
- Deutschlands dreistester Langzeitstudent
Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) nimmt nicht am EU-Dieselgipfel teil. Nachrüstungen kommen frühestens 2020. In ganz Europa brennt der Baum wegen Dieselskandalen und Fahrverboten. Der Minister aber leidet weiter an chronischer Prokrastination
„Warum schiebe ich auf und wie fange ich an?“ – so oder ähnlich lauten die Titel verhaltenstherapeutischer Veranstaltungen, wie sie etwa Universitäten für ihre Studierenden abhalten. Das Ziel: Die Zuhörer sollen lernen, zu reflektieren, aus welchen Gründen sie ständig alles aufschieben und dadurch immer mehr in Stress geraten. Zum Beispiel, weil die Zeit zur Abgabe der Masterarbeit immer knapper wird. Gelernt werden soll, kleine Schritte zu gehen und richtig zu priorisieren. Oft fühlen sich die Betroffenen schlicht überfordert und versuchen sich durch Prokrastinieren kurzfristige Stresserleichtung zu verschaffen. Doch das mündet eben langfristig in Katastrophen.
Von jener Aufschieberitis, die gerade Heranwachsende kennen, scheint beim Dieselskandal und den Dieselfahrverboten die Regierung betroffen, ganz besonders Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer. Zugegeben, der Vergleich ist nicht ganz fair. Zwar ist der zu erreichende EU-Grenzwert für Stickstoffdioxid bereits seit knapp 20 Jahren bekannt (1999 wurde er erstmals in einer EU-Richtlinie festgeschrieben). Aber die Schuld fürs Aufschieben tragen bis auf wenige Ausnahmen nicht allein die Politiker von heute.
Dennoch, sie müssten jetzt umso schneller handeln, obwohl es dafür eigentlich längst zu spät ist. Denn seit 2015 müssen die Grenzwerte zwingend eingehalten werden. Seit 2016 klagt die Deutsche Umwelthilfe (DUH) das ein. Das mag man als unverhältnismäßig kritisieren. Aber im Grunde wird hier eingeklagt, was politisch seit 20 Jahren gewollt und bekannt ist, aber seither immer wieder verschoben wurde. Die Urteile wirken wie eine Schrottpresse für die als klimafreundlich beworbenen Dieselautos. Und gefahren werden sie von Millionen nun davonlaufenden Wählern. Ihnen drohen Wertverluste, Quasi-Enteignungen durch Fahrverbote und ständige finanzielle und mobile Unsicherheit.
Hektische Aktionen ohne Aussicht auf Erfolg
Insbesondere Verkehrsminister Andreas Scheuer erweckt mit seinen zahlreich veranstalteten Dieselgipfeln den Eindruck, gefangen zu sein im Reich der Prokrastination. Saubere Luft, die wollen im Zweifel auch die Dieselfahrer, und die wurde ihnen auch millionenfach beim Kauf der Autos versprochen. Nur stoßen die Fahrzeuge eben leider deutlich mehr aus, als angegeben. Für die illegalen Abschalteinrichtungen hat Andreas Scheuer hunderttausendfache Rückrufe für Softwareupdates angeordnet. Die gelten bis heute als umstritten, weil sie zu wenig gegen NO2 bewirken und zugleich zu einem erhöhten Kraftstoffverbrauch führen. Bußgelder gegen die Hersteller wegen der illegalen Praktiken schiebt Scheuer weiter auf die lange Bank. Dabei könnt er einfach beginnen. Der verwaltungsrechtliche Rahmen würde das zulassen. Mit einem dann aufgelegten Fond könnte man dann jene Hardware-Nachrüstungen bezahlen, für die sein Kraftfahrbundesamt bis heute keine Zulassungen erteilt hat.
Was ansonsten noch nach schnellem Regierungshandeln aussieht, ist weiteres Aufschieben: Die Bundeskanzlerin und ihr Groko-Kabinett wollen dem Stickstoffdioxid-Grenzwert von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft im Jahresmittel einen Toleranzbereich bis 50 Mikrogramm verpassen. Damit wären zwar auf einen Schlag mehr als 50 Städte wieder aus dem Schneider. Das Vorgehen aber dürfte gegen EU-Recht verstoßen. Parallel dazu lässt Andreas Scheuer nun die Positionierung von Messstellen durch den Deutschen Wetterdienst überprüfen. Die Deutschen nämlich machten sich zu „Mess-Idioten von Europa“, wie es neulich der FDP-Verkehrsexperte Oliver Luksic formulierte, weil sie zu nah am Verkehr messen würden. Die Grenzwertmessungen damit nach oben zu korrigieren könnte dann die Grundlage entziehen, auf der die DUH klagt und auf der Gerichte wiederum entscheiden. Doch ob wirklich so viele Messstellen falsch stehen, ist unklar. Und wie lange all das wieder dauern auch. Garniert wird das Ganze mit Diskussionen, ob der aktuelle Grenzwert nicht ohnehin zu niedrig sei und gar nicht so gesundheitsschädlich. Denn selbst im umweltbewussten Kalifornien gelten 57 Mikrogramm. In der Schweiz allerdings seit den Achtziger Jahren durchweg 30 Mikrogramm.
