
- Russische Vergeltung, türkischer Widerspruch
Am Sonntag hat Finnland offiziell bekanntgegeben, dass es einen Antrag auf Beitritt zur Nato stellen wird. Die Debatte über diesen Schritt hatte zwar schon vor längerer Zeit begonnen, aber dessen Vollzug wurde durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine beschleunigt. Berichten zufolge will Schweden diese Woche nachziehen. Auch wenn die Entscheidung nicht sonderlich überraschend war, so ist die Reaktion Russlands doch aufschlussreich. Interessant ist auch das Verhalten der Türkei, die sich gegen einen Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands ausspricht.
Russland und Schweden haben nicht viel miteinander zu tun, aber Finnland und Russland durchaus. Sie verfügen über eine lange gemeinsame Grenze und sind seit Jahren befreundet, was zum Teil auf die Neutralität Finnlands während des Kalten Krieges zurückzuführen ist. Dies wurde durch einen Vertrag ermöglicht, den die beiden Länder im Jahr 1948 unterzeichnet haben. Im Gegenzug für die Neutralität verpflichtete sich die Sowjetunion, nicht in Finnland einzumarschieren oder es in einen Satellitenstaat zu verwandeln. Damals war es für Finnland unerlässlich, die Integrität seiner Grenzen zu wahren, um nicht noch mehr Territorium an Russland zu verlieren.
Infolgedessen haben Finnland und Russland ein recht enges Verhältnis entwickelt. Handel und Investitionen haben seit dem Kalten Krieg zugenommen, vor allem zwischen Südostfinnland und Nordwestrussland, und auch der Transit und der Verkehr sind gewachsen. Die wirtschaftlichen Beziehungen verschlechterten sich zwar, nachdem Finnland sich wegen der russischen Annexion der Krim den EU-Sanktionen gegen Moskau anschloss, aber selbst dann kamen noch etwa 60 Prozent des finnischen Erdgases aus Russland. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – ist Helsinki seit 2008 zunehmend misstrauisch gegenüber Russland geworden und hat, wie Schweden, seine Zusammenarbeit mit der Nato entsprechend ausgebaut.
Eine Möglichkeit der russischen Vergeltung ist wirtschaftlicher Natur
Russland hat seinerseits schon angekündigt, dass es wegen des Beitritts Finnlands „Vergeltungsmaßnahmen“ ergreifen werde. In gewisser Weise haben die Russen sich für diesen Fall abgesichert. Seit 2014 wurde die örtliche Infrastruktur modernisiert und in die Siedlungen im nördlichen Murmansk investiert. Am 28. Februar, nur wenige Tage nach Beginn der Invasion in der Ukraine, kündigte die Regionalregierung den Beginn einer weiteren Bau- und Modernisierungsphase an und gab bekannt, dass für die Arbeiten im Jahr 2022 rund drei Milliarden Rubel (umgerechnet rund 40 Millionen Euro) bereitgestellt würden – außergewöhnlich für eine Region, die in den vergangenen zehn Jahren nicht viel Aufmerksamkeit erhalten hat.
Die Nato-Beitrittsgespräche haben die Pläne des Kreml jetzt noch dringlicher gemacht. Am 13. April beauftragte Präsident Wladimir Putin das Verteidigungsministerium mit der Durchführung dieser Modernisierungsmaßnahmen und ordnete an, dass sie bis 2024 abgeschlossen sein müssen. In der Region Murmansk, in der rund 724.000 Menschen leben, befindet sich der Hauptstützpunkt der russischen Nordmarine, der aus fünf Militärlagern und zwölf Siedlungen mit insgesamt rund 150.000 Einwohnern besteht. In Anbetracht der Tatsache, dass das Gesamtbudget für das Programm auf 78 Milliarden Rubel geschätzt wird (und es bereits vor Inkrafttreten der Sanktionen bereitgestellt wurde), ist es also wahrscheinlich, dass die Nordmeerflotte aufgestockt wird.
Eine weitere Möglichkeit der russischen Vergeltung ist wirtschaftlicher Natur. Die Kürzung von Energielieferungen wird Russland mit Vorsicht in Erwägung ziehen – Moskau braucht die Einnahmen und kann es sich zudem nicht leisten, der drohenden Notlage von 30.000 Russen, die dort leben, gleichgültig gegenüberzustehen. Deshalb hat Russland am 14. Mai die Stromlieferungen an Finnland unterbrochen und sich auf Zahlungsverzögerungen berufen, was die Tür für spätere Verhandlungen öffnet.
Aber das ist später vielleicht nicht mehr ganz so wichtig wie heute. Finnland bezieht derzeit etwa zehn Prozent seines Strombedarfs aus Russland, arbeitet aber daran, die eigene Produktion zu steigern. Und obwohl 60 Prozent des Erdgases aus Russland stammen, macht Erdgas nur etwa fünf Prozent des finnischen Gesamtenergieverbrauchs aus. Die wichtigsten Energiequellen des Landes sind Kernkraft (etwa 33 Prozent des Gesamtverbrauchs), Wasserkraft (22 Prozent) und Biomasse (17 Prozent).
