwillige Helfer in ihrem Stadtviertel „Horizont“, das in den letzten zwei Monaten schwer zerstört wurde, weil es kurz vor dem Autobahnring um die Stadt liegt: Auf der anderen Seite standen die Russen.

Die beiden sind optimistisch: Die Russen, sagen sie in Anspielung auf das geflügelte Wort, das sich in Kriegszeiten eingebürgert hat, sollen „dahin gehen, wo auch das russische Kriegsschiff hingegangen ist.“ Zum Teufel nämlich. Nichts wünschen sie sich an diesem Tag so sehr wie den Frieden. Aber von einem Friedenskompromiss, der einen Verzicht auf Donezk, Luhansk und Cherson bedeuten würde, halten sie überhaupt nichts. „Was würde das bedeuten? Putin nutzt dann die nächsten Jahre, um wieder Truppen zu sammeln, und dann holt er sich als nächstes Charkiw.“
Putin-Fans in Charkiw
Etwas abseits der „Mutter Heimat“ stehen drei Männer, der eine um die dreißig, die beiden anderen Rentner, einer von ihnen mit einem langen weißen Bart, er erweist sich als sehr religiöser Mensch, Anhänger der russisch-orthodoxen Kirche. Die drei sind anderer Meinung und vereint in ihrer Abneigung gegenüber der politischen Elite des Landes.
Einer von ihnen erweist sich sogar als Putin-Fan: „Putin ist einer, der immer getan hat, was er gesagt hat. Schauen Sie sich an, wie er Russland in 20 Jahren aufgebaut hat! Wenn wir so einen hätten, wäre die Ukraine jetzt ein blühendes Land“, sagt er. Und weil Putin tut, was er sagt, glaube er auch, dass dieser Krieg so lange dauern werde, bis der sein Ziel erreicht habe. Er ist überzeugt, dass es zu Kriegsbeginn sogar eine „Verabredung“ mit der „politischen Elite“ der ukrainischen Großstädte gegeben habe, dass sie sich ergeben würden – aber etwas sei schiefgelaufen.
Von Putin zum Weltjudentum
Danach beginnt der Mann mit dem weißen Bart, über „die wirklichen Gründe“ für den Krieg zu berichten, und man fühlt sich für einen Moment wie in einem deutschen Telegram-Kanal deutscher Verschwörungstheoretiker: Das „Großkapital“ sei daran schuld, die „Rockefellers“, Zbigniew Brzeziński, kurzum – ohne es auszusprechen: das Weltjudentum. Die anderen hören zu, nicken dann und wann. Niemand widerspricht.
Am 9. Mai des Jahres 2022, am 74. Tag des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, versuchen die Menschen in Charkiw sich einen Reim darauf zu machen, wie es dazu kommen konnte. Und kommen in dieser Stadt unweit der russischen Grenze zu unterschiedlichen Ergebnissen. Abends heulen wieder die Sirenen.