John Mearsheimer im Interview - „Der Westen ist an diesem Krieg schuld“

Der amerikanische Politologe John Mearsheimer widerspricht den gängigen Thesen über die Ursachen des Ukrainekriegs – und sieht nicht Russland, sondern die Vereinigten Staaten als treibende Kraft in diesem militärischen Konflikt. Nuklearschläge sind für ihn eine realistische Option.

John Mearsheimer Mitte Juni in seinem Berliner Hotel / Foto Antje Berghäuser
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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John Mearsheimer, geboren 1947 in New York, ist Politikwissenschaftler an der University of Chicago. 2001 erschien sein Buch „The Tragedy of Great Power Politics“; 2007 veröffentlichte er zusammen mit Stephen Walt den Bestseller „The Israel Lobby and U.S. Foreign Policy“. Ein Vortrag, den Mearsheimer im Jahr 2015 an der University of Chicago über den Ukrainekonflikt hielt, wurde auf Youtube bisher mehr als 27 Millionen Mal aufgerufen.

Professor Mearsheimer, Sie sind gerade zu Besuch in Deutschland. Haben Sie den Eindruck, dass hierzulande anders über den Ukrainekrieg gesprochen und diskutiert wird als in den Vereinigten Staaten?

John Mearsheimer: Nein. Es besteht sowohl bei uns in den Vereinigten Staaten wie auch hier in Deutschland und in Europa ein weitgehender Konsens darüber, wer diesen Krieg verursacht hat. Diesseits und jenseits des Atlantiks wird davon ausgegangen, dass Wladimir Putin ein Imperialist ist, der den Krieg vom Zaun gebrochen hat, um die Ukraine zu erobern und sie in ein „Großrussland“ einzugliedern.

Dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz wird von vielen Seiten, und zwar auch in Deutschland, der Vorwurf gemacht, er unterstütze die Ukraine nicht ausreichend genug im Krieg gegen die russischen Invasoren. Haben Sie eine Erklärung für die Zögerlichkeit von Scholz?

Ja. Ich glaube, sowohl Scholz wie auch der französische Präsident Macron haben sehr genau erkannt, dass durch Waffenlieferungen an die Ukraine eine ohnehin schon schlimme Situation noch weiter verschlimmert wird. Beide haben offenbar verstanden, dass der beste Weg aus diesem Desaster heraus in einer Verhandlungslösung besteht. Tatsächlich ist die Vorstellung völlig abwegig, eine vom Westen aufgerüstete Ukraine werde den Krieg gegen Russland gewinnen. Denn entweder geht der Plan auf – was mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass Putin Nuklearwaffen einsetzt. Oder der Plan geht nicht auf – was dann wiederum impliziert, dass die Ukraine noch weiter zerstört wird. Das wären jeweils für sich genommen desaströse Ergebnisse. Deswegen die Zurückhaltung des deutschen Kanzlers und des französischen Präsidenten in Sachen Waffenlieferungen – die aus ihrer Sicht einfach keine intelligente Strategie darstellen. Das Problem für Scholz und Macron ist nur: Die Amerikaner sehen das ganz anders, sie wollen keine Verhandlungslösung. Die Amerikaner haben vielmehr ein Interesse daran, Russland auf ukrainischem Boden militärisch zu besiegen.

In einem inzwischen berühmt gewordenen Vortrag an der Universität von Chicago aus dem Jahr 2015 über die Ukrainekrise sagen Sie: „Putin ist zu schlau, um die alte Sowjetunion zurückbekommen zu wollen.“ Ist denn die Invasion der Ukraine nicht der erste Schritt in genau diese Richtung? Immerhin hat Putin den Untergang der Sowjetunion auch als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet. Und unlängst hat er sich mit Zar Peter dem Großen verglichen. Das deutet doch auf Expansionspläne hin?

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Nein. Putin hat kein Interesse an so etwas wie „Großrussland“.

Aber seine eigenen Aussagen klingen anders.

Meines Erachtens geht es ihm darum nicht. Putins Thema war schon immer die Nato-Expansion – und daran hat sich im Kern auch nichts geändert. Man sollte darauf achten, was er im Verlauf der vergangenen Jahre immer wieder gesagt hat. Da ging es nicht um ein Zurück zur Sowjetunion oder ein „Großrussland“. Seine Bemerkung von wegen der „größten geopolitischen Katastrophe“ bedeutet noch lange nicht, dass er die Sowjetunion wieder herstellen will.

Es wäre allerdings die naheliegende Konsequenz. So sieht man das übrigens insbesondere auch in den baltischen Staaten.