Der türkische Präsident Erdogan spricht sich gegen einen Nato-Beitritt Finnlands aus
Ein effektiverer Weg, der finnischen Wirtschaft zu schaden, wäre die Instrumentalisierung des Hafens von St. Petersburg: Dieser ist von dominierender Bedeutung für den regionalen Schiffsverkehr und trägt dazu bei, dass finnische Fracht, die Helsinki nicht aufnehmen kann, dennoch umgeschlagen wird. Außerdem konzentrieren sich die meisten finnischen Auslandsinvestitionen in Russland in St. Petersburg. Die russische Regierung könnte den Druck auf die in Russland tätigen finnischen Unternehmen also erhöhen und sie dazu bringen, ihre wichtigsten Vermögenswerte zu verkaufen oder sogar auf ihr Geschäft in Russland zu verzichten. In einem Extremszenario könnte Russland finnische Vermögenswerte sogar verstaatlichen, bevor die Investoren den mühsamen Prozess des Rückzugs aus einer ziemlich integrierten Wirtschaft beginnen. Moskau würde durch solch einen drastischen Schritt jedoch auch andere Investoren verschrecken.
Wie auch immer Russland sich entscheidet, es hat auf jeden Fall Zeit, seine Optionen zu prüfen. Damit ein Land der Nato beitreten kann, muss es eine förmliche Einladung erhalten. Und obwohl die Nato-Führung sowohl Schweden als auch Finnland offen zum Beitritt eingeladen hat, hängt eine förmliche Einladung vom Konsens aller derzeitigen Mitglieder ab.
Hier kommt die Türkei ins Spiel. Am Tag nach der Ankündigung des beabsichtigten Nato-Beitritts der Finnen sprach sich der türkische Präsident Erdogan gegen eine Erweiterung aus und begründete dies mit seiner Besorgnis über die Präsenz von „Terroristen“ sowohl in Finnland als auch in Schweden. Die Türkei beklagt seit langem, dass Schweden die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) nicht als terroristische Organisation betrachtet. Ankara hat die Tatsache verurteilt, dass der schwedische Außenminister die türkischen Operationen in Nordsyrien kritisiert und sich 2020 mit Mitgliedern der Volksschutzeinheiten (YPG), dem syrischen Arm der PKK, getroffen hat.
Ebenfalls hat Ankara die finnische Regierung dafür kritisiert, dass sie sich den militärischen Sanktionen gegen die Türkei angeschlossen hat. Die Sanktionen waren von den Vereinigten Staaten verhängt worden, nachdem Ankara die russischen S-400-Raketenabwehrsysteme gekauft hatte. Obwohl es bei den Sanktionen in erster Linie um Waffengeschäfte geht, schränken sie auch die Kreditvergabe an die türkischen Rüstungsindustrie ein, was wiederum die europäisch-türkische Entwicklung fortschrittlicher Waffensysteme beeinträchtigt.
Ankara hat gegenüber der Ukraine bisher eine ausgewogene Strategie verfolgt
Im Allgemeinen waren die Nato und ihre Mitglieder besorgt, dass die Integration des S-400 in die Systeme der Verbündeten die Sicherheit der Nato gefährden könnte – und haben ihre Verkäufe in Sachen Militärtechnologie und ihre Zusammenarbeit mit der Türkei eingeschränkt. Sowohl Finnland als auch Schweden hingegen haben ihre Sicherheitspartnerschaften mit der Nato ausgebaut, indem sie an gemeinsamen Übungen teilgenommen und auf diese Weise eine gemeinsame Infrastruktur für die Interoperabilität geschaffen haben.
Trotz der angespannten Beziehungen zwischen der Türkei und Finnland sowie Schweden hat die Reaktion Ankaras auf den Beitritt der beiden Länder die Nato und ihre Mitgliedstaaten aber überrascht. Das US-Außenministerium kontaktierte Ankara fast unmittelbar, nachdem Erdogan sich gegen die Erweiterung ausgesprochen hatte. Die Türkei beschwert sich seit langem über die unzureichende Zusammenarbeit mit der Nato im Kampf gegen die PKK und blockierte 2019 einen Nato-Verteidigungsplan für die baltische Region, weil sich das Bündnis geweigert hatte, die YPG in ihren offiziellen Dokumenten als Terrorgruppe zu bezeichnen. Aber sie machte 2020 auch einen Schritt zurück, nachdem die Nato einige ihrer Bedingungen erfüllt hatte.
Die Haltung der Türkei kann jedoch nicht allzu sehr verwundern. Ankara hat gegenüber der Ukraine bisher eine ausgewogene Strategie verfolgt und nach einem Mittelweg gesucht. Während sie die Ukraine mit Drohnen belieferte und ihre Meerengen wie auch ihren Luftraum für russische Militärschiffe und -flugzeuge sperrte, wurde die Türkei dafür kritisiert, zu wenig zu tun (und dies zu spät), um Russland nicht zu verärgern, das leicht Vergeltungsmaßnahmen gegen türkische Interessen im Norden Syriens ergreifen könnte.
All das veranlasst Ankara zu Verhaltensweisen, die eine gewisse Akzeptanz gegenüber Russlands zeigen. Die Verhandlungsposition der Türkei innerhalb der Nato ermöglicht es ihr, sich einige kleine Vorteile zu sichern und ihre Stellung als regionale Macht weiter auszubauen.