
- Eine Geisel ist frei, die Geiselnahme geht weiter
Auch in der Türkei ist man erleichtert über die Freilassung von Deniz Yücel. Nun kann mit dem Westen wieder weiter verhandelt und ignoriert werden, dass das Land immer aggressiver auftritt und sich immer weiter vom Rechtsstaat entfernt
Jetzt ist er endlich frei, Deniz Yücel, der deutsch-türkische Korrespondent. Für die türkische Regierung war er Senkblei geworden, zum echten Problemfall der deutsch-türkischen Beziehungen. Deshalb setzte man ihn auf freiem Fuß und ließ ihn ausreisen.
Alle freuen sich. Vor allem seine Ehefrau, Verwandte, Freunde und mit ihnen all jene, die seit Yücels Verhaftung, genauer seiner dreisten Geiselnahme, den Vertretern der türkischen Republik in Berlin keinen ruhigen Tag gönnten.
Auch Yücels Geiselnehmer freuen sich
Dann gibt es aber auch noch andere, die sich ebenfalls freuen. Sie sitzen in Ankara in der Kommandozentrale und sind, nun ja, seine Geiselnehmer. Sie wähnen sich in Sicherheit, weil sie glauben, ihr Problem damit los zu sein. Und: niemals für ihre kruden Taktiken zur Rechenschaft gezogen zu werden – weder für den Fall Yücel, noch für das Abwracken des türkischen Rechtsstaates noch für das Leid, das sie Millionen ihrer Landsleute täglich weiterhin zufügen.
Ihr Anführer, Recep Tayyip Erdogan, hatte zu Yücels Inhaftierung öffentlich erklärt, so lange er im Amt sei, werde Yücel, „der Terrorist, der Spion“, nicht mehr freikommen. Nun ist Yücel schon in Berlin, und doch gibt sich Erdogan alles andere als schamerfüllt oder gar reumütig.
Erdogan ist ein prinzipienloser Politiker und Zocker. Im Grunde seines Herzens mag er ein Islamist sein, doch ein lausiger. Denn selbst den Prinzipien des Islams folgt er nur, wenn es gilt, damit seine Macht zu sichern. Schon vor dem Referendum im April 2017 kungelte er mit den faschistischen Grauen Wölfen, man traf Absprachen und unterstützt sich seitdem gegenseitig. Vergessen, dass er vor einigen Jahren noch mit sich überschlagender, heiserer Stimme gegen Nationalisten wetterte.
Die Entlassung Yücels ist für einen Unmoralischen wie ihn daher kein Akt der Korrektur. Erdogan hat sich aus diesem Kapitel der Geschichte das herausgenommen, was er herauszunehmen beabsichtigte: Nämlich die deutsche Regierung dazu zu zwingen, seine Machenschaften zu akzeptieren und die Beziehungen zu Ankara notgedrungen zu normalisieren.
Die Türen für die Türkei stehen wieder offen
Bundesaußenminister Sigmar Gabriel betonte nach der Freilassung Yücels, es habe keine Deals gegeben. Ob Gabriel die Wahrheit sagte oder nicht, werden wir womöglich erst in 30 Jahren erfahren – nach dem Ablauf der Geheimhaltungsfrist solcherlei Akten.
Aber das Offensichtliche ist nicht geheim. „Ich glaube, dass wir das Momentum jetzt nutzen können und nutzen sollen, alle Gesprächsformate wieder in Gang zu setzen, um die grundsätzlichen Fragen zwischen Europa und der Türkei und Deutschland anzusprechen“, sagte Gabriel.
Übersetzt in Alltagssprache bedeutet dies nichts anderes, als dass ab jetzt der Türkei, also ihrer mit Faschisten schmusenden Regierung, alle diplomatischen Türen wieder offen stehen. Die Türkei wird wieder ein Fall für den „business as usual“.
Also hat Erdogan allen Grund, sich zu freuen. Und er weiß: Formate aller Art und offene Türen sind wichtig. Sie legitimieren die Existenz der faschistischen Strukturen, mit denen er die gesamte Türkei in Geiselhaft nimmt. Solange die Menschen sehen, wie er und seine Leute in Berlin und Brüssel durch offene Türen marschieren, wird er den türkischen Bürgern weismachen, dass alles gut sei. Es wird ja höflich diskutiert. So wie überall in der diplomatischen Welt.
Fall Yücel blockierte Verhandlungen
Viele sperrige Themen stecken aus türkischer Sicht in der Pipeline des Dialogs mit dem Westen. Unter diesen war der Fall Yücel der dickste Klopps. Er blockierte, dass über die Freizügigkeit für türkische Staatsbürger in der EU, die Überarbeitung der Zollunion mit der EU, den Umgang mit Kurden und weitere Waffengeschäfte verhandelt werden konnte. Berlin, andererseits, ist schon länger von der Angst getrieben, die Türkei könne ins Lager Russlands überlaufen.
Dabei hätte, müsste, sollte Berlin eine lange Liste an kritikwürdigen Themen in der Schublade haben. Es mangelt der deutschen Regierung also eigentlich nicht an Argumenten, hart gegen Ankara vorzugehen.