Putin gelingt es doch nicht einmal, die östlichen und südlichen Teile der Ukraine einzunehmen. Die Einnahme Kiews ist misslungen. Er hat auch überhaupt nicht versucht, die gesamte Ukraine einzunehmen. Die Behauptung, er würde noch andere Länder überfallen wollen, ist schlichtweg kein seriöses Argument.

Im selben Vortrag vor sieben Jahren sagten Sie: „Wenn man Russland wirklich ruinieren will, sollte man es dazu ermuntern, die Ukraine einzunehmen.“ Demnach wäre Putin jetzt gewissermaßen in eine Falle gelaufen?

Nein. Weil Putin eben gerade nicht versucht, die Ukraine einzunehmen. Aber das scheinen die meisten Menschen im Westen irgendwie nicht verstehen zu wollen. Wenn er die Ukraine hätte einnehmen wollen, hätte er eine klassische Blitzkrieg-Strategie angewendet mit einer durch taktische Luftwaffe unterstützten Infanterie.

Aber der „Blitzkrieg“ war ja offenbar geplant, nur ist er gescheitert. Auch die versuchte Einnahme Kiews spricht dafür, dass es Putin um die gesamte Ukraine ging.

Nein. Kiew ist nicht die „gesamte Ukraine“. Die Ukraine ist ein riesiges Land, das größte in Europa zwischen dem Atlantik und Russland. Ich sehe einfach keine Evidenz dafür, dass Putin die gesamte Ukraine erobern wollte.

Waren Sie überrascht, als Sie am 24. Februar von der russischen Invasion in der Ukraine erfuhren?

Ja, das war ich. Ich hielt es für einigermaßen unvorstellbar, dass es zu einem Krieg dieses Ausmaßes auf europäischem Boden kommen würde.

Ihre Hauptthese zum Ukrainekonflikt lautete schon vor sieben Jahren: Der Westen trägt die Hauptschuld an diesem Konflikt, weil er die geopolitischen Interessen Russlands ignoriert hat und die Ukraine als klassischen Pufferstaat der Russen in den Westen integrieren wollte. Ist das immer noch Ihre Meinung? Oder sehen Sie einige Dinge inzwischen doch etwas anders?

Das ist unverändert meine Meinung. Dieser Krieg ist eine unmittelbare Folge des Versuchs, die Ukraine in die Nato und in die EU aufzunehmen und sie in eine Demokratie nach westlichem Vorbild zu verwandeln. Die Ukraine wäre damit ein Bollwerk des Westens unmittelbar an Russlands Grenze geworden. Und als im April 2008 erstmals Pläne verkündet wurden, die Ukraine in die Nato aufzunehmen, haben die Russen sofort klargestellt, dass das für sie inakzeptabel wäre – weil sie dies als eine existenzielle Bedrohung empfanden. Sie stellten ebenfalls klar, dass sie die Ukraine eher zerstören würden, als deren Aufnahme ins westliche Militärbündnis zu akzeptieren. Angela Merkel hat sich damals den Nato-Plänen übrigens deshalb widersetzt, weil ihr klar war, dass der Kreml diesen Schritt als eine Kriegserklärung empfinden würde. Und Merkel hat damit den Nagel exakt auf den Kopf getroffen. 

Warum hat Putin seine Truppen dann ausgerechnet jetzt in die Ukraine einmarschieren lassen? Es gab doch faktisch keine Bemühungen des Westens mehr, die Ukraine in die Nato oder in die EU aufzunehmen.

Das stimmt einfach nicht. Im Verlauf der Jahre 2020 und 2021 ist die Ukraine faktisch zum Nato-­Mitglied geworden. Der Westen hatte keineswegs das Interesse an der Ukraine und an deren Integration in die Nato verloren. Man muss sich doch nur das Nato-Kommuniqué anlässlich der Jahrestagung in Brüssel vom 14. Juni 2021 anschauen: Da wurde kein Zweifel daran gelassen, dass es ein klares Ziel sei, die Ukraine ins westliche Militärbündnis aufzunehmen. Die Amerikaner haben das hinterher noch bei mehreren Gelegenheiten bekräftigt – unter anderem während eines Empfangs des ukrainischen Präsidenten Selenskyj im Weißen Haus Anfang September vorigen Jahres. Nicht zuletzt haben die Vereinigten Staaten die Ukraine mit Waffen versorgt und das dortige Militär ausgebildet. Letzteres übrigens seit dem Jahr 2014 in einem Umfang von durchschnittlich 10 000 Soldaten jährlich.