Andreas Scheuer als Chef-Prokrastinator
Dieselgipfel folgte auf Dieselgipfel. Herausgekommen sind nach drei Jahren des Ablehnens und Aufschiebens durch Andreas Scheuer und seiner Vorgänger nun doch Hardware-Nachrüstungen auf Kosten von VW, BMW und Daimler in Höhe von bis zu 3000 Euro. Allerdings, wenn überhaupt, kommen die aber erst 2020. Früher werde es keine vom Kraftfahrbundesamt zugelassenen Nachrüstungen geben, teilte der Verkehrsminister mit. Fahrverbote für Dieselfahrer aber gibt es hingegen schon jetzt. Und die plant man nun obendrein per automatisierter Kennzeichen-Erfassung zu überwachen. Ja, man könnte ja nur noch ganz kurz den Datenschutz-Aufwasch machen, bevor man dann aber ganzwirklich echt anfängt, das Grundproblem zu lösen.
Scheuer prokrastiniert. Während den Dieselfahrern die Zeit davon läuft, nahmen sich er und sein Presseteam aber noch die Zeit, eine Kampagne gegen angebliche Desinformation zu starten. Unter dem Titel „#Missverständnis der Woche“, ja „sogar des Jahres“, veröffentlichte Scheuer auf dem Youtube-Kanal des Verkehrsministeriums ein Video, in dem er anprangerte, dass unter anderem die Medien immer alles durcheinander bringen würden. So hätten zum Beispiel die Fahrverbote „nix mitm Dieselskandal zu tun“, wie Scheuer auch noch mal im ZDF-heutejournal versuchte zu betonen.
Dass es Fahrverbote für Diesel gebe, liege nur daran, dass „Manche“ der Meinung seien, Fahrverbote seien zwingend notwendig“. Mit „Manche“ meint Scheuer übrigens auch das höchstinstanzlich entscheidende Bundesverwaltungsgericht und die Regierung, die als Gesetzesgrundlage die Bundes-Immissionsschutzverordnung geschaffen hatte. Keiner der Diesel, die in deutschen Städten herumfahren und dort NO2 ausstoßen, sei derzeit illegal, eben weil Software-Updates diese ja in einen legalen Zustand versetzt hätten.
Statt Antworten verschickt das BMVI Youtube-Videos
Aufgrund dieser Äußerungen stellte Cicero Online eine Anfrage beim Verkehrsministerium: „Bundesminister Andreas Scheuer sagt, die Dieselfahrverbote hätten nichts mit illegalen Abschalteinrichtungen zu tun. Das solle nicht vermischt werden. Geht das BMVI demzufolge davon aus, dass - egal ob mit oder ob ohne unzulässige Abschalteinrichtungen in Autos - die Messungen der NO2-Werte in den betroffenen Städten identisch wären?“ Und wir fragten auch: „Weshalb sind Rückrufe nötig, wenn die Autos vom KBA zugelassen waren und somit legal waren?“
Denn tatsächlich sind die Abgaswerte sind nicht nur bei jenen Dieseln zu hoch, für die man Rückrufe angeordnet hatte, sondern bei deutlich mehr Modellen. Auf der Straße haben Euro-5-Diesel im Schnitt fünfmal höhere Stickoxid-Emissionen als der zulässige Grenzwert vorschreibt.
Auch hier herrschte im Ministerium wieder die Aufschieberitis vor. Statt seinen grundgesetzgemäßen Pflichten nach umfassender Information nachzukommen und konkret zu antworten, sandte die Pressestelle folgendes zurück: „Minister Scheuer hat sich erst kürzlich zum Thema geäußert. Mit freundlichen Grüßen, Ihre Pressestelle BMVI“. Versandt wurde dazu lediglich jenes Video, das bereits der Grund für unsere Anfrage war.
Scheuer wusste von keinem „Dieselgipfel“
Nun wurde bekannt, dass Andreas Scheuer seine Teilnahme an am sogenannten EU-Dieselgipfel abgesagt hat. Erneut nahm sich der Minister die Zeit, ein Empörungsvideo über die Medien zu drehen: Die Meldung zu seiner Absage sei demnach der „Gipfel des Tages“. Er habe gar nichts von einem Dieselgipfel gewusst, sagt Scheuer (und das obwohl Medien inzwischen seit Tagen davon berichten). Vor Monaten habe die EU-Kommissarin Elżbieta Bieńkowska in lediglich zu „einer Veranstaltung zum Thema Diesel und Mobilität geladen“, und er habe bereits vor Monaten abgesagt, weil am 27.11. parlamentarische Sitzungswoche sei und er den stellvertretenden chinesischen Ministerpräsidenten empfange. Es geht dem Minister offenbar um die richtige Wortwahl, das Wording. Kein Diesel-Gipfel. Sondern eine Veranstaltung zum Diesel. Ok. Jedenfalls ist „der Gipfel“ oder „die Veranstaltung“ offensichtlich nicht allzu wichtig. (Und für manch andere EU-Verkehrsminister übrigens auch nicht).