So wurden just an dem Tag, als Deniz Yücel durch die Tür des Gefängnisses Silivri trat, sechs türkische Journalisten, die wie Yücel einfach nur ihre Arbeit getan hatten, zu lebenslänglicher Haftstrafe verurteilt: Ahmet Altan, Chefredakteur der mittlerweile verbotenen liberalen Tageszeitung Taraf und bekannter Romanautor, sein Bruder Mehmet Altan, ein Akademiker und Kolumnist. Nazlı Ilıcak, eine Ikone des konservativen türkischen Journalismus sowie Fevzi Yazıcı, Şükrü Tuğrul Özşengül und Yakup Şimşek, die für die mittlerweile verbotene islamische Tageszeitung Zaman arbeiteten und vor allem technische Aufgaben hatten.
Immer weiter weg vom Rechtsstaat
Der Prozess gegen die sechs Journalisten ist beispielhaft für alle anderen Gerichtsprozesse in der Post-Putschversuchs-Türkei unter Erdogan. Es sind Schauprozesse, bei denen kaum Beweise vorgelegt werden. Und die beigebrachten „Beweise“ sind oft nicht aussagekräftig oder schlicht verfälscht. In den Verhandlungen behindern die Richter die Angeklagten während ihrer Verteidigungsreden mit der Unterstellung, sie hielten vor Gericht politische Reden. Dabei sprechen alle Angeklagten verständlicherweise den Umstand an, der sie überhaupt vor Gericht brachte: Politische und willkürliche Entscheidungen des Machthabers Erdogan. Darüber zu sprechen ist nicht erlaubt, also dürfen sich die Angeklagten schlicht nicht verteidigen.
Das Strafgericht, das jetzt die sechs Journalisten verurteilte, hat in den vergangenen Wochen auch gleich ein weiteres Kapitel Rechtsgeschichte auf dem Weg der Türkei in den faktischen Faschismus geliefert: Als das Verfassungsgericht den Haftbefehl gegen die Altan-Brüder aufhob und diesen für Verfassungswidrig erklärte, urteilte das Strafgericht wiederum, dass das Verfassungsgericht damit seine Kompetenzen überschritten und die Verfassung missachtet habe. Weshalb die Freilassung zu ignorieren sei.
Die Abschaffung des Rechtsstaates, der alle trifft, Linke und Rechte, Kurden und Gülenisten, ist nicht die einzige Untat des Regimes. Erdogan läßt einen Angriffskrieg in einem Teil Syriens gegen die Kurden führen. Jede Art Arbeitskampf wird mit einem Hinweis auf nationale Sicherheit verboten. Das Regime bildet und unterhält zudem illegale paramilitärische Einheiten, um eventuelle Aufstände einer verzweifelten Bevölkerung hart bekämpfen zu können. Und vor allem baut das Regime den Staat auf eine Weise um, die ein Zurück zu halbwegs demokratischen Institutionen unmöglich macht.
In der Türkei entsteht ein Monster
Der türkische Außenminister Mevlût Çavuşoğlu sagte nach Yücels Freilassung, der Druck des Regimes sei nicht nach Außen gerichtet, sondern nur nach Innen. Sobald die Beziehungen normalisiert werden, wird er Recht behalten. Diese „Normalisierung“ wird aber zeitlich begrenzt sein. Denn der Druck nach Innen beabsichtigt, ein Monster in der Region zu schaffen, das auch international wieder aggressiv auftreten wird, sobald das Regime befestigt ist. Die Aggression wird sich dann nicht nur gegenüber den Kurden entladen. Griechenland, von dem Ankara bereits Grenzveränderungen zugunsten der Türkei verlangt, spürt die Aggression bereits heute. Genauso wie Zypern, dessen Grenzen in den vergangenen Wochen durch militärische Aktionen mehrfach verletzt wurden. Das alles findet kaum Beachtung in westlichen Medien und der Öffentlichkeit. Es sind aber Fakten, die man nicht ignorieren sollte.
Mit der Freilassung Yücels atmen die Offiziellen in Berlin auf. Jetzt kann über alles wieder verhandelt werden, denn keiner stört mehr: Kein #FreeDeniz, keine Kurden, keine türkischen Asylbewerber, deren Zahl sich in den vergangenen zwei Jahren vervierfachte. Berlin hat von Ankara ohnehin kaum demokratische Werte und rechtsstaatliche Prinzipien eingefordert. Am selben Tisch gesessen hat man trotzdem. Die zahlreichen deutschen Firmen mit Milliarden-Investitionen in der Türkei machen gegenüber der deutschen Politik ihre Interessen klar.
Wirklich frei ist auch Yücel nicht
Aber auch im Fall der Freilassung von Deniz Yücel ist nicht alles so schön, wie es jetzt gemalt wird. Sie geschah genau so im Widerspruch zu rechtsstaatlichen Prinzipien wie seine Geiselnahme. Er hat auch Beweise dafür. Noch am Tag seiner Entlassung habe man ihm einen Beschluss des Gerichtes in die Hand gedrückt, wonach seine Haft verlängert sei. Stunden später wurde auch dieser Gerichtsbeschluss ignoriert und er wurde entlassen. Der Schauprozess gegen ihn läuft weiter. Diese angebliche Lösung des Problems macht ihn also noch nicht zum freien Mann. Als türkischer Staatsbürger, der er auch ist, darf er wahrscheinlich nie wieder in seinem Leben türkischen Boden betreten. Eine gerechte, rechtsstaatliche Lösung sieht anders aus.