 

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Der amerikanische Verteidigungsminister Lloyd Austin hat vor einigen Wochen gesagt, Ziel der westlichen Unterstützer der Ukraine müsse es sein, Russland militärisch so zu schwächen, dass es sich Invasionen wie jetzt in der Ukraine künftig nicht mehr leisten könne. Sind die USA damit faktisch Kriegspartei?

Selbstverständlich. Die USA befinden sich faktisch im Krieg mit Russland. Wir kämpfen zwar nicht selbst, das übernehmen die Ukrainer. Aber davon abgesehen sind die Vereinigten Staaten extrem tief in diesen Krieg verwickelt. Wir beliefern die Ukraine mit Waffen, bilden ihr Militär aus und versorgen sie mit Geheimdienstinformationen, die einen erheblichen Einfluss auf den Verlauf der Kämpfe haben. Die USA fühlen sich dazu berufen, Russland eine schwere Niederlage beizubringen und seine Wirtschaft massiv zu schwächen. Ganz einfach, weil sie Russland aus dem Kreis der Großmächte heraushaben wollen. Es ist ein Spiel mit dem Feuer. Und wie gesagt: Scholz und Macron haben das sehr genau erkannt.

Die Ukraine fordert vom Westen aus naheliegenden Gründen Waffenlieferungen, insbesondere schwere Waffen. Sie selbst haben immer wieder vor einem Eskalationspotenzial bis hin zum Nuklearkrieg gewarnt, wenn man Putin in die Enge drängt. Andererseits kann man die Ukraine ja auch schlecht ihrem Schicksal überlassen. Welche Interessenabwägung sollte beim Thema Waffenlieferungen gemacht werden?

Wenn die amerikanische Regierung einigermaßen bei Trost wäre, würde sie ihre militärische Unterstützung für die Ukraine jetzt einstellen und nach einer Verhandlungslösung suchen – auch wenn es jetzt schon reichlich spät dafür ist. Die Vorstellung, wir könnten die Ukraine dazu bringen, Russland militärisch zu besiegen, führt geradewegs ins Desaster. Die Gründe dafür hatte ich ja schon genannt.

Aber Selenskyj selbst hat soeben noch mal beteuert, dass es ihm um eine Rückgewinnung sämtlicher durch Russland besetzter Gebiete einschließlich der Krim geht.

Diese Meinung kann er ja vertreten. Das wäre aber ganz bestimmt nicht im Interesse der Vereinigten Staaten. Übrigens auch nicht im Interesse Deutschlands. Denn dann droht ein Atomkrieg.

Sie haben immer wieder gesagt, die USA sollten realistischerweise eigentlich gar kein strategisches Interesse an der Ukraine haben. Es wäre vielmehr im Interesse der Vereinigten Staaten, ein gutes Verhältnis zu Russland aufzubauen, weil man Moskau braucht, um etwa China und den Iran einzudämmen. Glauben Sie, dass mit Putin eine Art strategische Partnerschaft überhaupt möglich gewesen wäre?

Ja. Putin hatte über einen sehr langen Zeitraum ein Interesse an guten Beziehungen zum Westen. Es waren die USA, die das Verhältnis zwischen Moskau und Washington ebenso vergiftet haben wie das zwischen Moskau und Berlin. Es war ja nicht Putin, der sich gen Westen ausgestreckt hat. Es waren die Nato und die EU, die sich gen Osten ausgestreckt haben: 1999 die Aufnahme Polens, Tschechiens und Ungarns; die Slowakei, das Baltikum und andere frühere Staaten des Warschauer Paktes folgten 2004. Dann schließlich 2008 die Ankündigung, auch Georgien und die Ukraine aufnehmen zu wollen – mit der Folge eines Krieges in Georgien. Nicht ohne Grund hat der Kreml noch im vergangenen Dezember von der Nato und der Biden-Administration die Zusage verlangt, dass die Ukraine nicht ins Militärbündnis aufgenommen wird. Die amerikanische Antwort darauf lautete: Wir werden unsere Politik nicht ändern. Das Ergebnis ist bekannt.

Sie glauben also, der aktuelle Krieg hätte vermieden werden können, wenn die USA rechtzeitig eingelenkt hätten?

Ja. Aber die für die amerikanische Außenpolitik Verantwortlichen sind eben schlecht beraten gewesen.