Seit Bekanntwerden des Dieselskandals versucht sich die polnische EU-Kommissarin Elżbieta Bieńkowska schwerpunktmäßig an der politische Aufarbeitung. Weil Dieselfahrzeuge in ganz Europa fahren und deutsche Hersteller viele davon herstellen, und weil die deutsche Regierung den NO2-Grenzwert jetzt verschiebt, wäre Andreas Scheuer ein bedeutender Gast gewesen. Und auch, weil Bieńkowska sich jüngst darüber beklagte, dass nun gebrauchte deutsche Dieselautos massenhaft nach Osteuropa exportiert und nun dort die Luft verschlechtern würden.
Insgesamt wäre es wohl ein eher unangenehmer Termin für Scheuer geworden. Immerhin ließen auch schon andere Minister eine Sitzungswoche im Parlament sausen für Beratungen auf EU-Ebene wenn die Hütte brannte. Etwa der Finanzminister während der Eurokrise oder der Innenminister während der Migrationskrise.
Neue Anfrage, neues Video
Jedenfalls wollten wir vom BMVI erneut einige Fragen dazu beantwortet haben. Wir stellten acht Fragen, darunter unter anderem: „Nach welchen Gesichtspunkten wurde in diesem Fall priorisiert?“, „Wann hatte der Bundesverkehrsminister, bzw. das BMVI die Einladung zum EU-Dieselgipfel erhalten? Standen die anderen Termine zu diesem Zeitpunkt bereits fest?“ oder „Was sollte auf diesem EU-Dieselgipfel besprochen werden? Und wird dies nun anderweitig besprochen? Wenn ja, von wem mit wem?“.
Und erneut zog es das BMVI vor, ohne die Angabe des Namens eines zuständigen Pressereferenten nur äußerst knapp zu antworten: „Der Minister hat sich dazu heute geäußert“. Und wieder wurde ein launiges Socialmedia-Video dazugepackt.
Also fragten wir die EU-Kommissarin, was auf dem Gipfel (oder der Veranstaltung zum Diesel) hätte besprochen werden sollen. Die Antwort: „Ziel dieses Treffens war es, eine Bestandsaufnahme der ergriffenen Maßnahmen vorzunehmen, bewährte Verfahren auszutauschen und festzulegen, was die Automobilhersteller und die Mitgliedstaaten noch tun müssen, um die Dinge endgültig in Ordnung zu bringen.“
Für die Verzögerungen zahlen alle
Konkrete Antworten, schnelles Handeln und die Dinge endgültig in Ordnung zu bringen, scheinen im Dieselfall also auch Viertel nach Zwölf noch immer nicht die Prämisse der Regierung und insbesondere des seit vier Ministerzyklen CSU-geführten Verkehrsministeriums zu sein. Schuld sind die anderen, im Zweifel die Medien. Zahlen müssen jene, die die Folgen der seit zwei Jahrzehnten herrschenden politischen Aufschieberitits tragen. Das sind Dieselfahrer. Das sind Menschen, die an stark befahrenen Kreuzungen wohnen. Das sind letztlich alle Steuerzahler.
In Anti-Aufschiebe-Seminaren an der Universität lernen die Teilnehmer, dass sie nun erwachsen seien. Nicht mehr die Eltern, sondern man selbst setze sich jetzt die Grenzen und man selbst belohne sich, wenn man es geschafft habe, nicht mehr zu prokrastinieren. Im Falle der Regierung ist die Belohnung die Wählerstimme. Und die nächste Wahl kommt so unweigerlich wie eine Uni-Abschlussprüfung. Nein, auch die Härtefall-Regelung wird nicht mehr helfen. Die wurde in Form von Fristverlängerungen für die Städte über viele Jahre ausgereizt. Die Regierung, und insbesondere Andreas Scheuer, bleiben in Sachen Diesel, Deutschlands dreistesteste Langzeitstudenten.
PS: Nachdem wir uns über das Video als Antwort beschwert hatten, antwortete das Verkehrsministerium dann doch nochmal: „Wir waren der Auffassung, dass dies für Sie interessanter ist als eine Sachinformation oder ein Sprecherzitat.“ Man sei nach wie vor der Meinung, man habe unsere Fragen damit auch beantwortet.