In Deutschland, aber auch anderswo, ist jetzt oft der Vergleich mit dem Jahr 1938 zu hören und der Appeasement-Politik gegenüber Adolf Hitler. Das dürfe im Fall der Ukraine nicht noch einmal passieren, heißt es oft. Sie selbst halten den impliziten Vergleich Putins mit Hitler für abwegig. Würden Sie nicht immerhin sagen, dass das Putin-Regime faschistoide Züge trägt?

Um es ganz klar zu sagen: Es existiert nicht die geringste Ähnlichkeit zwischen Nazideutschland und dem heutigen Russland. Und auch nicht zwischen Wladimir Putin und Adolf Hitler. Auch ist der Ukrainekrieg nicht vergleichbar mit den Kriegen, die das Dritte Reich zwischen den Jahren 1939 und 1945 geführt hat. Ob man Putin als Faschisten bezeichnen kann, hängt davon ab, wie man Faschismus definiert. Ich tue mich mit solchen Definitionen schwer, weshalb ich auch auf entsprechende Zuschreibungen verzichte. Völlig unstrittig ist, dass Putin ein autoritäres Regime etabliert hat und Russland mit eiserner Faust regiert. Die meisten westlichen Beobachter übersehen aber, dass Russland eine schwache Großmacht ist – ausgestattet mit einer Armee, die nicht im Geringsten an die damalige Kampfkraft von Hitlers Wehrmacht heranreicht.

Immerhin fühlen sich Finnland und Schweden bedroht genug durch Russland, um jetzt in die Nato aufgenommen werden zu wollen.

Das ist lächerlich. Ebenso lächerlich wie die Vorstellung, Deutschland werde durch Russland militärisch bedroht. Es war genau umgekehrt: Die Nato ist eine Bedrohung für Russland.

Ganz ehrlich: Die Nato hat doch nicht das geringste Interesse daran, in Russland einzumarschieren.

Das ist jedenfalls die vorherrschende Meinung im Westen. Aber darauf kommt es nicht an. Das Einzige, was in diesem Fall zählt, ist: Wie bewerten Putin und seine Militärs die Situation? Und die sehen in der Nato-Osterweiterung eben eine tödliche Gefahr. Übrigens hat Bill Burns, der damalige US-Botschafter in Moskau und heutige CIA-Direktor, schon beim Bukarester Gipfel im Jahr 2008 ausdrücklich gewarnt, dass mit einem Nato-Beitritt der Ukraine aus russischer Sicht eine leuchtend rote Linie überschritten werden würde. Und zwar für jeden Staatschef im Kreml – nicht nur für Putin. Burns hatte sogar mit Putins liberalen Widersachern gesprochen, und allesamt waren sie der Meinung: rote Linie! Wir waren also gewarnt, aber uns Amerikanern war es egal.

Halten Sie Wirtschaftssanktionen eigentlich für sinnvoll, um Russland zum Einlenken im Ukrainekrieg zu bewegen?

Nein. Die Russen werden zwar unter den Sanktionen leiden. Aber das wird der Westen auch tun – insbesondere die Europäer. Vor allem muss man doch Folgendes sehen: Aus Putins Sicht ist die Bedrohung durch die Nato derart existenziell, dass er die Sanktionen einfach ertragen wird.

Gibt es derzeit überhaupt ein plausibles Szenario, wie der Ukrainekrieg beendet werden kann?

Nicht, dass ich wüsste. Ich habe mit unzähligen Leuten gesprochen, die sich mit der Materie wirklich gut auskennen. Niemand war in der Lage, mir zu erklären, wie ein baldiges Ende dieses Konflikts erreicht werden könnte. Ich selbst sehe derzeit auch keine realistische Lösung für dieses Desaster mit seinen unzähligen Dimensionen.

Braucht es einen für Putin „gesichtswahrenden Ausweg“?

Es geht meiner Meinung nach nicht darum, dass Putin sein Gesicht wahren kann. Er hat diesen Krieg begonnen mit einem klaren politisch-strategischen Ziel. Nämlich, die Ukraine aus der Nato herauszuhalten. Er will, dass die Ukraine sich vom Westen abwendet und neutral wird. Genau das aber werden die Amerikaner nicht akzeptieren, weil es einem Sieg von Putin gleichkäme. Auf der anderen Seite würde ein militärischer Erfolg der Ukraine gegen Russland die mögliche Eskalation hinein in einen atomaren Konflikt bedeuten. Das hat ja auch die US-Geheimdienstkoordinatorin Avril Haines im Mai exakt so formuliert. Es ist eine furchtbar vertrackte, hochexplosive Situation.

Wie sehen Sie eigentlich die neue Rolle Deutschlands in der Welt? Bundeskanzler Scholz hat von einer „Zeitenwende“ gesprochen, es sollen 100 Milliarden Euro in die Bundeswehr fließen. Gleichzeitig fehlen uns jetzt Öl und Gas aus Russland, und für eine exportorientierte Nation wie Deutschland sieht es derzeit auch eher schlecht aus in einer Zeit der Deglobalisierung. Hat Deutschland seine besten Zeiten hinter sich?

Keine Frage, Deutschland steckt in tiefen Problemen – weil man der amerikanischen Vorreiterrolle in Sachen Nato-Expansion gefolgt ist. Und Deutschland wird einen hohen Preis dafür zahlen.

In Ihrem eingangs erwähnten Vortrag machen Sie sich über die „Strategen des 21. Jahrhunderts“ lustig, die in Washington das Sagen hätten. Sie selbst hingegen seien ein „Stratege des 19. Jahrhunderts“. Was meinen Sie damit eigentlich? Auf der einen Seite Idealisten wie Obama, der damals Präsident war – und Sie selbst wären demgegenüber ein Hardcore-Realist? Gilt diese Unterscheidung auch für die Biden-Administration?

Es ist eine weitverbreitete Auffassung im Westen, insbesondere hier in Deutschland, dass „Realpolitik“ ein völlig antiquiertes Konzept ist – und dass Leute wie ich zu den Dinosauriern zählen. Und wenn man mit westlichen Beobachtern über Russland und die Ukraine spricht, bekommt man oft zu hören: Putin ist nicht mehr auf der Höhe der Zeit, internationale Politik funktioniert nicht mehr so, wie er sich das vorstellt. Aber das stimmt einfach nicht. Wir leben immer noch in einer Welt, in der „Balance of Power“ und Macht ganz entscheidende Faktoren sind – gerade auch militärische Macht. Die Chinesen sehen das übrigens nicht anders.

Womöglich machen die Deutschen da gerade einen Bewusstseinswandel durch.

Das hoffe ich sehr für sie.

„Intellektuell bin ich mehr in China zu Hause als in Washington“, so ein Bonmot von Ihnen im eingangs erwähnten Chicagoer Vortrag. Denn auch die Chinesen seien „Strategen des 19. Jahrhunderts“. Inzwischen scheint China mit Xi Jinping allerdings nicht mehr ganz so erfolgreich zu sein. Ob politisch, wirtschaftlich oder gesellschaftlich wie jetzt mit den Lockdowns in Shanghai: Die Probleme häufen sich. Haben wir im Westen die chinesischen Erfolge überschätzt?

Jedenfalls haben wir ihre zurückliegenden Erfolge nicht überschätzt. Und wir in den Vereinigten Staaten haben den Chinesen ja auch tatkräftig dabei geholfen, diese Erfolge überhaupt erzielen zu können. Aber in der Tat sieht China sich derzeit mit diversen Problemen konfrontiert, und es ist schwer abschätzbar, in welche Richtung es sich wirtschaftlich bewegen wird. Meine Hoffnung als ein guter Realist ist es, dass die Wachstumsraten in China in den nächsten Jahren schmerzhaft zurückgehen, und dass stattdessen die amerikanische Wirtschaft wächst. Mein Wunsch ist es, dass sich das globale Kräfteverhältnis wieder zugunsten der Vereinigten Staaten verschiebt. Es ist allerdings durchaus möglich, dass das Gegenteil geschieht.

Warum spielen Sie mit Ihrer Haltung zum Ukraine­krieg eigentlich eine derart krasse Außenseiterrolle? Viele Ihrer Kollegen und auch etliche Politiker meiden Sie ja regelrecht.

Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens: Ich habe ziemlich gute Argumente. Evidenz und Logik stützen ganz einfach meine Position. Wenn Sie mich in eine Debatte mit einem amerikanischen Regierungsvertreter über die Ursachen des Ukraine­kriegs setzen würden, würde ich diese Debatte mit ziemlicher Sicherheit gewinnen. Der zweite Punkt: Meine Argumente stützen die These, dass der Westen und insbesondere die Vereinigten Staaten für das jetzige Desaster in der Ukraine verantwortlich sind. Das ist eine bittere Erkenntnis, und deswegen will sie natürlich auch keiner hören. Also werde ich von vielen wie ein Paria behandelt.

Das Gespräch führte Alexander Marguier.

Dieser Text stammt aus der Juli-Ausgabe des Cicero, die Sie vom 30. Juni an am Kiosk oder jetzt direkt bei uns kaufen können.

 

 

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